L 10 U 2177/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 3 U 4087/17
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 2177/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

"Mehrere Bandscheiben" i.S. des ersten Zusatzkriteriums der Konstellation B2 setzen das Betroffensein von mindestens drei Bandscheiben voraus. Liegen die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen erst 7 Jahre nach Aufgabe der bandscheibenbelastenden Tätigkeit vor, kann ein Zusammenhang mit der beruflichen Belastung nicht mehr begründet werden.

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 06.06.2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 (BK 2108) der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) streitig.

Der 1963 geborene, aus Italien stammende Kläger arbeitete in Deutschland seit 1981 auf dem Bau, zunächst vom 19.10. bis 31.12.1981 als Bauhelfer bei der Firma G1 in B1, vom 02.05.1984 bis 31.07.2009 bei der Firma B2 GmbH in T1 als Betonsanierer, vom 01.09.2009 bis 04.03.2014 bei der Firma B3 GmbH in T1 ebenfalls als Betonsanierer und ab 15.05.2014 als Selbstständiger (Bautenschutz C1) mit freiwilliger Versicherung bei der Beklagten (S. 6 f., 135 VerwA). Seine selbstständige Tätigkeit gab der Kläger zum 04.07.2016 auf (Gewerbeabmeldung S. 27 SG-Akte). Seither ist er in der Logistikbranche beschäftigt und muss bei dieser Tätigkeit ohne Hilfsmittel nur noch Gewichte bis 5 kg bewegen (S. 60 Rs. SG-Akte).

Am 16.03.2015 verspürte der Kläger beim Heben plötzliche Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS). Die Beklagte lehnte die Anerkennung dieses Ereignisses als Arbeitsunfall ab (Bescheid vom 27.03.2015, Widerspruchsbescheid vom 25.02.2016, Klageabweisung durch Gerichtsbescheid des Sozialgerichts [SG] Heilbronn vom 23.11.2018, S 3 U 983/16, rechtskräftig).

Nachdem der Kläger nach Arbeitsunfähigkeit am 04.05.2015 die Arbeit wiederaufgenommen hatte, erstattete P1 mit Schreiben vom 05.06.2015 eine Verdachtsanzeige über das Vorliegen einer BK (S. 1 VerwA). Die Beklagte zog ärztliche Unterlagen bei und holte bei der Krankenkasse des Klägers ein Vorerkrankungsverzeichnis ein (S. 59 f. VerwA).

Eine MRT der LWS vom 18.03.2015 (S1, S. 25 f. VerwA) zeigte einen sequestrierten Prolaps L4/5 mit Kompressionswirkung L5 links sowie Affektion L4 beidseits, einen Bandscheibenvorfall L5/S1 mit Kompressionswirkung S1 links, Spondylarthrose mit Recessusenge beidseits, Skoliose und Osteochondrose; S1 erwähnte in seinem Bericht ferner einen Bandscheibenvorfall L3/4. Vom 19.03. bis 25.03.2015 wurde der Kläger im Klinikum L1 stationär behandelt mit einer Teilhemilaminektomie mit Bandscheibenvorfall-Entfernung und Nucleotomie L4/5 (S. 27 f. und 87 f. VerwA). Eine Untersuchung durch G2 am 17.07.2015 bestätigte klinisch und neurographisch eine Fuß- und Zehenheberplegie links (S. 50 f. VerwA). Eine MRT der LWS vom 21.10.2015 ( S1, S. 22 VerwA) zeigte im Segment L4/5 postoperativ bedingte Narbenbildung links mit Affektion L4 und 5 links sowie unverändert den nicht behandelten Bandscheibenvorfall L5/S1; genannt wurde ferner lediglich noch eine Bandscheibenvorwölbung L3/4. Die Beklagte holte eine beratungsärztliche Stellungnahme bei K1 ein, der mit Schreiben vom 07.04.2016 ausführte, eine B-Konstellation bei BK 2108 sei möglich, konkurrierende Ursachen nicht ersichtlich und für den Fall einer ausreichenden beruflichen Belastung die Einholung eines Gutachtens empfahl (S. 121 f. VerwA). Die daraufhin eingeholte Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 06.12.2016 (S. 134 ff. VerwA) ergab eine berufliche Gesamtdosis in Höhe von 30,7 MNh nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD). Eine besonders intensive Belastung (Erreichen des Richtwertes für die Lebensdosis - 25 MNh - in weniger als zehn Jahren) oder hohe Belastungsspitzen (mehr als 6 kN) hätten nicht vorgelegen.

In dem daraufhin durch die Beklagte eingeholten Gutachten vom 20.02.2017 (S. 164 ff. VerwA) aufgrund ambulanter Untersuchung führte H1 aus, im Bereich der LWS bestehe eine geringgradige Skoliose, die nach den Konsensempfehlungen nicht als konkurrierender Faktor anzusehen sei. Kernspintomographisch und nach den Ergebnissen der operativen Exploration könne gesichert von Bandscheibenschäden in den beiden unteren Segmenten ausgegangen werden. Nur im Segment L5/S1 liege eine zweitgradige Chondrose vor, die übrigen Segmente ließen keine Chondrosezeichen erkennen. Die Annahme eines belastungskonformen Schadbilds sei nicht zu erhärten. W1 bestätigte mit beratender fachärztlicher Stellungnahme vom 12.03.2017 (S. 187 f. VerwA), dass ein bisegmentales Schädigungsbild vorliege, so dass das erste Zusatzkriterium zur Konstellation B2 nicht gegeben sei und mangels Vorliegen des zweiten und dritten Zusatzkriteriums die Konstellation B3 vorliege.

Mit Bescheid vom 23.05.2017 (S. 194 f. VerwA) lehnte die Beklagte die Feststellung einer BK 2108 ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch (unter Vorlage einer weiteren MRT vom 03.08.2017, S. 213 VerwA) wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.11.2017 (S. 216 ff. VerwA) zurück. Die medizinischen Voraussetzungen für eine BK 2108 lägen nicht vor. Es bestehe ein bisegmentales Beschwerdebild mit operiertem Bandscheibenvorfall L4/5 und Chondrose Grad II L5/S1. Soweit S1 im Bericht vom 18.03.2015 einen Bandscheibenvorfall im Segment L3/4 beschrieben habe, werde dieser im Bericht vom 21.10.2015 nicht mehr genannt. Auch nach den Ergebnissen der operativen Exploration könne nur von Bandscheibenschäden in den beiden unteren Segmenten ausgegangen werden. Eine Begleitspondylose fehle und es seien auch sonst keine Sachverhalte ersichtlich, die für einen Zusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und der eingetretenen Erkrankung der LWS sprächen.

Hiergegen richtet sich die am 15.12.2017 zum SG erhobene Klage. Zur Begründung trägt der Kläger vor, entgegen den Feststellungen des H1 lägen nach dem MRT-Befund des S1 vom 03.08.2017 sehr wohl Höhenminderungen an mehreren Bandscheiben im LWS-Bereich vor.

Das SG hat ein orthopädisches Gutachten bei C2 eingeholt. In dem Gutachten vom 22.02.2019 hat dieser ausgeführt, beim Kläger bestünden mittelgradige degenerative Veränderungen an der unteren Halswirbelsäule (HWS) ohne Bewegungseinschränkung oder Nervenwurzelreizerscheinung und eine endgradige Bewegungseinschränkung und Belastungsminderung der LWS nach Operation eines Bandscheibenvorfalls L4/5 und degenerativen Veränderungen im Segment L5/S1 (Chondrose II) mit persistierender motorischer und sensibler Lähmung des Nerven L5 links. Nach den Konsensempfehlungen werde für eine BK 2108 zunächst gefordert, dass eine gesicherte bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vorliege und eine ausreichende berufliche Exposition vorhanden sei, wovon hier auszugehen sei. Beim Kläger sei die Konstellation B2 zu diskutieren, da die Segmente L4/5 und L5/S1 betroffen seien ohne Begleit-spondylose. Nach der Stellungnahme Arbeitsplatzexposition sei weder das zweite (besonders intensive Belastung) noch das dritte Zusatzkriterium (hohe Belastungsspitzen) erfüllt. Entgegen H1 gehe er (C2) jedoch davon aus, dass das erste Zusatzkriterium erfüllt sei, da an zwei Segmenten Schäden vorlägen und damit an „mehreren Bandscheiben“ (unter Hinweis auf ein Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Baden-Württemberg 23.02.2016, L 9 U 5101/12). Bei der Konstellation B2 sei ein Zusammenhang mit der beruflichen Belastung als wahrscheinlich anzusehen; konkurrierende Faktoren seien nicht erkennbar.

Mit Urteil vom 06.06.2019 hat das SG unter Aufhebung des Bescheids vom 23.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.11.2017 festgestellt, dass beim Kläger die BK 2108 vorliegt und angeordnet, dass die Beklagte die außergerichtlichen Kosten des Klägers erstattet. Die Voraussetzungen für die Anerkennung der BK 2108 („Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder gewesen sein können“) seien vorliegend erfüllt. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen seien erfüllt mit einer Gesamtbelastungsdosis von 30,7 MNh (mindestens 25 MNh bei Männern) und einer langjährigen Belastung von etwa 34 Jahren. Es liege auch ein belastungskonformes Schadensbild vor, so dass die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen ebenfalls gegeben seien. Das SG hat sich hierbei auf das Gutachten von C2 gestützt, der das Vorliegen der Konstellation B2 nach den Konsensempfehlungen bestätigt habe. Aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG 06.09.2018, B 2 U 13/17 R) sei nicht zu entnehmen, dass das erste Zusatzkriterium der Konstellation B2 nur gegeben sei, wenn mindestens in drei Segmenten ein Bandscheibenvorfall bzw. eine Chondrose vorliege. Der Kläger habe die belastende Tätigkeit auch aufgegeben.

Gegen das ihr am 17.06.2019 zugestellte Urteil richtet sich die am 04.07.2019 eingelegte Berufung der Beklagten. Zur Begründung führt sie aus, der rechtlich wesentliche Ursachenzusammenhang sei vorliegend nicht erwiesen. Das SG stütze die von ihm bei bisegmentaler Erkrankung von L4/5 und L5/S1 festgestellte BK 2108 auf seine Auslegung der BSG-Rechtsprechung, wonach für die Erfüllung des ersten Zusatzkriteriums der Konstellation B2 der Konsensempfehlungen nicht zwingend drei von Bandscheibenschäden betroffene Wirbelsäulensegmente vorliegen müssten und das Gutachten von C2. Der Gutachter gehe jedoch nicht auf die medizinisch zu erläuternde Problematik ein, sondern begründe seine Auffassung, dass der Befall eines dritten Segmentes nach den Konsensempfehlungen nicht allgemein erforderlich sei, mit der Bezugnahme auf Rechtsprechung. Das SG habe die Grenzen richterlicher Beweiswürdigung überschritten. Aus den Konsensempfehlungen selbst ergebe sich, dass für das erste Zusatzkriterium der B2-Konstellation mindestens drei Etagen gemeint seien. Die Beklagte habe in einem vergleichbaren Fall ein Mitglied der Konsensarbeitsgruppe, S2, befragt, der ebenfalls kommuniziert habe, dass drei Bandscheiben gemeint seien (unter Vorlage von dessen Schreiben vom 15.02.2016, S. 75 ff. Senatsakte). Auch R1 sei in einem Parallelfall (Ergänzungsgutachten vom 11.03.2016, S. 78 ff. Senatsakte) der anderslautenden Auffassung eines Fachkollegen unter Berufung auf die Übersichtsarbeit von G3 (S. 63 ff. Senatsakte) entgegengetreten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 06.06.2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Das BSG habe bestätigt, dass die Tatsachengerichte aufgrund des kontroversen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse sehr wohl zu der Feststellung unterschiedlicher Erfahrungssätze gelangen könnten. Das SG sei eben zu dem Ergebnis gelangt, dass die Ausführungen des C2 zutreffend seien, der unter Darlegung seines wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu dem Ergebnis gelangt sei, dass die bisegmentalen Bandscheibenschäden des Klägers für die Annahme einer BK 2108 ausreichend seien. Zudem liege inzwischen eine Befundverschlechterung vor (unter Vorlage einer MRT vom 29.03.2023, S1: „Befundverschlechterung insbes. L3/4 mit Bandscheibenvorfall links….“). Ergänzend hat der Kläger weitere MRT-Aufnahmen vorgelegt (S. 248 Senatsakte) nebst bereits aktenkundiger ärztlicher Unterlagen sowie den vorläufigen Entlassungsbericht über die stationäre Behandlung vom 12.08. bis 02.09.2020 wegen u.a. chronischer Lumboischialgie links in den R2 Kliniken S3 (S. 282 Senatsakte).

Der Senat hat ergänzend behandelnde Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen befragt. K2 hat mit Schreiben vom 17.05.2023 mitgeteilt, der Kläger sei ab 2015 in regelmäßigen Abständen durchgehend mehrmals im Quartal behandelt worden. Es seien physiotherapeutische Anwendungen sowie die Anlage einer Fußorthese zur Kompensation der bestehenden Fußheberlähmung links erfolgt. Seither komme es rezidivierend zu einer Schmerzexazerbation im Bereich der LWS, intermittierend sei eine Infiltrationstherapie sowie Schmerztherapie mittels intravenöser Schmerzmittelgabe erfolgt (S. 132 f. Senatsakte). B4 hat einen Ausdruck aus der Patientendatei und weitere Arztbriefe vorgelegt (Schreiben vom 22.06.2023, S. 151 ff. Senatsakte). S4 hat die von ihm erhobenen Befunde und Diagnosen mitgeteilt (Schreiben vom 05.06.2023, S. 229 ff. Senatsakte). Ferner hat der Senat die MRT-Aufnahmen und Befunde des S1 beigezogen (S. 240 ff. Senatsakte).

Die Beklagte hat die vorgelegten Unterlagen und MRT-Aufnahmen durch den Beratungsarzt H2 auswerten lassen. Dieser hat mit Schreiben vom 30.08.2023 ausgeführt, aus der MRT vom 26.08.2016 ergebe sich eine II-gradige Chondrose im Segment L5/S1 mit normierter relativer Bandscheibenhöhe von 61 %, die übrigen Segmente, insbesondere L3/4, seien unauffällig. In der MRT vom 03.08.2017 zeige sich ein ähnliches Bild, zusätzlich sei im Segment L5/S1 eine dorsale Protrusion/Bandscheibenvorfall zu erkennen. Auch am 14.07.2020 zeige sich ein ähnliches Bild mit fortbestehender Verminderung der Bandscheibenhöhe L5/S1, unauffälligen übrigen Segmenten ohne „black disc“ und einer diskreten Protrusion in Höhe L3/4. Fast sieben Jahre nach Aufgabe der belastenden Tätigkeit zeige sich jetzt (MRT vom 29.03.2023) ein zusätzlicher grenzwertiger linksseitiger Bandscheibenvorfall L3/4. Im März 2023 wären die formalen Kriterien einer B2-Konstellation mit erstem
Zusatzkriterium erfüllt. Wegweisend sei der Befund zum Zeitpunkt der Aufgabe der belastenden Tätigkeit 2016. Die damaligen Veränderungen erfüllten nicht das Kriterium von „mehreren Bandscheiben“ für das erste Zusatzkriterium, so dass damals eine B3-Konstellation bestanden habe. Laut Konsensempfehlungen nehme die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs mit der Zunahme des zeitlichen Intervalls zwischen Ende der Exposition und erstmaliger Diagnose der Erkrankung zunehmend ab. Das Zeitfenster zwischen Ende der belastenden Tätigkeit und Manifestwerden der Erkrankung liege deutlich unter fünf Jahren, nach anderer Auffassung bei maximal drei Jahren. Im vorliegenden Fall komme es erst fast sieben Jahre nach Aufgabe der Tätigkeit zur Erfüllung des ersten Zusatzkriteriums, was gegen eine BK 2108 und für einen schicksalhaften Bandscheibenschaden spreche.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.



Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist zulässig und auch begründet.

Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid der Beklagten vom
23.05.2017 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheids vom 17.11.2017, soweit die Beklagte damit die Anerkennung der Lendenwirbelsäulenerkrankung des Klägers als BK 2108 abgelehnt hat.

Dagegen wendet sich der Kläger statthaft und auch im Übrigen zulässig mit der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 56 SGG; dazu statt vieler nur BSG 15.09.2011, B 2 U 22/10 R, zitiert - wie sämtliche nachfolgende Rechtsprechung - nach juris, Rn. 10 m.w.N., st. Rspr.).

Diese Klage ist indes unbegründet, sodass das SG die angefochtenen Bescheide zu Unrecht aufgehoben und eine BK 2108 festgestellt hat.
Der Bescheid vom 23.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.11.2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf gerichtliche Feststellung einer BK 2108.

Materiell-rechtliche Grundlage für die Anerkennung einer Berufskrankheit ist § 9 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) i.V.m. der Anlage 1 zur BKV. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Berufskrankheiten nur diejenigen Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet hat (sog. Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG (s. nur BSG
20.03.2018, B 2 U 5/16 R, Rn. 12 m.w.N., auch zum Folgenden) ist für die Feststellung einer Listen-BK (Versicherungsfall) erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die „versicherte Tätigkeit“, die „Verrichtung“, die „Einwirkungen“ und die „Krankheit“ im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit. Der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden. Kommen mehrere Ursachen in Betracht (konkurrierende Kausalität), so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (s. nur BSG 05.08.1993, 2 RU 34/92, Rn. 16 m.w.N.). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK, wohl aber für eine Leistung (Leistungsfall).

Der Versicherungsfall einer Listen-BK setzt somit voraus, dass die Bundesregierung als Verordnungsgeberin die Krankheit als Berufskrankheit in der Anlage 1 der BKV bezeichnet hat und dass sämtliche Merkmale dieses Tatbestands erfüllt sind (BSG
20.03.2018, B 2 U 5/16 R, a.a.O. Rn. 13 m.w.N.). Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des jeweiligen Klägers (BSG 20.12.2016, B 2 U 16/15 R, Rn. 23 m.w.N.).

Zu den von der Bundesregierung in der Anlage 1 der BKV bezeichneten Berufskrankheiten zählt die vorliegend angeschuldigte Berufskrankheit. Die BK 2108 hatte in der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung folgenden Wortlaut: „Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können“. Mit dem Wegfall des Unterlassungszwangs ist auch die Voraussetzung, wonach die bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben müssen, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, mit Wirkung zum 01.01.2021 entfallen (Art. 24 Nr. 3 Buchst. a des 7. SGB-IV-ÄndG, BGBl. I 2020, S. 1248). Zeitgleich ist der Tatbestand der BK 2108 um eine weitere Voraussetzung, wonach die bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Lendenwirbelsäule) geführt haben müssen, erweitert worden (vgl. Art. 24 Nr. 3 Buchst. c, a.a.O.). Die BK 2108 lautet nunmehr: „Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben und Tragen von Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen geführt haben“. Konkret muss zur Erfüllung des Tatbestands der BK 2108 ein Versicherter also aufgrund einer versicherten Tätigkeit langjährig schwere Lasten gehoben und getragen bzw. langjährig in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben, wodurch eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS (mit chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen) entstanden sein muss.

Die Änderung der Rechtslage zum 01.01.2021 hat auf den vorliegenden Fall keine Auswirkungen. Denn im Fall des Klägers scheitert die Anerkennung der BK 2108 bereits daran, dass die Erkrankung der LWS nicht rechtlich wesentlich auf die beruflichen Einwirkungen zurückgeführt werden kann, eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule durch schweres Heben oder Tragen mithin nicht hinreichend wahrscheinlich ist. Für Anerkennungen ab 01.01.2021 (z.B. in Fällen fehlender Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit) müssen dagegen die zusätzlichen Merkmale nach der neuen Rechtslage erfüllt sein (vgl. die zum 01.01.2021 in Kraft getretene Rückwirkungsregelung gem. § 9 Abs. 2a Nr. 1 SGB VII; LSG Mecklenburg-Vorpommern 15.03.2023, L 5 U 47/18).

Zwar gehört der Kläger zum versicherten Personenkreis, denn er war zwischen 1981 und 15.05.2014 als Bauarbeiter versicherungspflichtig beschäftigt (§ 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VII) und anschließend als Unternehmer mit gleichartiger Tätigkeit freiwillig versichert (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII).

Ebenso erfüllt er die arbeitstechnischen Voraussetzungen, denn er hat in seiner versicherten Tätigkeit langjährig (konkret mehr als 30 Jahre) schwere Lasten gehoben und getragen. Zur Bestimmung der für eine Krankheitsverursachung erforderlichen Belastungsdosis zieht der Senat in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG das MDD heran, welches seit 2003 (vgl. BSG 18.03.2003, B 2 U 13/02 R) eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der BK 2108 mit den unbestimmten Rechtsbegriffen „langjähriges“ Heben und Tragen „schwerer Lasten“ oder „langjährige“ Tätigkeit in „extremer Rumpfbeugehaltung“ nur ungenau und allenfalls nur richtungsweisend umschriebenen Einwirkungen ist. Die aufgrund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis des MDD, sind nicht als Grenzwerte, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge zu verstehen (BSG 18.11.2008, B 2 U 14/07 R; vgl. Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur BK 2108, Bundesarbeitsblatt 10-2006, Heft 10, S. 30 ff.). Danach sind zwar die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK 2108 zu bejahen, wenn die Richtwerte im Einzelfall erreicht oder überschritten werden. Umgekehrt schließt aber ein Unterschreiten dieser Werte das Vorliegen der BK 2108 nicht von vornherein aus. Werden die Orientierungswerte jedoch so deutlich unterschritten, dass das durch sie beschriebene Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der BK 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang im Einzelfall bedarf. In diesem Sinne gilt als unterer Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der Lendenwirbelsäule ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis (BSG 06.09.2018, B 2 U 10/17 R, Rn. 20; BSG 30.10.2007, B 2 U 4/06 R, Rn. 25). Für Männer legt das MDD als Gesamtbelastungsdosis den Wert von 25 MNh fest (BSG 06.09.2018, B 2 U 13/17 R, Rn. 17; BSG 23.04.2015, B 2 U 6/13 R, Rn. 17). Vorliegend ist bereits der Orientierungswert für die Gesamtbelastungsdosis mit 30,7 MNh deutlich überschritten, so dass die berufliche Tätigkeit des Klägers geeignet war, bandscheibenbedingte Erkrankungen auszulösen. Der Senat stützt sich insoweit auf die Ermittlungen und Berechnungen des Präventionsdienstes vom 06.12.2016 (S. 134 ff. VerwA). Der Senat hat keine Zweifel, dass die Berechnungen des Präventionsdienstes zutreffend sind, weshalb er sie seiner Entscheidung zugrunde legt. Der Kläger hat diese Berechnungen auch nicht in Zweifel gezogen. Ebenso waren die erforderliche Langjährigkeit und Regelmäßigkeit der wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten gegeben.

Der Kläger erfüllt jedoch nicht die sog. arbeitsmedizinischen Voraussetzungen für die Bejahung des Ursachenzusammenhangs zwischen den gefährdenden Einwirkungen im Sinne der BK 2108 und der Bandscheibenerkrankung. Die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs zwischen beruflichen Belastungen und Bandscheibenerkrankung hat auf der Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu erfolgen; daher sind neben der Begründung des Verordnungsgebers auch die Merkblätter des zuständigen Bundesministeriums, die wissenschaftliche Begründung des ärztlichen Sachverständigenbeirates sowie die sogenannten Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung der auf Anregung des Hauptverbandes der Berufsgenossenschaften (HVBG) eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe („Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule“, Bolm-Audorff, et al., Trauma und Berufskrankheit 2005, S. 211 ff.) zu beachten. Diese Konsensempfehlungen bilden auch weiterhin den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ab (vgl. BSG 06.09.2018, B 2 U 13/17 R; BSG 23.04.2015, B 2 U 06/13 R, B 2 U 10/14 R und B 2 U 20/14 R; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 535 ff.). Weder die mit dem vorliegenden Fall befassten medizinischen Gutachter noch die Beteiligten haben einen neueren, von den Konsensempfehlungen abweichenden Stand der wissenschaftlichen Diskussion zu den bandscheibenbedingten Erkrankungen der LWS aufgezeigt.

Nach den Konsensempfehlungen ist eine bandscheibenbedingte Erkrankung im Sinne der BK 2108 bei einem Betroffensein der unteren Lendenwirbelsäulensegmente anzunehmen, wenn
die bandscheibenbedingte Erkrankung L5/S1 und/oder L4/L5 betrifft und
es sich bei der bandscheibenbedingten Erkrankung um eine Chondrose Grad II oder höher und/oder einen Vorfall handelt und
die Voraussetzungen der Befundkonstellation B1 oder B2 (oder B4 - wie B2 aber mit Bandscheibenschäden an der HWS, schwächer ausgeprägt als an der LWS; oder B7 - wie B1 aber mit Bandscheibenschäden an der HWS, gleich ausgeprägt wie an der LWS oder B9 - wesentliche konkurrierende Ursachen erkennbar, aber das Schadensbild nicht durch überragende Qualität erklärend, Begleitspondylose) gegeben sind.

Die B-Konstellationen sind vorliegend zu diskutieren, da eine bandscheibenbedingte Erkrankung gesichert und die Exposition ausreichend ist. Die Konstellation B1 scheidet vorliegend aus, weil eine Begleitspondylose nach insoweit völlig übereinstimmender ärztlicher Beurteilung nicht gegeben ist (folglich liegen auch die Konstellationen B7 und B9 nicht vor). Die Konstellation B2, bei der ein Zusammenhang ebenfalls als wahrscheinlich gilt, liegt zur Überzeugung des Senats ebenfalls nicht vor. Diese Konstellation ist wie folgt definiert:

„Wesentliche konkurrierende Ursachenfaktoren erkennbar: nein
Begleitspondylose: nein
Zusätzlich mindestens eins der folgenden Kriterien erfüllt:
Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben - bei monosegmentaler/m Chondrose/Vorfall in L5/S1 oder L4/L5 „black disc“ im Magnetresonanztomogramm in mindestens 2 angrenzenden Segmenten (Hinweis: ggf. Magnetresonanztomogramm der Lendenwirbelsäule im Rahmen der Begutachtung veranlassen)
Besonders intensive Belastung; Anhaltspunkt: Erreichen des Richtwertes für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren.
Besonderes Gefährdungspotenzial durch hohe Belastungsspitzen; Anhaltspunkt: Erreichen der Hälfte des MDD-Tagesdosis-Richtwertes durch hohe Belastungsspitzen (Frauen ab 4 1/2 kN; Männer ab 6 kN).“

Wesentliche konkurrierende Ursachenfaktoren liegen hier zur Überzeugung des Senats nicht vor. Sowohl H1 als auch C2 haben die geringgradige Skoliose des Klägers unter Berücksichtigung der Konsensempfehlungen als nicht relevant eingestuft. Diese Beurteilung macht sich der Senat zu eigen. Eine Begleitspondylose liegt nicht vor (sonst Konstellation B1). Problematisch und streitig ist vorliegend allein, ob das erste Zusatzkriterium erfüllt ist. Das zweite (besonders intensive Belastung) und dritte Zusatzkriterium (hohe Belastungsspitzen) ist nach den Ermittlungen des Präventionsdienstes, auf welche sich der Senat stützt, nicht erfüllt. Auch das erste Zusatzkriterium ist zur Überzeugung des Senats nach dem Ergebnis der durchgeführten Ermittlungen nicht erfüllt. Der Senat stützt sich insoweit auf das Gutachten von H1, das im Wege des Urkundsbeweises verwertet wird, die von dem Sachverständigen C2 erhobenen Befunde und MRT-Auswertungen sowie die Ausführungen des Beratungsarztes H2, die als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen gewürdigt werden.

Bei den Konsensempfehlungen handelt es sich nicht um einen verbindlichen normativen Text, weil diese ihre Geltung nicht auf den demokratisch legitimierten Gesetzgeber zurückführen können. Die Konsensempfehlungen sind für Verwaltung, Gerichte oder Gutachter folglich nicht unmittelbar verbindlich, so dass sich deren Auslegung unter strikter Anwendung der Regeln der juristischen Methodenlehre verbietet. Sie dienen lediglich zur Erleichterung der Beurteilung im Einzelfall, um typische Befundkonstellationen im Hinblick auf die Kausalbeziehungen unter Zugrundelegung des aktuell wissenschaftlichen Erkenntnisstands einordnen zu können. Ihre Interpretation als im Wesentlichen medizinisch-naturwissenschaftlicher Text ist daher zuvorderst sachkundigen Medizinern vorbehalten. Eine rein am Wortlaut und den klassischen juristischen Auslegungsmethoden orientierte Interpretation eines solchen primär naturwissenschaftlichen Textes ist nicht ausreichend. So lässt sich nach dem allgemeinem Sprachverständnis der in der Befundkonstellation B2 verwendete Wortlaut „mehrere Bandscheiben“ dahin auslegen, dass es genügt, wenn der Betroffene mehr als einen Bandscheibenvorfall aufweist. Aus dem Kontext und insbesondere der Formulierung „bei nur monosegmentaler/m Chondrose/Vorfall in L5/S1 oder L4/L5 im MRT in mindestens zwei angrenzenden Segmenten black discs“ lässt sich jedoch ableiten, dass auch bei einem bisegmentalen Befall zumindest ein weiteres Segment zumindest eine black disc aufweisen muss, was höchstrichterlich ebenfalls als schlüssige Argumentation angesehen worden ist (BSG 06.09.2018, B 2 U 13/17 R, Rn. 26).

Der Senat kann den Konsensempfehlungen unter Berücksichtigung der eingeholten medizinischen Stellungnahmen sowie der von der Beklagten vorgelegten Unterlagen, namentlich der Stellungnahme des S2 vom 15.02.2016 sowie der Übersichtsarbeit von G3 (Ergebnisse der Konsensus-Arbeitsgruppe) und dem Ergänzungsgutachten von G4 aus einem Parallelverfahren, lediglich einen dahingehenden Konsens entnehmen, dass jedenfalls drei Bandscheiben betroffen sein müssen, damit von einer Höhenminderung und/oder einem Prolaps an „mehreren Bandscheiben“ im Sinne der Befundkonstellation B2 ausgegangen werden kann (ebenso LSG Berlin-Brandenburg 20.01.2023, L 21 U 113/19; LSG Baden-Württemberg 27.04.2022, L 3 U 4097/20; Bayerisches LSG 23.03.2022, L 3 U 297/17 - nachgehend BSG 08.11.2022, B 2 U 59/22 B; a.A. LSG Baden-Württemberg 23.02.2016, L 9 U 5101/12). So hat S2 als einer der Teilnehmer der Konsensarbeitsgruppe ausgeführt, dass es während der Beratungen der Konsensarbeitsgruppe keine unterschiedlichen Auffassungen dazu gegeben habe, dass mindestens drei Bandscheiben i.S. von „mehrere“ betroffen sein müssen, dies indes auch gegeben sein kann im Falle eines monosegmentalen Bandscheibenvorfalls mit „black disc“ in den angrenzenden Bandscheiben. Genau dies bestätigt auch G3, ebenfalls Mitglied der Konsensarbeitsgruppe, in der von der Beklagten vorgelegten Übersichtsarbeit (S. 63 ff. Senatsakte: „Höhenminderung an mehreren [mindestens 3] Bandscheiben“). In gleicher Weise hat sich auch R1 geäußert, dessen Ergänzungsgutachten aus einem Parallelverfahren im Wege des Urkundsbeweises verwertet wird. Nichts anderes ergibt sich aus dem gerichtlichen Sachverständigengutachten von C2. Dieser hat keineswegs dargelegt, dass nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand die Konsensempfehlung in dem Sinne zu verstehen ist, dass für das Vorliegen von Schäden an mehreren Bandscheiben solche an zwei Etagen ausreichen. Vielmehr hat er sich darauf beschränkt, seine Interpretation auf die Rechtsprechung zu stützen (u.a. LSG Baden-Württemberg 23.02.2016, L 9 U 5101/12).

Die nach alledem erforderliche Betroffenheit von drei Bandscheiben ist hier nicht mit einer plausiblen zeitlichen Korrelation zwischen beruflicher Belastung und Diagnose der Erkrankung gegeben. Wegweisend ist angesichts der hier schon länger zurückliegenden Aufgabe der belastenden Tätigkeit im Jahre 2016 der damalige Zeitpunkt. Dies lässt sich der Konsensempfehlung entnehmen, worauf H2 zutreffend hinweist, denn die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs nimmt mit der Länge des Zeitraums zwischen Ende der Exposition und erstmaliger Diagnose der Erkrankung ab. Im Jahr 2015/2016 bestand beim Kläger jedoch lediglich ein (operierter) Bandscheibenvorfall im Segment L4/5 und eine Höhenminderung (Chondrose Grad II) im Segment L5/S1, damit Bandscheibenschäden in zwei Segmenten. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten von H1 sowie dem gerichtlichen Sachverständigengutachten von C2, der dies ebenfalls bestätigt und ausdrücklich von einem bisegmentalen Schädigungsbild ausgeht. Soweit S1 in seiner Befundung der MRT vom 18.03.2015 einen Bandscheibenvorfall L3/4 benannt hat, hat er daran in späteren Beurteilungen nicht mehr festgehalten, sondern nur noch von einer Bandscheibenvorwölbung gesprochen (so MRT vom 21.10.2015, S. 22 VerwA; MRT vom 03.08.2017, S. 213 VerwA; MRT vom 12.12.2018 „Befundkonstanz der Vorwölbungen“, S. 196 Senatsakte; MRT vom 12.11.2021 „weitgehende Befundkonstanz“, S. 222 Senatsakte). Derartige Protrusionen sind indes kein krankheitswertiger Schaden, vielmehr wird der Bandscheibenschaden in den Konsensempfehlungen klar nur als „Höhenminderung und/oder Vorfall“ verstanden (vgl. Ziff. 1.3 der Konsensempfehlungen). Im Segment L3/4 lässt sich auch kein „black disc“ feststellen, wie übereinstimmend von ärztlicher Seite dargelegt und zuletzt auch von H2 nochmals ausgeführt worden ist. Dieses Schädigungsbild entspricht folglich nicht den Voraussetzungen zur Erfüllung des ersten Zusatzkriteriums der Konstellation B2.

Erst in der MRT vom 29.03.2023 zeigt sich ein Bandscheibenvorfall L3/4, so dass (erst) jetzt Schäden an drei Bandscheiben vorliegen. Angesichts der langen zeitlichen Latenz von nahezu sieben Jahren zwischen Aufgabe der belastenden Tätigkeit und Erfüllung der Kriterien kann ein Zusammenhang mit der beruflichen Belastung jedoch nicht mehr begründet werden. Der Senat stützt sich insoweit auf die beratungsärztliche Stellungnahme von H2, der dies gestützt auf medizinische Literatur und die Konsensempfehlungen für den Senat nachvollziehbar dargelegt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
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