Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger als Träger der Sozialhilfe verlangt von der Beklagten als Trägerin der Rentenversicherung die Zahlung von Erwerbsminderungsrente für die Zeit vom 01.09.2017 bis 30.04.2018.
Der Versicherte A. besucht langjährig eine Werkstatt für behinderte Menschen. Er ermächtigte durch seine Betreuer den Kläger zur Stellung eines Antrages auf Erwerbsminderungsrente bei der Beklagten am 09.05.2018.
Mit Bescheid vom 09.10.2018 lehnte die Beklagte den Antrag zunächst wegen mangelnder Mitwirkung des Betroffenen ab.
Mit Bescheid vom 21.11.2018 gewährte die Beklagte dann Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.05.2018 und informierte entsprechend den Kläger.
Mit Schreiben vom 13.12.2018 legte der Kläger Widerspruch ein. Der Versicherte haben bereits zum 01.09.2017 die Voraussetzungen für eine Rente wegen dauerhafter Erwerbsminderung erfüllt, sodass gemäß § 104 SGB X rückwirkende Erstattung geltend gemacht werde. Nach der – zwar zum BaföG ergangenen - Entscheidung des BVerwGs vom 23.01.2014 komme es nicht darauf an, ob tatsächlich ein Antrag gestellt worden sei. Die Beklagte vertrat demgegenüber unter Verweis auf eine - zur Pflegeversicherung entgangene - Entscheidung des LSG Baden-Württemberg vom 11.12.2015 die Auffassung, dass ein Leistungsantrag materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung sei.
Am 16.11.2021 ist die Klage beim Sozialgericht Kassel eingegangen.
Der Kläger wiederholt und vertieft seine Auffassung.
Der Kläger beantragt,
1. auf der ersten Stufe den Beklagten zu verurteilen, Auskunft zu erteilen, in welcher Höhe dem Leistungsberechtigten Herrn A., geb. 1978 für den Zeittraum 01.09.2017 bis 30.04.2018 unabhängig vom Vorliegen eines rechtzeitigen Antrags gegenüber dem Beklagten ein Anspruch auf Rente (wegen voller Erwerbsminderung) zusteht und
2. auf der zweiten Stufe den Beklagten nach Erteilung der Auskunft gern. Ziffer 1 zur Erstattung des sich aus der Auskunft ergebenden zu beziffernden Betrags an den Kläger nebst Zinsen nach Maßgabe von § 108 Abs. 2 SGB X zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte wiederholt und vertieft ihre Auffassung. Sie teilt - zur Frage des Gerichts nach dem Streitwert mit -, dass sich der streitige Anspruch auf 6.162,72 EUR belaufe.
Mit Schreiben vom 20.05.2022 hat der Kläger und mit Schreiben 23.05.2022 hat die Beklagte vom Einverständnis mit einer Entscheidung der Kammer ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen, insbesondere zum Vorbringen der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte der Klägerin Bezug genommen, die Gegenstand dieser Entscheidung waren.
Entscheidungsgründe
Die Kammer kann durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG.
Die Klage hat keinen Erfolg.
Für den Antrag zu 1) auf Auskunftserteilung besteht nach dem Schreiben der Beklagten vom 24.11.2021 kein Bedürfnis mehr und im Übrigen nach dem Ergebnis zum Antrag zu 2) kein Anlass.
Der Leistungsantrag zu 2) ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung der Rente des Versicherten für den Zeitraum 01.09.2017 bis 30.04.2018.
Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 104 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 95 SGB XII. Nach § 104 Abs. 1 SGB X ist, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre.
Im Zeitraum 01.09.2017 bis 30.04.2018 bestand jedoch kein vorrangiger Anspruch des Betroffenen gegenüber der Beklagten. Zwischen den Beteiligten unstreitig war dieser zwar voll erwerbsgemindert und hatte auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt (§ 43 Abs. 2 SGB VI). Gemäß § 99 Abs. 1 SGB VI beginnt eine Rente aus eigener Versicherung von dem Monat an, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, wenn die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind (S. 1). Bei späterer Antragstellung wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Rente beantragt wird (S. 2). Bei zwischen den Beteiligten unstreitigem Zeitpunkt des Leistungsfalles 31.08.2017 hat die Beklagte auf Antrag vom 09.05.2018 entsprechend § 99 Abs. 1 S. 2 SGB VI Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.05.2018 gewährt.
Für die Zeit zuvor hat auch der Kläger keinen Anspruch auf Zahlung der Erwerbsminderungsrente durch die Beklagte. Das Fehlen eines früheren Leistungsantrages ist aus Sicht der Kammer in der vorliegenden Konstellation nicht unbeachtlich. Dabei schließt sich die Kammer ausdrücklich den in den von beiden Beteiligten angeführten obergerichtlichen Entscheidungen vertretenen Auffassungen an und macht sich diese nach eigener Prüfung und Überzeugungsbildung zu eigen: Entscheidend kommt es darauf an, welchen Zweck das Gesetz mit dem Antragserfordernis verfolgt. Schützt es (auch) die Dispositionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Leistungsberechtigten, so ist dessen Antrag - erstattungsrechtlich - unverzichtbare Anspruchsvoraussetzung. In diesem Fall besteht ohne Antrag auch kein Erstattungsanspruch. In allen anderen Fällen ist das Fehlen des Leistungsantrages erstattungsrechtlich ohne Bedeutung. Auf diese Weise ist einerseits gewährleistet, dass auf dem Erstattungswege die Finanzierungslast im vielfältig gegliederten Sozialleistungssystem schließlich den vorrangig verpflichteten und den sachlich oder örtlich zuständigen Leistungsträger trifft und es nicht im Belieben des Leistungsberechtigten steht, die gesetzlich vorgegebene Lastenverteilung zu korrigieren, indem er es unterlässt, einen Leistungsantrag zu stellen. Andererseits ist sichergestellt, dass Sozialleistungsträger nicht auf dem Umweg über das Erstattungsverfahren die Dispositionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Leistungsberechtigten entwerten (vgl. BSG vom 28.04.1999 – B 9 V 8/98 R, juris; siehe auch LSG B.-W. vom 11.12.2015 – L 4 P 1171/15, juris; ebenso BVerwG vom 23.01.2014 – 5 C 8/13, juris).
Nach Überzeugung der Kammer schützt im hier streitgegenständlichen Rentenrecht nach dem SGB VI - anders als in den zu anderen Rechtskreisen ergangenen Entscheidungen, die die Beteiligten anführen - das Antragserfordernis auch die Dispositionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen (siehe zur RVO BSG vom 13.09.1984 – 4 Rj 63/83, juris; vgl. auch Schütze/Roos, SGB X, 3 104 Rn. 11, beck-online; Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann-Kuszynski, § 99 SGB VI Rn.9, beck-online; BeckOK-Kuszynski, § 99 SGB VI Rn. 6, beck-online). Ein Versicherter hat ein Wahlrecht, ob er einen Rentenantrag stellt, ob er ihn - etwa zur Ausschöpfung eines Anspruchs auf Kranken- oder Arbeitslosengeld oder zur Nutzung einer Gesetzesänderung (wie etwa derjenigen zum 01.01.2020) - später stellt, oder ob er ganz davon absieht. Dies berücksichtigend ist es Trägern möglich, das Gestaltungsrecht einzuschränken (zu erwähnen sind bei Bezug von Krankengeld § 51 Abs. 1 SGB VI, bei Bezug von Arbeitslosengeld § 145 Abs. 2 SGB III, bei Bezug von Arbeitslosengeld II §§ 12a, 5 Abs. 2 SGB II und bei Bezug von Sozialhilfe § 95 SGB XII) (vgl. jurisPK-Kador, § 99 SGB VI Rn. 63.1, juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Berufung bedurfte der Zulassung durch das Sozialgericht, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 10.000 Euro nicht übersteigt (§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG) und wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr nicht im Streit sind (§ 144 Abs. 1 S. 2 SGG). Die Bewertung des Antragserfordernisses im Recht des SGB VI im Rahmen eines Erstattungsstreits ist höchstrichterlich nicht geklärt, sodass die Kammer die Berufung zugelassen hat.