L 22 R 228/23

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
22
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 10 R 70/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 22 R 228/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Die Rücknahme des bestandskräftigen Regelaltersrentenbescheid nach § 44 SGB X kann weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft verlangt werden, wenn der Bescheid allein wegen der unterbliebenen vollständigen Aufhebung des bindenden Vormerkungsbescheids (hier unter Berücksichtigung von FRG-Zeiten) objektiv rechtswidrig ergangen ist, im Übrigen jedoch bei seinem Erlass der materiellen Rechtslage entsprach.

 

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 16. Februar 2023 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X über eine höhere Regelaltersrente des Klägers unter Berücksichtigung der von diesem in der DDR zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten nach den Vorschriften des FRG.

 

Der 1940 geborene Kläger reiste 1984 aus der DDR in die Bundesrepublik ein. Mit Bescheid vom 19. April 1985 stellte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (im Folgenden ebenfalls als Beklagte bezeichnet) für den Kläger Beitragszeiten nach den Vorschriften des FRG für die Zeit vom 1. September 1959 bis 8. Februar 1984 fest. Der Bescheid der Beklagten vom 8. Januar 1999 hob, sofern in der Vergangenheit Ausbildungszeiten bis zur Vollendung des 17. Lebensjahres anerkannt wurden, einen entsprechenden Bescheid auf. Als rentenrechtliche Zeiten wurden diejenigen vom 1. März 1971 bis 31. August 1982 insoweit aufgehoben, als Arbeitsverdienste nur bis zu einem Betrag von monatlich 600 Mark berücksichtigt werden könnten. Die Zeit vom 1. September 1960 bis 15. August 1964 wurde als Beitragszeit abgelehnt, weil es sich um Zeiten der Schul-, Fach- oder Hochschulausbildung gehandelt habe. Der Feststellungsbescheid des Zusatzversorgungsträgers vom 20. Juli 1999 stellte bestandskräftig rentenrechtliche Zeiten der Zusatzversorgung des Klägers nach dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG) fest, welche die Beklagte u.a. in dem einer Rentenauskunft beigefügten Versicherungsverlauf vom 22. September 1999 nach Maßgabe von § 256a SGB VI berücksichtigte.

 

Auf Antrag des Klägers gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 10. März 2006 auf der Grundlage von 47,1420 persönlichen Entgeltpunkten Regelaltersrente mit Beginn ab 1. Januar 2006. Ab 1. April 2006 wurden danach zunächst 1.272,81 Euro monatlich gezahlt. Im Versicherungsverlauf berücksichtigte die Beklagte Zeiten aus dem Sozialversicherungsausweis der DDR (SVA) und nach dem AAÜG, jedoch keine Zeiten nach dem FRG. Für die Zeit vom 28. Februar 1984 bis 15. Oktober 1984 wurden Zeiten der Vertreibung/Flucht angenommen. Mit Bescheid vom 5. April 2006 stellte die Beklagte die Regelaltersrente des Klägers im Hinblick auf Feststellungen nach dem BerRehaG von Beginn an neu fest mit 49,0264 persönlichen Entgeltpunkten und einem Nettozahlbetrag von 1.322,05 Euro.

 

Am 3. Juni 2015 und am 6. August 2015 wandte sich der Kläger unter Bezugnahme auf das Verfahren beim BVerfG  zum Az. 1 BvR 713/13 an die Beklagte und bat um Überprüfung seiner Rentenbescheide. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18. Oktober 2018 ab. Die Rente sei in zutreffender Höhe festgestellt worden. Die Verfassungsbeschwerde sei vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen worden.

 

Dagegen wandte sich der Kläger mit seinem Widerspruch vom 30. Oktober 2018 und nahm Bezug auf den Vormerkungsbescheid vom 19. Mai 1985, in welchem Beitragszeiten nach dem FRG ohne Kürzung anerkannt worden seien. Spätere Bescheide hätten diesen Bescheid nicht aufgehoben. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31. Januar 2019 zurück.

 

Am 22. Februar 2019 hat der Kläger beim Sozialgericht Potsdam Klage erhoben. Der Bescheid vom 19. April 1985 habe nach wie vor Bestandskraft. Für die Berechnung seiner Rente gelte weiterhin das FRG. Die Regelungen des RÜG beträfen nicht seine Rechtsstellung. Deshalb sei nicht relevant, inwieweit § 256a SGB VI verfassungskonform sei. Die Änderungen der §§ 15, 17 FRG würden für ihn als Flüchtling aus der DDR vor dem Mauerfall nicht gelten, weil sie nicht mit Wirkung für die Vergangenheit, sondern nur für die Zukunft nach Herstellung der deutschen Einheit ergangen seien.

 

Die Beklagte hat mit Bescheid vom 26. Juni 2019 den Bescheid vom 19. April 1985 mit Wirkung für die Zukunft ab 1. Juli 2019 aufgehoben. Der Bescheid sei Gegenstand des anhängigen sozialgerichtlichen Verfahrens (§ 96 SGG). Dagegen hat der Kläger Widerspruch eingelegt. Er meint, bis zur Aufhebung sei der bis dahin bestandskräftige Bescheid zu berücksichtigen. Er genieße insoweit Vertrauensschutz.

 

Das Sozialgericht Potsdam hat die Klage durch Urteil vom 16. Februar 2023 abgewiesen. In den nach Herstellung der deutschen Einheit ergangenen Vormerkungsbescheiden seien die Feststellungen nach dem FRG bereits aufgehoben worden. Selbst wenn der Altersrentenbescheid nur wegen einer unterbliebenen Aufhebung des Vormerkungsbescheides von 1985 objektiv rechtswidrig ergangen wäre, könnte der Kläger die Rücknahme des Altersrentenbescheides weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft verlangen, weil dieser bei seinem Erlass der materiellen Rechtslage entsprach (BSG, Urteil vom 24.04.2014, B 13 RA 3/13 R). Seit Inkrafttreten des RÜG vom 25. Juli 1991 fehle es an einer Rechtsgrundlage zu einer Bewertung der vom Kläger im Beitrittsgebiet zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten nach Maßgabe des FRG. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden im Hinblick auf die Regelungen des Art. 38 RÜG bzw. § 259a Abs. 1 Satz 1 SGB VI unter Berücksichtigung der Entscheidungsgründe des Nichtannahmebeschlusses des BVerfG vom 13. Dezember 2016,1 BvR 713/13, nicht.

 

Gegen das am 15. März 2023 zugestellte Urteil hat der Kläger am 17. April 2023, einem Montag, Berufung eingelegt. Der Bundestag habe in keiner gesetzlichen Regelung verfügt, dass dem Personenkreis der Flüchtlinge und Übersiedler, die vor dem Mauerfall in die Bundesrepublik übergesiedelt seien, der Anspruch nach dem FRG abgesprochen werde. Einer solchen Regelung wäre vom Bundestag niemals zugestimmt worden. Er habe seinen gegen die DDR erworbenen Rentenanspruch bei Übersiedlung in die Bundesrepublik verloren. Dieser rechtswidrige Akt sei im Zuge der Wiedervereinigung niemals aufgehoben worden.

 

Der Kläger beantragt,

 

            das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 16. Februar 2023 aufzuheben,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 18. Oktober 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 2019 zu verurteilen, die von ihm im Beitrittsgebiet zurückgelegten Zeiten nach den Vorschriften des Fremdrentengesetzes bis zum Erlass des Bescheides vom 26. Juni 2019 zu gewähren.

 

 

 

Die Beklagte hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend und beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

 

Die Beteiligten wurden zur Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG angehört.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze, der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten gemäß §§ 153 Abs. 1, 136 Abs. 2 SGG Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

 

 

Der Senat hat nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss entschieden, weil die Voraussetzungen dafür erfüllt sind und nach angemessener Möglichkeit für die Beteiligten, sich im Verfahren zu äußern, dieses Vorgehen auch im Lichte der Normzwecke, insbesondere der Entlastung des Gerichts und der Verfahrensbeschleunigung, angemessen erscheint.

 

Der Senat hält die zulässige Berufung einstimmig für unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht rechtswidrig. Der Kläger hat nach § 44 Abs. 1 und 2 SGB X keinen Anspruch auf Rücknahme des Regelaltersrentenbescheides vom 5. April 2006.

 

Der Kläger verfolgt statthaft sein Begehren mit einer kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG; vgl. dazu BSG, Urteil vom 24.04.2014, B 13 R 3/13 R, RdNr. 13 m.w.N.), wobei die Anfechtungsklage auf Aufhebung der die Überprüfung nach § 44 SGB X ablehnenden Bescheide, die Verpflichtungsklage auf Rücknahme des Bescheides vom 5. April 2006 und der seitdem ergangenen Anpassungsbescheide und die Leistungsklage auf Auszahlung einer höheren Regelaltersrente zielt. Der Kläger hat sein Begehren für das Berufungsverfahren nur auf Leistungszeiträume bis zum 30. Juni 2019 begrenzt.

 

Die auch im Übrigen zulässige Klage ist nicht begründet.

 

Einzig denkbare Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 44 SGB X in Bezug auf den bestandskräftigen Regelaltersrentenbescheid vom 5. April 2006.

 

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Der in Abs. 1 nicht ausdrücklich geregelte Anspruch auf eine Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft (also für Zeiträume nach seinem Überprüfungsantrag) ergibt sich aus § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X (BSG, Urteil vom 24.04.2014, B 13 R 3/13 R, RdNr. 14). Der bestandskräftige Regelalters-rentenbescheid vom 5. April 2006 ist insofern ein nicht begünstigender Verwaltungsakt, als er nicht eine jetzt begehrte höhere Altersrente unter Berücksichtigung des FRG gewährt. In dieser Hinsicht verlangt der Kläger die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts, durch den Sozialleistungen i.S. von § 44 Abs. 1 SGB X zu Unrecht nicht in der begehrten Höhe erbracht worden seien (vgl. BSG ebd.).

 

Die Voraussetzung, dass bei Erlass des Altersrentenbescheids das Recht unrichtig angewandt worden sein muss, ist jedoch nicht erfüllt. Obwohl der Regelaltersrentenbescheid allein wegen der unterbliebenen vollständigen Aufhebung des bindenden Vormerkungsbescheids objektiv rechtswidrig ergangen ist, kann der Kläger dessen Rücknahme weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft verlangen, weil dieser bei seinem Erlass der materiellen Rechtslage entsprach. Auch aus Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes folgt nichts anderes. Verfassungsrecht steht dem nicht entgegen.

 

Das Recht war bei Erlass der Regelaltersrentenbescheide vom 10. März 2006 und vom 5. April 2006 insoweit unrichtig angewandt worden, als die Beklagte es versäumt hatte, nach § 149 Abs. 5 Satz 2 SGB VI (i.d.F. vom 16.12.1997, BGBl I 2970) den Bescheid vom 19. April 1985 spätestens "im Rentenbescheid" vollumfänglich aufzuheben, statt nur den Bescheid vom 16. Oktober 1985 und nur hinsichtlich der Zeit vom 15. Dezember 1956 bis 14. Dezember 1957. Der Bescheid vom 8. Januar 1999, soweit man die darin getroffenen Regelungen als Aufhebung des Bescheides vom 19. April 1985 für die darin getroffenen Feststellungen verstehen muss, hat jedenfalls keine Aufhebung für die Zeiträume vom 1. September 1959 bis 31. August 1960, vom 16. August 1964 bis 28. Februar 1971 und vom 1. September 1982 bis 8. Februar 1984 vorgenommen. Nach Aktenlage ist nicht erkennbar, dass andere Vormerkungsbescheide nach § 149 SGB VI vor Gewährung der Regelaltersrente den Bescheid vom 5. April 2006 aufgehoben hätten. Unerheblich ist auch, dass der Vormerkungsbescheid vor Inkrafttreten des SGB VI am 1. Januar 1992 ergangen ist (vgl. BSG ebd. RdNr. 16).

 

Der Vormerkungsbescheid, der ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist, stellt rechtserhebliche Tatbestände verbindlich fest mit der Folge, dass diese Zeiten im Leistungsfall grundsätzlich zu berücksichtigen sind (st.Rspr, BSG ebd. RdNr. 17 m.w.N.). Hingegen ist die abschließende Entscheidung über die Anrechnung und Bewertung dieser Zeiten nicht Gegenstand des Vormerkungsbescheids (vgl. § 149 Abs. 5 Satz 3 SGB VI; (st.Rspr, BSG ebd. RdNr. 17 m.w.N.). Da der Vormerkungsbescheid nicht (vollständig) aufgehoben worden war und sich auch nicht durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt hatte (§ 39 Abs. 2 SGB X; vgl. BSG ebd. RdNr. zitiert m.w.N.), waren die dort enthaltenen Regelungen im Hinblick auf ihren Rechtscharakter und den zeitlichen Umfang für die Beteiligten bindend (§ 77 SGG) geworden (st.Rspr, BSG ebd. RdNr. 18 m.w.N.).

 

Vielmehr stellt § 149 Abs. 5 Satz 2 SGB VI klar, dass auch bei Gesetzesänderungen die mit der materiellen Rechtslage nicht mehr übereinstimmenden Feststellungen im Vormerkungsbescheid über Tatbestände von rentenrechtlicher Relevanz mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben sind (st.Rspr, BSG ebd. RdNr. 19 m.w.N.). Die Aufhebung des der geänderten Gesetzeslage nicht mehr entsprechenden Vormerkungsbescheids aber hatte die Beklagte versäumt. Allerdings hat sie die aktuelle materielle Gesetzeslage bei Erteilung des Regelaltersrentenbescheids zutreffend umgesetzt (dazu unten).

 

Wie der Konflikt zwischen den beiden bestandskräftigen Bescheiden (dem Bescheid von 19. April 1985 und dem Rentenbescheid) zu lösen ist, ergibt sich aus § 44 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 SGB X im Fall der Rücknahme des Verwaltungsakts für die Vergangenheit bzw. nach § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X mit Wirkung für die Zukunft (BSG ebd. RdNr. 20). In Anwendung dieser Vorschrift genügt die fehlerhaft unterbliebene Aufhebung des Vormerkungsbescheids allein nicht, um einen Anspruch des Klägers auf Rücknahme des Regelaltersrentenbescheids und Gewährung einer höheren Altersrente unter Berücksichtigung der im Vormerkungsbescheid festgestellten FRG-Zeiten begründen zu können.

 

Während der Wortlaut von § 44 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 SGB X ("und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind") einen Zusammenhang zwischen der unrichtigen Rechtsanwendung bei Erlass des Verwaltungsakts (hier: unterlassene Anwendung von § 149 Abs. 5 Satz 2 SGB VI) und dem Nichterbringen der begehrten Sozialleistung (hier: höhere Altersrente) herstellt, setzt § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X keinen solchen Zusammenhang voraus. Es wäre jedoch nicht folgerichtig, nach materiellem Recht nicht zustehende Sozialleistungen zwar nicht für die Vergangenheit, jedoch mit Wirkung für die Zukunft (ab dem Überprüfungsantrag) zu gewähren (BSG ebd. RdNr. 19; vgl. Steinwedel, DAngVers 1989, 372, 373 f). Daher ist insofern eine einheitliche Auslegung und Anwendung beider Normen geboten (BSG ebd. RdNr. 21).

 

§ 44 SGB X soll dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns Geltung verschaffen und der Verwaltungsbehörde zur Herstellung materieller Gerechtigkeit die Möglichkeit eröffnen, Fehler, die im Zusammenhang mit dem Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, zu berichtigen. Hierbei soll nach dem Willen des Gesetzgebers dessen Rücknahme nur dann in Betracht kommen, soweit eine erneute Überprüfung der Sach- und Rechtslage ergibt, dass die Behörde zu Ungunsten des Antragstellers falsch gehandelt hat (vgl. BT-Drucks. 8/4022 S. 82). Ansonsten soll der Verwaltungsakt bestehen bleiben. Nicht Sinn und Zweck des Zugunstenverfahrens kann es daher sein, dem Antragsteller mehr zu gewähren, als ihm nach materiellem Recht zusteht (st. Rspr. BSG ebd. RdNr. 22 m.w.N.; Sandbiller BeckOGK/Kasseler Kommentar, Stand 15.05.2023, § 44 SGB X, RdNr. 54 ff.). Hierfür lässt sich zudem der Restitutionsgedanke anführen, der § 44 SGB X allgemein zugrunde liegt (BSG ebd. RdNr. 22 m.w.N.). Nach diesen Maßstäben lag im Zeitpunkt der Erteilung des Regelaltersrentenbescheids vom 5. April 2006 ein der materiellen Rechtslage widersprechender Rentenbescheid nicht vor.

 

Anspruchsgrundlage für die dem Kläger gewährte Regelaltersrente ist § 35 SGB VI. Die Höhe der Rente bestimmt sich nach § 64 SGB VI, wobei für den Kläger wegen § 254d Abs. 2 SGB VI keine Entgeltpunkte (Ost) für die in der DDR zurückgelegten rentenrechtlichen Zeiten und daraus nach § 256a SGB VI zur ermittelnden Entgeltpunkte zugrunde zu legen waren, weshalb in seinem Fall auch der aktuelle Rentenwert und nicht der aktuelle Rentenwert (Ost) anzuwenden war.

 

Das FRG selbst enthält keine Anspruchsgrundlage für eine Rente, sondern lediglich Vorschriften zur Feststellung der Anzahl von rentenrechtlichen Zeiten und zur Bewertung der Anwartschaften. Das war vor 1992 nicht anders. Eine Anspruchsgrundlage ergibt sich auch für den Kläger nur aus den Vorschriften des SGB VI ebenso wie die Vorgaben zur Berechnung einer Altersrente.

 

Der bundesdeutsche Gesetzgeber hat mit der Einführung des SGB VI 1992 das Rentenrecht für das gesamte Bundesgebiet neu kodifiziert und dabei auch den Beitritt der DDR bzw. der aus ihr hervorgegangenen Bundesländer sowie von Berlin als Hauptstadt der DDR berücksichtigt. Die bisher bestehenden Anwartschaften wurden umfassend und einheitlich in solche nach dem SGB VI gesetzlich transformiert, weil es außerhalb der gesetzlichen Vorgaben keine Rentenanwartschaften gibt (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Das galt genauso für die nach der RVO erworbenen Rentenanwartschaften der westdeutschen Arbeiter, wie für die Anwartschaften nach dem AVG der westdeutschen Angestellten wie auch für die Anwartschaften, die nach dem FRG in der Bundesrepublik vor 1990 anerkannt waren. In der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem SGB VI werden auch alle in den früheren Bundesländern und die in der DDR zurückgelegten Beitragszeiten für die Berechnung der Altersrenten berücksichtigt, wobei etwa nach dem Recht der DDR eingetretene Anwartschaftsverluste rechtsstaatlich weitgehend ignoriert werden (Ausnahmen siehe AAÜG). Die danach zu berücksichtigenden Anwartschaften werden, soweit sie im Beitrittsgebiet zurückgelegt wurden, über § 256a SGB VI und Anlage 10 aufgewertet, damit Vergleichbarkeit mit den westdeutschen Versicherungsverläufen hergestellt werden konnte. Dies Aufwertung findet auch noch für derzeit im Beitrittsgebiet entstehende versicherte Beitragszeiten statt. Diese „Systementscheidung“ des Gesetzgebers wurde vom BVerfG (Urteil vom 28.04.1999, 1 BvL 32/95 und 1 BvR 2105/9) ausdrücklich bestätigt. Entsprechende Rückgriffe auf Anwartschaftsfiktionen nach dem FRG auch für vor 1989 aus der DDR in die alte BRD übergesiedelte Versicherte bedurfte es nach Auffassung des Gesetzgebers bei einem derart einheitlichen Vorgehen nicht mehr. Bis auf Vertrauensschutzregelungen für rentennahe Jahrgänge (§ 259a SGB VI) wurden die Vorschriften des FRG dementsprechend nur noch für andere Sachverhalte vorgesehen. Aus der Sonderregelung des § 259a SGB VI ergibt sich, dass für die nicht von der Regelung erfassten Versicherten eine Anwendung des FRG, soweit § 256a SGB VI greift, ausscheidet.

 

Der Kläger hatte zu keinem Zeitpunkt eine Rentenanwartschaft nach dem FRG, sondern nur nach dem AVG (i.V.m. dem FRG zur Berechnung der Rentenhöhe) erworben. Diese Anwartschaften wurden durch Einführung des SGB VI gesetzlich transformiert, genauso wie die noch aus der DDR stammenden Anwartschaften, die beim Beitritt bestanden, gesetzlich transformiert wurden. Da für Versicherte mit Versicherungszeiten in der BRD und der DDR, so auch für den Kläger, weitgehend die Einzelheiten der tatsächlichen Versicherungszeiten bekannt waren, bedurfte es keiner Fiktionen mehr. Der Kläger wird mithin gleichbehandelt mit jedem anderen Versicherten in der Bundesrepublik. In der Sache möchte er aus seiner Sicht eine Privilegierung erwirken, die er sich als aufgrund von Einkommensfiktionen des FRG erfolgende Aufwertung seiner rentenrechtlichen Zeiten vorstellt. Dass er sich dafür gern mit Versicherten mit Versicherungszeiten in Polen vergleichen lassen möchte, dürfte im Hinblick auf die bei Ihm vorgenommene Gleichbehandlung mit deutschen Versicherten grundrechtlich nicht relevant sein.

 

Entgegen der Rechtsansicht des Klägers kann er sich auch nicht auf Vertrauensschutz berufen.

 

Es ist bereits fraglich, ob die Vormerkungsregelung des § 149 Abs. 5 Satz 2 SGB VI, die u.a. den Vorgängerregelungen des § 103 Abs. 3 AVG und § 1325 Abs. 3 RVO weitgehend entspricht, auf Vertrauensschutz abzielt. Sie stellt eine spezielle Verfahrensvorschrift des Rentenrechts dar und verdrängt § 48 SGB X (BSG, Urteil vom 24.04.2014, B 13 R 3/13 R, RdNr. 27 m.w.N.); die vereinfachte Aufhebung der festgestellten Daten des Versicherungsverlaufs im Fall nachträglich eingetretener Gesetzesänderungen lässt sie sogar ohne Anhörung nach § 24 SGB X zu. Damit regelt die Norm gerade Ausnahmen von der Anwendung vertrauensschützender Vorschriften (BSG, Urteil vom 24.04.2014, B 13 R 3/13 R, RdNr. 27 m.w.N.). Um den durch § 149 Abs. 5 Satz 2 SGB X entstehenden Verwaltungsaufwand gering zu halten, ist den Rentenversicherungsträgern die Möglichkeit eingeräumt worden, die an sich durch jede Rechtsänderung bedingte Pflicht der Aufhebung von änderungsbedürftigen Vormerkungsbescheiden auch noch im Rentenbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zu treffen (vgl. BT-Drucks 13/8994, S. 69). Diesem Erfordernis ist selbst dann noch Genüge getan, wenn eine solche Regelung während eines laufenden Widerspruchsverfahrens gegen den Rentenbescheid oder im Widerspruchsbescheid selbst geschieht bzw. in einem gesonderten Bescheid getroffen wird (BSG ebd. RdNr. 27 m.w.N.).

 

Jedenfalls kann der Kläger nach Eintritt der Bestandskraft (§ 77 SGG) des Regelaltersrentenbescheids keinen Vertrauensschutz aus der Bindungswirkung des Feststellungsbescheids vom 19. April 1985 mehr herleiten. Denn spätestens bei Erlass des Regelaltersrentenbescheids musste er davon ausgehen, dass die hierin getroffenen Feststellungen zur Rentenhöhe rechtsverbindlich werden, wenn er sich nicht mit dem zulässigen Rechtsbehelf des Widerspruchs dagegen zur Wehr setzt. Hiervon hat der Kläger allerdings keinen Gebrauch gemacht. Selbst dann aber hätte die Beklagte, wie oben erörtert, den entgegenstehenden Feststellungsbescheid noch im Widerspruchsbescheid aufheben können (§ 149 Abs. 5 Satz 2 SGB VI). Der Kläger kann jedoch im Verfahren nach § 44 SGB X nicht besser gestellt werden, als hätte er fristgerecht Widerspruch eingelegt (BSG ebd. RdNr. 28 m.w.N.).

 

Im Übrigen war dem Kläger nicht erst seit Erlass des Regelaltersrentenbescheids vom 5. April 2006 bekannt, dass die FRG-Zeiten nicht mehr berücksichtigt werden würden. Dies musste sich ihm bereits aus dem Feststellungsbescheid nach § 8 AAÜG zu seinen Zusatzversorgungszeiten erschlossen haben. Wegen § 259b Abs. 1 Satz 2 SGB VI war für Versicherte mit Zusatzversorgungszeiten nach dem AAÜG die Berücksichtigung von FRG-Zeiten selbst bei rentennahen Versicherten mit Vertrauensschutz nach § 259a SGB VI von dieser Übergangsregelung ausgeschlossen. Zudem wurde für ihn auf die Beitragszeiten in der DDR seit 16. November 1968 bis August 1982 die Beitragsbemessungsgrenze angewendet, die auch bei nach dem FRG festgestellten Beitragszeiten gewirkt hätte.

 

Vor diesem Hintergrund ist schon nicht zu erkennen, dass die von der Beklagten erfolgte Rechtsanwendung für den Kläger nachteilige Auswirkungen auf die Rentenhöhe gehabt haben könnte. Vielmehr bewirkt die Anwendung des AAÜG und die Hochwertung der in der DDR erzielten Entgelte für die Berechnung der Entgeltpunkte eine erhebliche Begünstigung des Klägers gegenüber der Anwendung des FRG.

 

Ergeben sich beim Vergleich der in dem Bescheid vom 19. April 1985 für die Zeiträume von 1959 bis November 1968 (mit den darin umfangreich enthaltenen Ausbildungszeiten) angegebenen DM-Beträge überwiegend nur geringfügige Unterschreitungen der im Regelaltersrentenbescheid berücksichtigten DM-Beträge, übersteigen die in den Jahren 1969 bis 1981 berücksichtigten Entgelte aus SVO und nach AAÜG jeweils ganz erheblich die im FRG-Bescheid genannten Entgelte (exemplarisch:

1969 FRG-Bescheid: 16.380 DM gegenüber 25.167,41 DM im Rentenbescheid,

1974 FRG-Bescheid: 30.000 DM gegenüber 42.431,45 DM im Rentenbescheid,

1979 FRG-Bescheid: 45.060 DM gegenüber 57.267,68 DM im Rentenbescheid,

1981 FRG-Bescheid: 50.640 DM gegenüber 69.468,26 DM im Rentenbescheid).

 

Die dem Kläger zuerkannte Regelaltersrente ist daher mit Gewissheit deutlich höher als eine unter Beachtung der Vorgaben des früheren FRG gewährte Rente.

 

Die Anwendung des geltenden Rechts auf die Rente des Klägers ist auch mit höherrangigem Recht vereinbar. Insofern wird auf die zutreffenden Gründe des Urteils des Sozialgerichts Bezug genommen. Auch dass er unter Anwendung der früheren FRG-Vorschriften keine höhere Rente erlangt haben würde, schließt die Verletzung von Verfassungsrecht in seinem Falle aus.

 

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt die Erfolglosigkeit der Rechtsverfolgung.

 

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.

 

Rechtskraft
Aus
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