Das in § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V normierte Genehmigungserfordernis gilt auch in Fällen, in denen die Therapie mit Cannabisprodukten (hier: Dronabinol) bereits vor Inkrafttreten der Norm begonnen wurde. In diesen Fällen ist bei der ersten Verordnung nach Inkrafttreten von § 31 Abs. 6 SGB V die Genehmigung der Krankenkasse einzuholen.
Der beklagte Beschwerdeausschuss kann seine Sitzungen im Wege der Videokonferenz abhalten. Die in § 7 der Geschäftsordnung des Beschwerdeausschusses der Ärzte und Krankenkassen in Hessen in der Fassung vom 26.08.2020 geschaffene Möglichkeit, eine Sitzung als Videokonferenz durchzuführen, reicht hierfür als Rechtsgrundlage aus.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger hat die Gerichtskosten zu tragen und dem Beklagten die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um einen Arzneikostenregress für die Verordnung von Dronabinol-Rezeptur für das Quartal III/17 und IV/17 in Höhe von 1.693,56 €.
Der Kläger ist seit dem 01.10.2015 als Arzt für Allgemeinmedizin mit den Zusatzbezeichnungen „Diabetologie, Chirotherapie, Naturheilverfahren, Notfallmedizin, Palliativmedizin und Spezielle Schmerztherapie“ in einer Einzelpraxis in A-Stadt als Vertragsarzt niedergelassen.
Die Barmer Krankenkasse stellte erstmals für das Quartal II/17 bei der Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen in Hessen (im Folgenden nur Prüfungsstelle) einen Antrag auf Festsetzung eines Verordnungsregresses wegen der Verordnung von Dronabinol. Den Regress setzte die Prüfungsstelle mit Bescheid vom 26.09.2019 antragsgemäß fest. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Beschluss vom 01.12.2021 zurück. Die anschließend erhobene Klage wird am Sozialgericht Marburg unter dem Az. S 18 KA 334/21 geführt.
Mit Schreiben vom 25.01.2021 und 22.03.2021 stellte die Barmer Krankenkasse weitere Anträge bei der Prüfungsstelle auf Festsetzung eines Verordnungsregresses für die Quartal III/17 und IV/17 im Hinblick auf die Verordnung von Dronabinol für die Patientin H. D.
Zu den weitergeleiteten Anträgen nahm der Kläger Stellung. Inhaltlich verwies er auf seine zum Quartal II/17 eingereichte Stellungnahme und teilte mit, dass eine Genehmigung der Barmer aus Gründen der Unmöglichkeit nicht hätte abgefragt werden können, da die Patientin schon mehrere Jahre mit Dronabinol behandelt worden sei. Aufgrund dieser Sachlage sei es ihm nicht möglich gewesen, die Vorgaben von § 31 Abs. 6 SG V zu erfüllen. Ein Absetzen des Medikaments sei ebenfalls nicht möglich gewesen, da der Einsatz zu einem sehr guten therapeutischen Erfolg geführt hätte. Beim Absetzen zum damaligen Zeitpunkt wäre es zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands der Patientin gekommen was den juristischen Tatbestand der Körperverletzung oder den der unterlassenen Hilfeleistung erfüllt hätte. Für den Kostenträger wäre es zu weiteren Kosten gekommen, denn durch den Einsatz von Dronabinol sei die Häufigkeit von längeren Krankenhausaufenthalten und auch Arbeitsunfähigkeitszeiten deutlich reduziert worden.
Die Barmer Krankenkasse hielt an den Regressanträgen fest. Sie trug vor, mit dem am 10.03.2017 in Kraft getretenen Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften und der Gültigkeit des neu geschaffenen § 31 Abs. 6 SGB V sei vor der ersten Verordnung von Cannabis eine Genehmigung der Krankenkasse einzuholen. Dies gelte auch für die Versicherten, die bereits vor dem 10.03.2017 Cannabis-Verordnungen erhalten hätte. Die gesetzliche Regelung, dass die Therapie verpflichtend mit einer Begleiterkrankung verbunden sei und der Versicherte vor Verordnung der Leistung hierüber zu informieren sei, würde dafür sprechen, dass der Gesetzgeber bei der Formulierung „erste Verordnung“ von einer Verordnung ab Inkrafttreten der Neuregelung in § 31 Abs. 6 SGB V ausgegangen sei.
Die Prüfungsstelle setzte mit Bescheid vom 16.06.2021 (Bl. 22 bis 27 der Verwaltungsakte) für die Verordnungen von Dronabinol im Quartal III/17 und IV/17 einen Regressbetrag in Höhe von netto 1.693,56 € fest.
Zur Begründung führte sie aus, die Verordnungen von Dronabinol zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seien nicht zulässig und damit unwirtschaftlich.
Für die Verordnungen von Cannabispräparaten ab dem 10.03.2017 gelte nach § 31 Abs. 6 SGB V, dass es vor der erstmaligen Verordnung eines Cannabispräparates einer Genehmigung durch die Krankenkasse bedürfe. Werde Cannabis im Rahmen einer palliativen Versorgung verordnet, müsse die Krankenkasse innerhalb von drei Tagen entscheiden, in allen anderen Fällen gelte eine Frist von drei Wochen bzw. wenn eine Begutachtung durch den MDK erfolge eine Frist von fünf Wochen. Nur in begründeten Ausnahmefällen sei der Antrag der Krankenkasse abzulehnen. Die Verordnungen seien auf Betäubungsmittel-Rezepten auszustellen.
Für Verordnungen von Cannabispräparaten vor dem 10.03.2017 gelte, dass die Verordnung von Dronabinol unzulässig sei, da das Arzneimittel nicht in Deutschland zugelassen sei. Der Gemeinsame Bundesausschuss hätte für den Einsatz des Medikaments in der pharmakologischen Therapie keine positive Empfehlung nach § 135 I S. 1 Nr. 1 SGB V erlassen gehabt. An das insoweit bestehende Verbot seien die Krankenkassen gebunden gewesen. Die Gewährung cannabinoidhaltiger Arzneimittel könne auch nicht im Rahmen einer grundrechtsorientierten Auslegung des Krankenversicherungsrechts beansprucht werden. Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Urteil vom 06.12.2005 (Az. 1 BvR 347/98) strenge Voraussetzungen an einen verfassungsrechtlich begründeten Anspruch auf Leistungen aus dem SGB V geknüpft, die im vorliegenden Fall erfüllt seien. Das Bundessozialgericht habe die Vorgaben in Bezug auf die Verordnungsfähigkeit von Dronabinol noch weiter konkretisiert. Demnach sei es nicht ausreichend, wenn die Therapie mit dem Wirkstoff Dronabinol zur Linderung der Beschwerden eingesetzt werde, weil es nicht auf die Haupterkrankung als solche Einfluss nehme und die Krankheit beseitige, sondern nur die Begleitsymptomatik abmildere. Damit seien die Vorgaben des BVerfG hier nicht anwendbar.
Da die Verordnung von Dronabinol erst ab dem 10.03.2017 unter bestimmten Voraussetzungen möglich gewesen sei, sei für alle Verordnungen nach dem 10.03.2017 eine Genehmigung der Barmer notwendig gewesen. Die Tatsache, dass in dem vorliegenden Fall Dronabinol bereits über mehrere Jahre hinweg ohne Genehmigung der zuständigen Behörden verordnet worden sei, ersetze diese Genehmigung nicht.
Gegen den Bescheid erhob der Kläger anwaltlich vertreten Widerspruch. Diesen begründete er mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 16.07.2021.
Zur Patientin H. D. teilte er mit, die Patientin leide unter anderem an dem Fibromyalgiesyndrom, CRPS und degenerativen Veränderungen des Bewegungsapparates. Das Behandlungsziel durch die Verordnung von Dronabinol-Tropfen sei eine Verbesserung der Schmerzsymptomatik gewesen. Die Erkrankung der Patientin sei auch eine schwerwiegende, die mit früheren Therapien keinen ausreichenden oder zufriedenstellenden Erfolg hätte erreicht werden können. Somit sei bis zum Jahr 2014 keine befriedigende Lebensqualität für die Patientin gegeben gewesen. Frau H. D. hätte in Ermangelung alternativer Möglichkeiten seit dem Jahr 2014 Dronabinol erhalten. Opiate seien bei der Fibromyalgie nicht leitliniengerecht. Der Zustand habe durch die Einnahme von Dronabinol stabilisiert werden können. Es seien seitdem keinerlei stationären Behandlungen wegen der Schmerzsymptomatik notwendig gewesen, ebenso wenig würden Arbeitsunfähigkeitszeiten anfallen. Leichte Opiate (wie z.B. Tilidin) hätten bei der Patientin zu einem komatösen Zustand mit stationärer Therapie geführt, so dass eine weitere analgetische medikamentöse Therapie nicht leitliniengerecht gegeben werden konnte. Duloxetin und Pregabalin seinen neben psychotherapeutischen Behandlung auch damals schon erfolglos zum Einsatz gekommen. Eine vormals bestehende Suizidalität mit Benzodiazepinen würde die Therapiemöglichkeiten darüber hinaus einschränken.
Sofern die Prüfungsstelle darauf abstelle, dass vor den jeweiligen Verordnungen für die Patienten jeweils ein gesonderter Antrag hätte gestellt werden müssen, sei dies falsch. Der Genehmigungsvorbehalt gelte nicht für bestehende schmerztherapeutische Behandlungen mit Dronabinol. Hier sei es so, dass die betroffene Patientin schon seit dem Jahr 2014 mit Dronabinol versorgt worden sei, mithin im Nachhinein diese eingeleitete bestehende Schmerztherapie nicht durch Neueinführung des § 31 Abs. 6 SGB V im Jahr 2017 unter Genehmigungsvorbehalt gestellt worden sei. Als Rechtsgrundlage für die rechtliche Beurteilung des Sachverhaltes sei die Gesetzeslage, welche bei der Einleitung und Entscheidung zur Therapie bestanden habe, heranzuziehen.
Insofern bestünde auch ein berechtigter Anspruch der Versicherten zu dieser Therapie. Die von ihm behandelte Patientin leide unter einer schwerwiegenden Erkrankung. Für ihre chronische Schmerzerkrankung hätte zwar grundsätzlich eine dem allgemein anerkannten Standard der medizinischen Erkenntnisse entsprechende medikamentöse Behandlung mit Analgetika zur Verfügung gestanden, diese könnte aber im Fall der Patientin nicht zur Anwendung kommen, weil diese unter anderem nach langjähriger Versorgung mit diversen, zum Teil auch sehr starken Schmerzmitteln, eine Unverträglichkeit entwickelt habe und dementsprechend hierauf reagiere. Insofern sei davon auszugehen, dass keine anderweitige Arzneimitteltherapie zur Verfügung stehe.
Es bestünde eine Einschätzungsprärogative des Arztes, welche nicht durch die Krankenkasse zu überprüfen sei. Die dafür benötigte begründete Einschätzung habe er abgegeben. Dazu habe die Therapie, die schon im Jahr 2014 begonnen worden sei, keinem Genehmigungsvorbehalt unterlegen. Es sei festzustellen, dass im konkreten Fall hier eine bereits begonnene Dronabinol-Therapie nicht bei jeder Verordnung wieder mit einem Antrag zu versehen sei. Insofern sei es grob rechtfehlerhaft, auf das Vorliegen bzw. Fehlen eines etwaigen Antrages hierfür die Regressforderung abzustellen. Ob und inwiefern unter Berücksichtigung der Rechtsprechung der Vorgaben des § 31 SGB V die Dronabinol-Verordnung zu Gunsten der Patientin ausgesprochen worden sei, sei dem Bescheid nicht zu entnehmen.
Der Beklagte entschied in einer Sitzung per Videokonferenz am 24.11.2021 über den Widerspruch des Klägers und wies diesen zurück.
In einer schriftlichen Stellungnahme vom 25.01.2022 wies die Prozessbevollmächtigte des Klägers darauf hin, dass die persönliche Anhörung sowie Sitzung des Beschwerdeausschusses per Videokonferenz ihrer Auffassung nach unzulässig sei. Nach ihrem Kenntnisstand mangele es an einer rechtlichen Regelung.
Hierzu teilte der Beklagte mit, dass nach § 106c Abs. 2 Satz 7 SGB V das Bundesministerium für Gesundheit durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates das Nähere zur Geschäftsführung der Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüsse. Gemäß § 1 Abs. 3 Halbs. 1 der Verordnung zur Geschäftsführung der Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüsse nach § 106c SGB V (Wirtschaftlichkeitsprüfungs-Verordnung – WiPrüfVO) vom 05.01.2004 bestimme der Ausschuss zur Geschäftsverteilung, Besetzung der Kammern, Stellvertretung und zu den weiteren Einzelheiten der Geschäftsordnung des Beschwerdeausschusses das Nähere. In der Geschäftsordnung des Beschwerdeausschusses der Ärzte und Krankenkassen in Hessen, in Kraft getreten am 26.08.2020, sei in § 7 festgehalten, dass Sitzungen des Beschwerdeausschusses als Videokonferenz ausdrücklich zugelassen seien.
Mit Beschluss vom 11.04.2022 (Bl. 107-114 der Verwaltungsakte) begründete der Beklagte die Zurückweisung des Widerspruchs gegen den Bescheid der Prüfungsstelle vom 16.06.2021. Mit Einführung der Vorschrift des § 31 Ab. 6 SGB V zum 10.03.2017 müsse vor der ersten Verordnung von Cannabisarzneimittel ein Antrag auf Genehmigung bei der zuständigen Krankenkasse erfolgen. Die Leistung bedürfe insoweit bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten ab dem 10.03.2017 der Genehmigung der Krankenkasse. Eine Übergangsvorschrift liege nicht vor. Da der Kläger die Verordnung vorliegend ohne die notwendige Genehmigung ausgestellt hätte, habe er gegen § 31 Abs. 6 SGB V verstoßen. Damit sei ein normativer Schaden verursacht worden und es liege eine vertragsärztliche Pflichtverletzung vor. Das vorliegende Verhalten sei auch zumindest fahrlässig gewesen, weil der Kläger die Rechtslage ignoriert habe und ohne eine notwendige vorliegende Genehmigung der Krankenkasse die Verordnung ausgestellt hätte.
Anschließend hat der Kläger anwaltlich vertreten Klage erhoben. Er trägt vor, der angegriffene Bescheid sei schon aufgrund der Verletzung des rechtlichen Gehörs aufzuheben. Das Abhalten einer Videokonferenz bei zwingender anzuberaumender mündlichen Verhandlung stelle einen Verfahrensfehler dar, welcher nicht unbeachtlich sei. Die Sitzung des Beschwerdeausschusses sei grundsätzlich eine Präsenzveranstaltung seiner Mitglieder. Andere Verfahrensformen als die Präsenzversammlung seien nicht zulässig. Für die Stimmabgabe gelte nichts anderes. Reine Zweckmäßigkeitserwägungen könnten den Handlungsspielraum der Behörde nicht erweitern. Dies gelte auch unter den Bedingungen der Pandemie. Eine Änderung wie in Zulassungsangelegenheiten sei weder in § 106c SGB V noch der Wirtschaftlichkeitsprüfverordnung erfolgt. Nach Auskunft der Beklagten sei allerdings die Geschäftsordnung des Beschwerdeausschusses geändert worden, was aber nicht über die Internetpräsenz der KV Hessen abrufbar sei. Hier stelle sich die Frage der gesetzlichen Legitimation.
Weiter merke er an, dass für bereits laufende Dronabinol-Verordnungen keine Genehmigung der Krankenkassen notwendig sei. Der Regelung des § 31 Abs. 6 SGB V sei nicht zu entnehmen, dass sämtliche schon laufende Dronabinol-Verordnungen erneut durch die Krankenkasse zu prüfen seien.
Ferner würden die Voraussetzungen für eine Verordnung im Off-Label-Use vorliegen. Nach alledem hätte die Krankenkasse auch unter Annahme des Antragserfordernisses in der Sache selbst die Verordnung genehmigen müssen.
Das Gericht hat mit Beschluss vom 23.05.2022 die Kassenärztliche Vereinigung Hessen sowie die sechs Verbände der Krankenkassen in Hessen zum Verfahren beigeladen.
Der Kläger beantragt,
den Beschluss des Beklagten aus der Sitzung vom 24.11.2021, zugestellt am 13.04.2022, aufzuheben und unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt.
Der Beklagte trägt vor, der Bescheid sei nicht aufgrund einer Verletzung rechtlichen Gehörs aufzuheben, da er im Wege einer Videokonferenz habe entscheiden dürfen.
Daneben sei eine Genehmigung der Verordnung von Dronabinol erforderlich gewesen. Es komme entgegen der Ansicht des Klägers auch kein Off-Label-Use in Betracht. Im vorliegenden Fall handele es sich um eine neue Behandlungsmethode im Sinne des § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V. Zur Verordnung von Dronabinol habe das BSG konkrete Vorgaben gemacht. Demnach sei es nicht ausreichend, wenn die Therapie mit dem Wirkstoff Dronabinol zur Linderung der Beschwerden eingesetzt worden sei, weil es nicht auf die Haupterkrankung als solchen Einfluss nehme und die Krankheit beseitige, sondern nur die Begleitsymptomatik abmildere. Deshalb seien die Vorgaben des BVerfG nicht anwendbar. Die alternative Möglichkeit einer Verordnung von Dronabinol nach dem 10.03.2017 als Off-Label-Use bei Nichtvorliegen einer Genehmigung gemäß § 31 Abs. 6 SGB V würde zu einer Umgehung der Voraussetzungen des Genehmigungserfordernisses führen.
Im Übrigen verweise er auf die Ausführungen im angegriffenen Beschluss.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die Kammer hat in der Besetzung mit einer ehrenamtlichen Richterin aus den Kreisen der Vertragsärzte und einer ehrenamtlichen Richterin aus den Kreisen der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG).
Sie konnte dies trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beigeladenen zu 1) bis 7) tun, weil diese ordnungsgemäß geladen worden sind.
Die zulässige Klage ist insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden.
Die Klage ist jedoch unbegründet.
Der Beschluss des Beklagten vom 11.04.2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der festgesetzte Regress ist nicht zu beanstanden.
Gegenstand des Verfahrens ist nur der Bescheid des Beklagten, nicht auch der der Prüfungsstelle. In Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Dieser wird mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Sein Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt der Prüfungsstelle, der abweichend von § 95 SGG im Fall der Klageerhebung nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird (stRspr des BSG, vgl. BSGE 78, 278, 280).
Im System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nimmt der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Arzt - Vertragsarzt - die Stellung eines Leistungserbringers ein. Er versorgt die Mitglieder der Krankenkassen mit ärztlichen Behandlungsleistungen, unterfällt damit auch und gerade dem Gebot, sämtliche Leistungen im Rahmen des Wirtschaftlichen zu erbringen. Leistungen, die für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, darf er nach dem hier anzuwendenden Sozialgesetzbuch Fünftes Buch, gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) nicht erbringen.
Die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung sind nach geltender Rechtslage berechtigt, Arzneikostenregresse wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise festzusetzen. Rechtsgrundlage für die Festsetzung von Verordnungsregressen ist § 106 Abs. 2 Satz 4, Abs. 3 Satz 3 a.F. SGB V. Danach können die Landesverbände der Krankenkasse und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen über die in § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V a.F. vorgesehenen Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren. In den Verträgen ist auch festzulegen, unter welchen Voraussetzungen Einzelfallprüfungen durchgeführt werden können. Von dieser Kompetenz haben die Partner der Gesamtverträge in Hessen Gebrauch gemacht. Nach der hier maßgeblichen Prüfvereinbarung (im Folgenden: PV) vom 12.06.2008, mit Wirkung ab 01.01.2008 in Kraft getreten, prüft die Prüfungsstelle auf Antrag, ob der Arzt im Einzelfall mit seinen Arzneiverordnungen oder Verordnungen über Heilmittel gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen hat (§ 13 Abs. 1 PV). Anträge müssen innerhalb von 12 Monaten nach Ablauf des Verordnungsquartals vorliegen (§ 13 Abs. 2 S. 1 PV).
Prüfgegenstand ist die arznei- bzw. verordnungsbezogene Überprüfung der Verordnungsweise nach den gesetzlichen Bestimmungen bzw. nach den Arzneimittel-Richtlinien oder Heil-Richtlinien, insbesondere hinsichtlich
- Preiswürdigkeit der verordneten Arzneimittel/Heilmittel unter Berücksichtigung des therapeutischen Nutzens
- Mehrfachverordnungen für pharmakologisch oder therapeutisch gleichsinnig wirkende Arzneimittel
- Verordnung von Arzneimitteln und Arzneimittelgruppen mit umstrittener Wirksamkeit
- Mehrfachverordnung bei med. therap. gleichsinnig wirkenden Heilmitteln und deren Zielsetzung
- Verordnungsmengen, Verordnungsabständen, Verordnungsumfang
- Durchführung bzw. Veranlassung der weiterführenden Diagnostik
- Beachtung der Vorschriften innerhalb/außerhalb des Regelfalls
- Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots hinsichtlich der Verordnung von Hausbesuchen
- Wirtschaftlichkeit der Verordnungen im Einzelfall (§ 13 Abs. 4 PV).
Soweit die Prüfungsstelle im Einzelfall eine Unwirtschaftlichkeit festgestellt hat, setzt sie den vom Arzt erstatteten Regressbetrag fest.
Der Beklagte hat den Regress formell und materiell rechtmäßig festgesetzt.
Der Bescheid ist formell rechtmäßig ergangen. Der Beklagte konnte am 24.11.2021 in einer Sitzung per Videokonferenz über den Widerspruch des Klägers entscheiden. Die von der Bevollmächtigten des Klägers dargelegten Bedenken hinsichtlich der gesetzlichen Legitimation bezüglich einer Entscheidung im Wege der Videokonferenz teilt die Kammer nicht.
Das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss ist ein Verwaltungsverfahren, so dass ergänzend zu § 106c SGB V die entsprechenden Regelungen des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) anzuwenden sind.
Grundlage der von dem Beklagten durchgeführten Videokonferenz ist § 7 der Geschäftsordnung des Beschwerdeausschusses der Ärzte und Krankenkassen in Hessen in der Fassung vom 26.08.2020. Danach sind Sitzungen des Beschwerdeausschusses als Videokonferenz ausdrücklich zugelassen.
Nach § 24 SGB X ist für die Anhörung keine besondere Form vorgeschrieben. Anders als etwa in den Zulassungsverfahren (dort über § 97 Abs. 3 SGB V i. V. m. den Vorschriften der Ärzte-ZV, vgl. dazu SG Marburg, Gerichtsbescheid vom 17.03.2021, S 12 KA 268/20) gibt es hier keine höherrangige Rechtsnorm, die das Erfordernis einer mündlichen Verhandlung in Präsenz statuiert.
§ 106c SGB V selbst stellt keine Verfahrensvorschriften für die Geschäftstätigkeit des Beschwerdeausschusses im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung auf. Nach § 106c Abs. 2 Satz 7 SGB V bestimmt das Bundesministerium für Gesundheit durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates das Nähere zur Geschäftsführung der Prüfungsstellen und der Beschwerdeausschüsse einschließlich der Entschädigung der Vorsitzenden der Ausschüsse und zu den Pflichten der von den in Absatz 1 Satz 1 genannten Vertragspartnern entsandten Vertreter.
Auf dieser Grundlage wurde die Verordnung zur Geschäftsführung der Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüssen nach § 106c SGB V (Wirtschaftlichkeitsprüfungs-Verordnung – WiPrüfVO) vom 05.01.2004 (BGBl. I S. 29, zuletzt geändert durch Art. 19 GKV-VersorgungsstärkungsG vom 16.07.2015, BGBl. I S. 1211) erlassen. Nach § 1 Abs. 3 Halbs. 1 WiPrüfVO bestimmt der Ausschuss das Nähere zur Geschäftsverteilung, Besetzung der Kammern, Stellvertretung und zu den weiteren Einzelheiten der Geschäftsordnung.
Nach Maßgabe dieser Aufgabenzuweisung hat der Beschwerdeausschuss die Geschäftsordnung erlassen und dort in § 7 die Möglichkeit der Videokonferenz zugelassen.
Der Bescheid ist zudem materiell rechtmäßig ergangen.
Grundsätzlich gilt in der GKV, dass Arzneimittel außerhalb ihres Zulassungsrahmens zulasten der GKV in der Regel nicht verordnet werden dürfen. Jedes Fertigarzneimittel bedarf zur Anwendung bei einem Versicherten der arzneimittelrechtlichen Zulassung für das Indikationsgebiet, in dem es bei ihm angewandt wird, um dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu unterfallen.
Fehlt die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung, sind die Fertigarzneimittel grundsätzlich nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs. 1, § 31 Abs. 1 SGB V umfasst, ihre Verordnung gilt dann als unzweckmäßig und unwirtschaftlich (vgl. nur BSG, B 1 KR 5/09 R, Rn. 21 Juris m. w. N.).
Streitgegenständlich ist vorliegend die Verordnung von Dronabinol im Behandlungsfall H. D. in den Quartalen III/17 und IV/17.
Hinsichtlich der Verordnung von Dronabinol hat der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 06.03.2017 in § 31 Abs. 6 SGB V Voraussetzungen zur Verordnung geschaffen.
Nach § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn
1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Die Leistung bedarf gemäß § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.
§ 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V statuiert ein Genehmigungserfordernis im Vorfeld der Verordnung durch die Krankenkasse. Danach kommt für den Zeitraum ab Inkrafttreten der Vorschrift eine Verordnung von Cannabis bzw. von Dronabinol oder Nabinol grundsätzlich nur in Betracht, wenn zuvor eine Genehmigung bei der Krankenkasse eingeholt wurde.
Eine solche Genehmigung lag im Behandlungsfall H. D. in den hier streitgegenständlichen Quartalen III/17 und IV/17 nicht vor.
Die Kammer erachtet das Genehmigungserfordernis in den streitigen Behandlungsfällen für vollumfänglich anwendbar mit der Konsequenz, dass aufgrund des Fehlens der Genehmigung eine Verordnung von Dronabinol nicht erfolgen durfte.
Soweit der Kläger vorträgt, das Genehmigungserfordernis erfasse keine laufenden Therapien mit Dronabinol, kann dem nicht gefolgt werden. Zwar spricht der Wortlaut von § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V davon, dass „bei der ersten Verordnung“ bzw. „vor Beginn der Leistung“ die Genehmigung einzuholen ist. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift ist damit aber gemeint, dass die Genehmigung bei der ersten Verordnung seit Inkrafttreten von § 31 Abs. 6 SGB V eingeholt werden muss. Nicht gemeint ist damit, dass Therapien, die schon zuvor begonnen wurden, ohne eine Genehmigung durch die Krankenkassen weiterlaufen können. Vielmehr ist durch die Schaffung von § 31 Abs. 6 SGB V eine Zäsur eingetreten mit der Folge, dass ab Inkrafttreten der Norm eine (weitere) Verordnung von Dronabinol grundsätzlich erst in Betracht kommt, wenn zuvor eine Genehmigung eingeholt wurde. Die Formulierung „erste Verordnung“ bzw. „vor Beginn der Leistung“ soll in erster Linie verdeutlichen, dass nicht wiederholt (also bei jeder ausgestellten Verordnung) die Genehmigung der Krankenkasse einzuholen ist, sondern im Regelfall nur einmal, im Normalfall bei der ersten Verordnung bzw. bei Beginn der Leistung seit Inkrafttreten der Norm. Der Gesetzgeber ging ausweislich der Gesetzmaterialien davon aus, mit § 31 Abs. 6 SGB V die erstmalige Möglichkeit zur Kostenübernahme von Cannabisprodukte durch die GKV zu schaffen und bezeichnete die Norm als Anspruchsgrundlage für eng begrenzte Ausnahmefälle (vgl. BTDrs. 233/16 und BTDrs. 18/8965 Seite 14 ff.). Dem würde es widersprechen, wenn die Ausnahmevorschrift nicht solche Verordnungen von Cannabisprodukten erfassen würde, bei denen vom Vertragsarzt oder der Vertragsärztin die Verordnung von Cannabis bereits vor Inkrafttreten der Norm begonnen wurde. In solchen Fällen ist stattdessen ebenfalls eine Genehmigung bei der Krankenkasse einzuholen und zwar zum Zeitpunkt der ersten Verordnung nach Inkrafttreten von § 31 Abs. 6 SGB V. Denn die „Leistung“ – hier die Versorgung mit Dronabinol – ist ab diesem Zeitpunkt erstmalig zu Lasten der GKV erstattungsfähig und wird insoweit zum ersten Mal auf der neugeschaffenen gesetzlichen Grundlage verordnet.
Die Argumentation des Klägers kann aber auch deshalb nicht durchgreifen, weil außerhalb von § 31 Abs. 6 SGB V im Behandlungsfall H. D. gar keine Verordnungsfähigkeit von Dronabinol besteht. Ein zulässiger Off-Label-Use- besteht hier gerade nicht.
Nach der Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei Dronabinol nicht um ein Fertigarzneimittel, für das nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) eine Zulassung erforderlich wäre, wodurch die Maßstäbe des Off-Label-Use nicht anwendbar sind (vgl. BSG, Urteil vom 13.10.2010, B 6 KA 48/09 R, Rn. 24 Juris). Vielmehr handelt es sich bei Dronabinol um eine neue Arzneitherapie, für deren Einsatz grundsätzlich eine anerkannte Richtlinie gemäß § 135 Abs. 1 SGB V notwendig wäre, die jedoch mangels positiver Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses im streitgegenständlichen Zeitraum nicht vorgelegen hat (vgl. B 6 KA 48/09 R, Rn. 25 bis 27 Juris m. w. N.). Dies führt dazu, dass der Einsatz von Dronabinol unzulässig ist.
Eine Ausnahmekonstellation liegt nicht vor. Die in § 2 Abs. 1a SGB V aufgeführten Kriterien sind nicht erfüllt.
Die einzige Möglichkeit der zulässigen Verordnung von Dronabinol im Behandlungfall H.D. bestand über § 31 Abs. 6 SGB V. Da der Kläger die danach notwendige Genehmigung nicht eingeholt hat, war die Verordnung unzulässig.
Das Genehmigungserfordernis ist dabei auch als zwingende Voraussetzung für eine Verordnungsfähigkeit nach § 31 Abs. 6 SGB V ausgestaltet, die nicht einfach mit dem Argument übergangen werden kann, dass eine solche Genehmigung von der Krankenkasse hätte erteilt werden müssen.
Der vom Beklagten festgesetzte Regress erfolgte – auch in der festgesetzten Höhe – zu Recht.
Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 197a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO und folgt der Entscheidung in der Hauptsache. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten von Beigeladenen ist nicht veranlasst, weil diese im Verfahren keine Anträge gestellt haben.