Liegt ein Zeitraum von fast acht Monaten zwischen Untersuchung und Abfassung des Gutachtens, ist dieses nicht mehr als Sachverständigengutachten verwertbar. Dies gilt unabhängig davon, auf welchem medizinischen Fachgebiet das Gutachten eingeholt worden ist. Das unverwertbare Gutachten kann auch nicht im Wege des Urkundsbeweises verwertet werden.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 21.07.2023 abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten noch darüber, ob die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen (voller) Erwerbsminderung im Zeitraum vom 01.06.2020 bis 31.05.2023 hat.
Die 1965 geborene Klägerin (nach erneuter Heirat im September 2022 gesch. W1, S. 219 SG-Akte) erlernte von Anfang August 1980 bis Ende Juli 1983 den Beruf einer Fleischereifachverkäuferin, den sie bis Sommer 1985 ausübte. Von Anfang Juli 1985 bis zum Eintritt von Arbeitsunfähigkeit Anfang September 2018 war sie (mit Unterbrechung durch Schwangerschaft und Mutterschutz) versicherungspflichtig als Maschinenarbeiterin im pharmazeutischem Bereich eines Kunststoffherstellers (S1 GmbH in S2; vgl. S. 55, 96 VerwA) tätig. Im Anschluss bezog sie bis Ende November 2019 Krankengeld (S. 195 VerwA). Seither lebte sie nach eigener Angabe von Unterhaltszahlungen ihres (Ex-)Ehemanns (S. 122 SG-Akte). Bei ihr ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 sowie der Nachteilsausgleich Merkzeichen „G“ seit 31.10.2019 festgestellt (S. 20 VerwA).
Vom 31.01. bis 21.02.2019 nahm die Klägerin an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme in der Rehaklinik Ü1 in I1 im A1 teil, aus der sie ausweislich des ärztlichen Entlassungsberichts vom 27.02.2019 (S. 48 ff. VerwA; Diagnosen: Bewegungs- und Belastungsdefizit der Lendenwirbelsäule [LWS] bei degenerativen Veränderungen und Fehlstatik bei muskulären Dysbalancen, Gonarthrose beidseits mit Bewegungs- und Belastungsdefizit, medikamentös behandelte arterielle Hypertonie, eingeschränkte kardiopulmonale Belastbarkeit bei Adipositas, abhängige Persönlichkeitsstörung mit schwer beeinträchtigter Selbstbehauptungsfähigkeit, Zustand nach [Z.n.] zweimaliger Arthroskopie linkes Knie 2015/16, einmal Komazustand nach Arthroskopie rechtes Knie im November 2018, Verdacht auf [V.a.] Angststörung) zwar arbeitsunfähig, aber mit einem Leistungsvermögen von mehr als sechs Stunden täglich für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in wechselnder Körperhaltung (überwiegend im Sitzen, ohne erhöhte Anforderungen an die Geh- und Stehfähigkeit, ohne schweres Heben und Tragen von Lasten, ohne häufiges Bücken bzw. ohne langanhaltende Tätigkeiten in überwiegenden Zwangshaltungen) entlassen wurde. Die Ärzte vermerkten in ihrem Bericht u.a.: „Es liegen keine Hinweise für eine Erkrankung aus dem psychologisch-psychiatrischen Formenkreis vor. Ebenfalls kann keine ausgeprägte Bewältigungsproblematik im Umgang mit den vorliegenden Gesundheitsstörungen festgestellt werden“ (S. 56 VerwA).
Unter dem 13.11.2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Nach Vorlage medizinischer Unterlagen (u.a. Entlassungsbericht der Ärzte der A2 Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie B1 vom 11.10.2019, S. 109 ff. VerwA; dort namentlich Angabe eines Schmerzerlebens von 10/10 auf der Analog-Skala, bei Entlassung Ende August 2019 6/10) holte die Beklagte bei L1 das Gutachten vom 02.01.2020 ein (S. 79 ff. VerwA). Dieser nannte nach Untersuchung der Klägerin am 17.12.2019 folgende Diagnosen: belastungsabhängige Schmerzen und mittelgradige Funktionseinbußen des linken Kniegelenks bei beidseitigem Verschleißleiden, rechts gute Funktion bei Z.n. implantierter Endoprothese (bikondylär) im Juni 2019; am ehesten verschleißbedingte belastungsabhängige Kreuzschmerzen, aktuell ohne Funktionseinbußen und ohne Hinweise auf Nervenwurzelschädigung; leichte Funktionseinbußen der Halswirbelsäule (HWS), ebenfalls ohne Hinweise auf eine Nervenwurzelschädigung; leichtgradige Polyneuropathie ohne Beeinträchtigung der Gang- und Standsicherheit; chronifizierte Schmerzerkrankung mit körperlichen und psychischen Faktoren (vorbefundlich schweres Fibromyalgie-Syndrom) bei aktuell regelmäßiger Einnahme zweier leichter Schmerzmittel; vorbefundlich hochgradige Depression, aktuell (ohne antidepressiv wirksame Medikation) allenfalls leichtgradig; Ohrgeräusche sowie beidseitige geringe Innenohrschwerhörigkeit; bekannter Bluthochdruck, medikamentös behandelt, unkompliziert, aktuell (nach zweiwöchigem Absetzen des Blutdruckmittels) erhöhte Messwerte bei subjektiv wiederkehrendem Herzstolpern ohne Nachweis von Herzrhythmusstörungen. Der Gutachter bestätigte die Leistungsbeurteilung der Ärzte in I1 (zusätzliche qualitative Einschränkung: keine sehr hohen Anforderungen an das Hörvermögen); auch liege keine sozialmedizinisch relevante Einschränkung der Wegefähigkeit vor.
Darauf gestützt lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 03.01.2020 (S. 130 ff. VerwA) und der Begründung ab, dass die medizinischen Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente nicht erfüllt seien. Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte die sozialmedizinische Stellungnahme des S3 vom 08.09.2020 (S. 126 VerwA) ein, der u.a. darauf hinwies, dass die Behauptung der Klägerin, nur noch 50 Meter gehen zu können, auf Grundlage der dokumentierten klinischen Befunde nicht nachvollzogen werden könne und dass sie ohnehin über einen Führerschein und einen Pkw verfüge. Eine wesentliche Verschlimmerung seit der Begutachtung durch L1 liege nicht vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 22.10.2020 (S. 40 ff. VerwA) wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück; eine Erwerbsminderung liege nicht vor.
Hiergegen hat die Klägerin, die während des Klageverfahrens (bei fortbestehenden Arbeitsverhältnis mit der S1 GmbH, vgl. S. 122 SG-Akte) nach R1 verzogen ist, am 05.11.2020 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage erhoben, mit der sie die Gewährung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung (sinngemäß ab 01.11.2019) auf Dauer begehrt hat. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen geltend gemacht, dass ihre Erwerbsfähigkeit in Ansehung ihrer multiplen somatischen und psychischen Beschwerden mit erheblichen chronischen Schmerzzuständen deutlich eingeschränkt sei. Auch könne sie sich namentlich nur noch mittels zweier Gehstöcke und unter Schmerzen ca. 100 bis 200 Meter am Stück fortbewegen. Die Erkrankungen lägen vorrangig auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet. Ursache dessen sei das Verhalten des narzisstischen (Ex-)Ehemanns der Klägerin, der sie über Jahrzehnte hinweg beleidigt, herabgesetzt und psychisch sowie physisch misshandelt habe, weswegen die Klägerin zwischenzeitlich auch aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen sei, um der häuslichen Gewalt zu entfliehen. Die neue Anschrift sei dem (Ex-)Ehemann aus guten Gründen bislang nicht bekannt. Die Klägerin könne aus Angst und psychischer Belastung ohne Begleitung ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Lange habe die Klägerin diese Umstände nur angedeutet oder andeuten lassen („traumatische Ereignisse“) und schließlich in der Reha-Klinik in I1 offengelegt, sodass bei ihr eine abhängige Persönlichkeitsstörung mit schwer beeinträchtigter Selbstbehauptungsfähigkeit diagnostiziert worden sei.
Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. S4 hat mitgeteilt (Auskunft vom 01.02.2021, S. 33 SG-Akte), dass die Klägerin bei ihm zuletzt im Juli 2005 vorstellig gewesen sei. W2 hat bekundet (Auskunft vom 01.02.2021, S. 38 SG-Akte), dass die Klägerin ihn seit geraumer Zeit nicht mehr aufgesucht habe (zuletzt Anfang Oktober 2019). Auch F1 hat sich nämlich geäußert (letzte Vorstellung der Klägerin dort am 13.08.2019; Auskunft vom 22.02.2021, S. 43 SG-Akte). F2 hat in seiner Auskunft vom 02.02.2021 (S. 39 SG-Akte) unter Vorlage seines Karteikartenauszugs (S. 41 SG-Akte) und eines Radiologieberichts vom 29.12.2020 (MRT der LWS, S. 40 SG-Akte) über eine einmalige Untersuchung der Klägerin Anfang Dezember 2020 wegen Schmerzen im unteren Rücken mit Ausstrahlung in die rechte Gesäßhälfte und Taubheitsgefühl des kompletten rechten Unterschenkels berichtet; zur beruflichen Leistungsfähigkeit der Klägerin hat er sich nicht zu äußern vermocht. Ferner hat das SG H1 schriftlich als sachverständige Zeugin gehört, die die Klägerin ab Mitte November 2020 psychotherapeutisch behandelt hatte (seit dem Umzug der Klägerin per Video). Diese hat in ihrer Auskunft vom 30.03.2021 (S. 73 f. SG-Akte) als Diagnosen eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, eine Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst) sowie eine generalisierte Angststörung genannt; sie sehe zurzeit keine Möglichkeit für die Klägerin, einer Arbeit nachzugehen.
Die Klägerseite hat u.a. den Arztbrief des A3 vom 29.01.2021 (S. 48 SG-Akte, Diagnose: deutlich jammer-depressives Zustandsbild) und den Arztbrief des T1 (Klinikum M1) vom 10.06.2020 (S. 57 f. SG-Akte, Befund: rechtes Knie gute Beweglichkeit, Extension/Flexion 0/0/100°, stabile Bandverhältnisse, keine Auffälligkeit; linkes Knie leichte Varusfehlstellung, deutlicher Druckschmerz im medialen Kompartiment, Beweglichkeit Extention/Flexion 0/0/90°, Patella läuft lateral auf, hier auch deutliches retropatellares Reiben, Bandapparat ist mäßig stabil; Empfehlung: Knieprothesenimplantation links), den Arztbrief des W2 vom 14.10.2019 (S. 62 SG-Akte: geringe Innenohrschwerhörigkeit beidseits mit angegebenem Ohrgeräusch links, „rauscht seit 3 Jahren“, derzeit keine Therapie erforderlich) sowie die Arztbriefe des L2 vom 01.10.2019 (S. 59 SG-Akte) und vom 26.05.2020 (S. 60 SG-Akte; Diagnose jeweils: leichte gemischte Polyneuropathie, zuletzt unter Angabe „Gangstörung“) vorgelegt.
Die Beklagte hat die sozialmedizinische Stellungnahme des M2 vom 04.05.2021 (S. 81 f. SG-Akte) beigebracht, der dargelegt hat, dass und warum es auch weiterhin bei der Leistungsbeurteilung der L1 und S3 verbleibe.
Auf Veranlassung der Klägerseite hat L3 ihr „Attest“ vom 26.05.2021 (S. 94 SG-Akte) übersandt, in dem sie mitgeteilt hat, dass sich die Klägerin bei ihr „ab Juni 2021 in einer niedrigfrequenten psychotherapeutischen Behandlung“ befinde. Ferner hat die Klägerin dem SG mitgeteilt, dass ihr von der Pflegekasse der Pflegegrad 1 „zugesprochen“ worden sei und sie hat dazu das Pflegegutachten der Pflegefachkraft Z1 (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung R1 - MDK -) vom 23.06.2021 (nach Hausbesuch am selben Tag) vorgelegt; wegen der diesbezüglichen weiteren Einzelheiten wird auf S. 148 ff. SG-Akte Bezug genommen.
Im Mai 2021 hat das SG von Amts wegen den H2 zum Sachverständigen bestimmt und ihn mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. In seinem Sachverständigengutachten vom 30.06.2021 (S. 100 ff. SG-Akte) hat H2 nach Untersuchung der Klägerin bei ihr chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen Faktoren, eine anhaltende, in etwa mittelgradig ausgeprägte depressive Episode mit deutlichen Angstsymptomen, einen V.a. auf eine angst-/depressionsbezogene Persönlichkeitsveränderung nach langjähriger Extrembelastung, differentialdiagnostisch posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), einen V.a. eine dependente Persönlichkeitsstörung, eine (allenfalls leichtgradige, S. 138 SG-Akte) Polyneuropathie unklarer Genese, ein vorbeschriebenes degeneratives Wirbelsäulensyndrom sowie einen Z.n. Knietotalendoprothese rechts diagnostiziert. Einzelne Verdeutlichungstendenzen im Beschwerdevorbringen und -verhalten seien nicht auszuschließen. Die Klägerin sei unter Beachtung qualitativer Einschränkungen (namentlich überwiegendes Sitzen, keine Zwangshaltungen, keine Exposition mit unspezifischen Stressfaktoren wie z.B. Kälte, Staub, Gase, Dämpfe, Nässe, keine Tätigkeiten mit Publikumsverkehr, mit erhöhter geistiger Beanspruchung, Verantwortung und nervlicher Belastung wie z.B. Akkord-, Fließband- und Nachtarbeit) noch „grenzwertig“ in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten. Von nervenärztlicher Seite bestehe keine Einschränkung der Gehfähigkeit und die Klägerin sei - unter Außerachtlassung eines „verkehrsmedizinischen Fokus“ - auch in der Lage, einen Pkw zu führen.
Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG mit Verfügung vom 29.09.2021 zunächst S5 mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Nachdem dieser mitgeteilt hatte, das Gutachten nicht in angemessener Frist erstellen zu können, hat das SG antragsgemäß S6 zum Sachverständigen bestimmt (Beschluss vom 03.03.2022). Nach Fristverlängerungen hat der Sachverständige sein schriftliches Gutachten vom 15.03.2023 nach Untersuchung der Klägerin (21.07.2022) vorgelegt. Hinsichtlich der dort dokumentierten anamnestischen Angaben der Klägerin wird auf S. 295 ff. SG-Akte, hinsichtlich des vom Sachverständigen dokumentierten neurologischen und psychischen Befunds wird auf S. 303 ff. SG-Akte Bezug genommen.
Im Anschluss hat die Klägerin den Bericht des S7 vom 27.02.2023 (MRT der HWS vom 27.02.2023, S. 337 f. SG-Akte) beigebracht.
Für die Beklagte hat N1 beratungsärztlich Stellung genommen (vom 02.05.2023, S. 342 f. SG-Akte). Er hat u.a. darauf hingewiesen, dass nach den dokumentierten ärztlichen Befunden weder von somatischer, noch von psychiatrischer Seite eine zeitliche Leistungsminderung nachvollzogen werden könne. Auch die von der Klägerin angegebene Medikation (nicht einmal der Hälfte der therapeutischen Anfangsdosierung) spreche gegen höhergradige Schmerzzustände.
Dem ist die Klägerseite entgegengetreten und hat u.a. (s. im Einzelnen S. 364 ff. SG-Akte) unter Hinweis auf den hausärztlichen Medikationsplan (S. 367 SG-Akte) vorgebracht, dass die Klägerin sehr wohl hohe Schmerzmedikationsdosen einnehme; deswegen sei ihr auch das Führen eines Pkw nur noch „stark eingeschränkt“ möglich, auch wegen der Konzentrationsstörungen.
Mit Bescheid vom 13.06.2023 hat die Beklagte der Klägerin eine stationäre medizinische Rehabilitation bewilligt, die noch nicht angetreten worden ist (s. dazu S. 47 ff. Senats-Akte).
Mit Urteil vom 21.07.2023 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 03.01.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2020 „aufgehoben“ und die Beklagte verurteilt, der Klägerin eine „Rente wegen voller Erwerbsminderung (Arbeitsmarktrente)“ ausgehend von einem Leistungsfall „November 2019“ befristet vom 01.06.2020 bis zum 31.05.2023 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und angeordnet, dass die Beklagte die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 1/3 zu erstatten hat. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass das zeitliche Leistungsvermögen der Klägerin für Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter sechs Stunden täglich betrage und dass ihr der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen sei, weswegen ihr Rente wegen voller Erwerbsminderung zustehe, wobei es von einem Leistungsfall zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung ausgegangen ist. In der Sache hat es sich dabei maßgeblich auf das Sachverständigengutachten des S6 gestützt. Die „hinreichend objektivierten Konzentrationsstörungen“ der Klägerin stellten „auf Basis der leicht- bis mittelschwer ausgeprägten Depression in Verbund mit der ausgeprägten Adipositas“ den Schwerpunkt des rentenrechtlich relevant beeinträchtigten psychopathologischen Befunds dar. Die Einwendungen des N1 seien nicht „stichhaltig“. Auch die Leistungsbeurteilung des H2 führe zu keiner anderen Bewertung, da sein „an sich sorgfältig erstelltes“ Gutachten durch die Nutzung des Begriffs „grenzwertig“ „entwertet“ sei. Letztlich bedeute diese Formulierung, dass er sich „seiner Sache nicht sicher sei“ und die eigene Einschätzung eines „vollschichtigen“ Leistungsvermögens in Frage stelle. Die zum 01.06.2020 beginnende Rente der Klägerin (Hinweis auf § 101 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI -) sei freilich auf längstens drei Jahre zu befristen (Hinweis auf § 102 Abs. 2 Satz 2 und 5 SGB VI). Ein weitergehender Rentenanspruch bestehe nicht.
Gegen das ihr am 24.07.2023 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11.08.2023 Berufung eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen geltend gemacht, dass das zwischen der Untersuchung der Klägerin durch S6 und der Abfassung seines Gutachtens ein Zeitraum von mehr als sieben Monate liege, sodass dieses Gutachten mithin keine Entscheidungsgrundlage sein könne. Im Übrigen sei bei der Klägerin zu keinem Zeitpunkt eine Richtlinienpsychotherapie eingeleitet oder auch nur für notwendig erachtet worden, ebenso wenig wie die Einleitung einer psychiatrischen Krankenhausbehandlung; eine adäquate Schmerztherapie finde ebenfalls nicht statt, nicht einmal eine physikalische Behandlung. Dies alles und die aufrechterhaltene Tagesstruktur sowie der Umstand, dass die Klägerin ihren jetzigen Ehemann über das Internet kennengelernt und diesen während des Klageverfahrens (nach der Scheidung im Juni 2022) im September 2022 geheiratet habe, spreche gegen einen erheblichen Leidensdruck und relativiere ihre Beschwerdeangaben. Auch habe N1 zutreffend darauf hingewiesen, dass sich aus dem von S6 dokumentierten psychischen Befund eine schwere seelische Krankheitsausprägung nicht ableiten lasse. Mithin sei eine zeitliche Leistungslimitierung der Klägerin für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts nicht vollbeweislich nachgewiesen, was zu Lasten der Klägerin gehe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 21.07.2023 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat das angefochtene Urteil verteidigt und im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft. Dass der Gutachter S6 „etwas längere Zeit“ für die Abfassung des Gutachtens benötigt habe, spreche nicht gegen die Richtigkeit der darin enthaltenen Ausführungen und Schlussfolgerungen. Dass die Klägerin keine stationäre Behandlung in Anspruch genommen habe, sei auf die Corona-Pandemie zurückzuführen. Auch bestehe in Deutschland bekanntermaßen eine Unterversorgung mit Psycho- und Traumatherapeuten, wofür die Klägerin ebenfalls nichts könne. Im Übrigen habe die Pflegekasse ihr mittlerweile Leistungen nach Pflegegrad 2 bewilligt (Bescheid vom 07.09.2023, S. 38 Senats-Akte). Wegen der persönlichen Stellungnahme der Klägerin von Ende August 2023 wird auf S. 36 f. Senats-Akte Bezug genommen.
Auf den Hinweis des Berichterstatters des Senats, dass das Gutachten des S6 nicht im Wege des Sachverständigenbeweises verwertbar sein dürfte (Verfügung vom 04.10.2023), hat die Klägerseite zusammengefasst geltend gemacht (Anwaltsschriftsätze vom 10.10.2023 und 12.12.2023, s. im Einzelnen insbesondere S. 95 f. Senats-Akte), dass die Klägerin keinen Einfluss auf die Bearbeitungsdauer gehabt habe, dass (sinngemäß) die Rechtsprechung zur richterlichen Urteilsabsetzungsfrist nicht übertragbar sei, dass das Gutachten des H2 Ungenauigkeiten und Fehler enthalte (Beruf des Vaters der Klägerin falsch, Sozialgericht Koblenz statt Karlsruhe, falsche Bezeichnung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin), dass er die Klägerin nur „ca. 30 Minuten“ untersucht habe, dass er sich seine „Notizen“ auf einem „kleinen Handzettel“ gemacht habe und dass die Begutachtung des S6 demgegenüber drei Stunden gedauert habe.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Prozessakten erster und zweiter Instanz verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Beklagten ist zulässig und auch begründet.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 21.07.2023, soweit die Beklagte unter „Aufhebung“ (richtig: Abänderung) des Bescheids vom 03.01.2020 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2020 zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.06.2020 befristet bis zum 31.05.2023 verurteilt worden ist. Nicht Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens ist das Urteil des SG mithin insoweit, als es die Klage im Übrigen - und damit ausweislich der Entscheidungsgründe bezüglich des Begehrens der Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung auf Dauer, also unbefristet - abgewiesen hat. Denn Berufungsführerin ist ausschließlich die Beklagte, die durch die Klageabweisung im Übrigen nicht beschwert ist und diese auch nicht angreift.
Das SG hat die Beklagte zu Unrecht unter Abänderung des angefochtenen Bescheids vom 03.01.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2020 verurteilt, der Klägerin - ausgehend von einem Leistungsfall am 13.11.2019 (Tag der Rentenantragstellung, vgl. dazu § 99 Abs. 1 Satz 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI -) - Rente wegen voller Erwerbsminderung bei Verschlossenheit des (Teilzeit-)Arbeitsmarkts (vgl. dazu § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI und Bundessozialgericht - BSG - Großer Senat 10.12.1976, GS 2/75 u.a., in juris) vom 01.06.2020 (vgl. § 101 Abs. 1 SGG) befristet (vgl. § 102 Abs. 2 Satz 1 und 4 Halbsatz 1 SGB VI) bis zum 31.05.2023 zu gewähren. Denn der Bescheid vom 03.01.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.10.2020 ist - soweit er zur Überprüfung des Senats steht (s.o.) - rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin ist trotz der bei ihr bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen vornehmlich von orthopädischer und psychiatrischer Seite im Sinne der maßgeblichen gesetzlichen Regelungen im streitigen Zeitraum bis 31.05.2023 nicht erwerbsgemindert gewesen, weshalb ihr eine Rente wegen Erwerbsminderung in diesem Zeitraum nicht zusteht.
Rechtsgrundlage für die hier begehrte Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 SGB VI. Danach haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser (Abs. 1 Satz 1 der Regelung) bzw. voller (Abs. 2 Satz 1 der Regelung) Erwerbsminderung, wenn sie (u.a.) teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind. Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht über die Regelung des § 43 Abs. 2 SGB VI hinaus nach der Rechtsprechung des BSG bei regelmäßig bejahter Verschlossenheit des Arbeitsmarktes auch dann, wenn eine zeitliche Leistungseinschränkung von drei bis unter sechs Stunden vorliegt (Großer Senat 10.12.1976, GS 2/75 u.a., a.a.O.). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen (vorliegend also der Eintritt einer Erwerbsminderung i.S.d. § 43 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 SGB VI) im Übrigen erwiesen sein, d.h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. z.B. BSG 11.12.2019, B 13 R 164/18 B, in juris, Rn. 6). Ist ein solcher Nachweis nicht möglich, geht dies zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet (vgl. z.B. BSG a.a.O.; 27.06.1991, 2 RU 31/90, in juris, Rn. 17), vorliegend also zu Lasten der Klägerin (vgl. BSG 29.07.2004, B 4 RA 5/04, in juris, Rn. 24).
Unter Zugrundelegung dessen ist die Klägerin im Zeitraum von der Rentenantragstellung im November 2019 bis Ende Mai 2023 nicht erwerbsgemindert, sondern vielmehr noch in der Lage gewesen, unter Beachtung qualitativer Einschränkungen zumindest leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten.
Die Klägerin ist in ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit hauptsächlich von psychiatrischer und orthopädischer Seite eingeschränkt.
In psychiatrischer Hinsicht leidet sie an chronischen Schmerzen mit somatischen und psychischen Faktoren, an einer anhaltenden, allenfalls mittelgradig ausgeprägten depressiven Episode mit Angstsymptomen bei V.a. auf eine angst-/depressionsbezogene Persönlichkeitsveränderung nach langjähriger Extrembelastung bzw. bei V.a. eine dependente Persönlichkeitsstörung. Dies stützt der Senat maßgeblich auf das Sachverständigengutachten des H2. Soweit der Sachverständige im Hinblick auf die Persönlichkeitsveränderung eine PTBS (als Verdachtsdiagnose aufgrund Fragebogentestung) in den Raum gestellt hat, kommt dem vorliegend keine weitere Bedeutung zu, ebenso wie der Frage, auf welcher Ursache die Persönlichkeitsveränderung letztlich beruht. Denn im Rahmen der Prüfung von Erwerbsminderung kommt es nicht entscheidend auf die Art und Anzahl der gestellten Diagnosen und auch nicht auf eine bestimmte Diagnosestellung oder Bezeichnung von Befunden an, sondern allein auf die Beeinflussung des individuellen quantitativen sowie qualitativen Leistungsvermögens durch dauerhafte Gesundheitsstörungen (BSG 28.02.2017, B 13 R 37/16 BH, in juris), also auf die durch die Gesundheitsstörungen verursachten funktionellen Beeinträchtigungen. Dem entsprechend sind auch die Ursachen der Gesundheitsstörung nicht maßgeblich (BSG a.a.O.).
Derartige höhergradige Funktionsstörungen von seelischer Seite mit Auswirkung auf das zeitliche Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hat der Sachverständige befundgestützt nicht zu objektivieren vermocht.
Bei der Untersuchung durch H2, zu der die Klägerin pünktlich erschienen ist, haben sich keine Hinweise für Störungen der Wahrnehmung und des Ich-Erlebens und keine formalen oder inhaltlichen Denkstörungen ergeben. Sie ist offen und kooperativ, aber auch leidensbetont und klagsam gewesen. Auch wenn sie - so der Sachverständige - deutlich mittelgradig gedrückt gewirkt und die Antriebslage der Klägerin herabgesetzt (aber nicht aufgehoben) imponiert hat, ist ihre emotionale Schwingungsfähigkeit nicht aufgehoben gewesen. Auch ihre psychomotorischen Abläufe haben lediglich eine leichtgradige Verlangsamung bei etwas reduzierter Mimik und Gestik ergeben. Auffälligkeiten der mnestischen und konzentrativen Funktionen haben nicht vorgelegen. Zu den (seinerzeitigen) ehelichen Umständen hat der Sachverständige eine etwas verbesserte emotionale Distanzierung beschrieben.
Bezüglich der geklagten Schmerzzustände der Klägerin (Fragebogentestergebnis der Klägerin im Pain Disability Index: 95 %, was - so der Sachverständige - für eine hohe schmerzbedingte Beeinträchtigung spricht; Angabe der Klägerin im Rahmen der Begutachtung: Ganzkörperschmerzen, Schmerzstärke 8/10 auf der Analogskala, „an einzelnen besseren Tagen bis zu 3/10“) hat H2 bis auf während der Begutachtung eingenommene Haltungswechsel der Klägerin (Aufstehen) bei subjektiv angegebenen Rückenschmerzen keine wesentlichen Auffälligkeiten dokumentiert, insbesondere nicht bei der körperlichen Untersuchung (Befund: paravertebrale Muskulatur der HWS mit Druck- und Klopfschmerzhaftigkeit über allen Wirbelsäulenabschnitten, HWS-Beweglichkeit nach beiden Seiten nur endgradig eingeschränkt, Lasègue beidseits negativ, Hinken rechts bei Z.n. Knie-TEP, keine pathologischen Reflexe, Turnus, Trophik und Motilität der Extremitätenmuskulatur unauffällig, Koordination intakt, nur erschwerte Gangprüfung eingeschränkt durchführbar, kein Hinweis für eine sensible Ataxie). Auch hat er auf eine verdeutlichende Beschwerdedemonstration hingewiesen.
Was ihre Interessenlage/Tagesstruktur anbelangt, hat die Klägerin gegenüber H2 u.a. angegeben, vor vier Jahren ihren neuen Partner (der nach Heirat im September 2022 nunmehrige Ehemann der Klägerin) kennengelernt zu haben und mit ihm zwischenzeitlich zusammengezogen zu sein. Das Verhältnis mit ihm sei sehr gut, er sei ihr „Therapeut“ und sie führe viele Gespräche mit ihm. Es sei geplant, gemeinsam in das neu errichtete Haus seiner Tochter einzuziehen. Sie habe ein sehr gutes Verhältnis auch zu ihr, ebenso wie zu ihrer eigenen Tochter. Zum Tagesablauf hat die Klägerin angegeben, gemeinsam mit ihrem Partner morgens und nachmittags den Hund auszuführen und gemeinsam einkaufen zu gehen. Mittags koche sie mit ihrem Partner, wobei sie dabei vorwiegend sitze. Nachmittags würde sie auch gelegentlich mit ihrem Partner mit dem Auto die Mosel entlangfahren. Nachmittags und abends schaue sie auch Fernsehen.
Unter Zugrundelegung dessen ist es für den Senat schlüssig und nachvollziehbar, dass der Sachverständige von einem Leistungsvermögen der Klägerin für leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung (vorwiegend im Sitzen) bei Beachtung weiterer qualitativer Einschränkungen (keine Zwangshaltungen, keine Exposition mit unspezifischen Stressfaktoren wie z.B. Kälte, Staub, Gase, Dämpfe, Nässe, keine Tätigkeiten mit Publikumsverkehr, mit erhöhter geistiger Beanspruchung, Verantwortung und nervlicher Belastung wie z.B. Akkord-, Fließband- und Nachtarbeit) in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden und mehr (wenn auch von ihm als „grenzwertig“ bezeichnet, s. dazu noch sogleich) ausgegangen ist; er hat damit die Leistungsbeurteilung des L1 (Gutachten vom 02.01.2020, im Wege des Urkundsbeweises verwertbar) bestätigt, der ebenfalls höhergradige funktionelle Defizite mit entsprechenden Schmerzzuständen nicht zu objektivieren vermocht hat.
Soweit die Klägerseite erstmals mit Schriftsatz vom 12.12.2023, also fast zweieinhalb Jahre nach Untersuchung durch den Sachverständigen H2, pauschal behauptet hat, dieser habe die Klägerin nur „ca. 30 Minuten“ untersucht, ist dies für den Senat schon deshalb nicht plausibel und glaubhaft, nachdem das Gutachten eine ausführliche Anamnese (knapp acht Seiten) und einen hinreichenden, in jeder Hinsicht schlüssigen und nachvollziehbaren klinischen Befund (drei Seiten) erhoben hat. Selbst wenn der Sachverständige die Klägerin also „ca.“ 30 Minuten untersucht haben soll, sind seine gutachtlichen Ausführungen ohne jegliche Abstriche geeignet, dem Senat die erforderlichen Grundlagen für seine Überzeugungsbildung zu vermitteln. Die von der Klägerseite aufgeführten „Ungenauigkeiten“ in Randbereichen betreffen nicht den vom Sachverständigen dokumentierten Befund und auch nicht seine sozialmedizinische Leistungsbeurteilung; ohnehin ist vollkommen unerheblich, welchen Beruf der Vater der Klägerin ausgeübt hat, dass der Sachverständige (versehentlich) vom Sozialgericht Koblenz geschrieben hat und dass er nicht die Prozessbevollmächtigte der Klägerin namentlich genannt hat, sondern den mit ihr in Bürogemeinschaft tätigen Rechtsanwalt.
Soweit H2 die Auffassung vertreten hat, das zeitliche Leistungsvermögen der Klägerin von sechs Stunden und mehr täglich sei „grenzwertig“, kommt dem schon deshalb keine weitere Bedeutung zu, weil ein solches Leistungsvermögen, wenn auch „grenzwertig“, eine Erwerbsminderung ausschließt. Ohnehin lässt sich aus einem „grenzwertigen“ Leistungsvermögen von sechs Stunden „und mehr“ in Ansehung der rechtlichen Maßstäbe schon kein Leistungsvermögen von weniger als sechs Stunden ableiten, was aber für eine Erwerbsminderung erforderlich wäre (vgl. § 43 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB VI: „mindestens“ - also einschließlich - sechs Stunden). Den Ausführungen des Sachverständigen lässt sich nicht im Ansatz entnehmen, dass er ein Leistungsvermögen von unter sechs Stunden täglich auch nur in Erwägung gezogen hat. Derartiges wäre auch mit dem Umstand, dass H2 bei erhaltener Interessenlage und Tagesstruktur der Klägerin klinisch gerade keine höhergradigen Störungen zu objektivieren vermocht hat - darauf hat auch N1 in seiner als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen verwertbaren sozialmedizinischen Stellungnahme vom 02.05.2023 zu Recht hingewiesen -, nicht zu vereinbaren. Der Auffassung des SG, das Sachverständigengutachten sei wegen der Verwendung der Einschränkung „grenzwertig“ „entwertet“, folgt der Senat aus den dargelegten Gründen nicht. Ohnehin stellt die Formulierung des von H2 den von ihm erhobenen, objektivierbaren Befund nicht in Frage, der eine zeitliche Leistungslimitierung für leichte Tätigkeiten unter Beachtung der genannten qualitativen Einschränkungen gerade nicht rechtfertigt, zumal der Sachverständige auch lediglich eine leichtgradige Einschränkung der Klägerin im Bereich der Selbstversorgung dokumentiert hat.
In Ansehung dessen sind die von der Klägerin geklagten höhergradigen seelischen Einschränkungen mit massiven Schmerzzuständen nicht nachvollziehbar und entsprechen gerade nicht dem klinischen Bild. Der Umstand, dass die Klägerin nach eigener Angabe jahre- bzw. jahrzehntelang unter ihrem Exmann stark gelitten hat und einer Extrembelastung ausgesetzt gewesen ist, begründet für sich gesehen keine Erwerbsminderung im vorliegend streitigen Zeitraum. Es ist oben schon dargelegt worden, dass es auf bloße Diagnosen, Beschwerdeangaben und namentlich Ursachen von Erkrankungen nicht entscheidend ankommt, sondern auf vorhandene, höhergradige Funktionsstörungen auf Grundlage objektiv-klinischer Befunde. Solche Störungen vermochten indes bereits die Reha-Ärzte in I1 Anfang des Jahres 2019 von seelischer Seite nicht zu objektivieren. Zwar erwähnten sie in der Diagnoseauflistung ihres Entlassungsberichts einen V.a. auf eine Angststörung, dies aber ersichtlich allein auf Grundlage der Angaben der Klägerin, denn klinisch fanden die Ärzte keine Hinweise auf eine Erkrankung aus dem psychologisch-psychiatrischem Formenkreis.
Soweit die Ärzte der A2 Klinik in ihrem Entlassungsbericht vom 11.10.2019 rund ein halbes Jahr nach Entlassung der Klägerin aus der Reha-Maßnahme in I1 bei ihr hochgradige seelische Störungen und Schmerzzustände diagnostizierten, ist dies für den Senat schon deshalb nicht ansatzweise nachvollziehbar, weil dies im Wesentlichen allein auf den Beschwerdeangaben der Klägerin beruhte, insbesondere auf der schon bei Aufnahme in der Klinik von der Klägerin angegebenen Schmerzstärke von 10/10 auf der Analogskala, was dem höchsten menschlich vorstellbaren und unerträglichsten Schmerz schlechthin entspricht (s. dazu nur Widder in DRV Bund, Sozialmedizinische Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung, 7. Aufl. 2011, S. 608). Gleichwohl ist die Klägerin ausweislich des Entlassungsberichts ohne Weiteres in der Lage gewesen, ihre Beschwerden und ihre Vorgeschichte zusammenhängend, geordnet und breit zu schildern, was bei einem menschlich maximal vorstellbaren Schmerz von 10/10 auf der Analogskala schlechterdings nicht möglich wäre. Eine kritische Würdigung oder Validierung der Angaben der Klägerin haben die Ärzte der A2 Klinik hingegen nicht durchgeführt, sondern diese vielmehr auch ihrem psychopathologischen Befund zugrunde gelegt und mit den subjektiven - in Ansehung der vorherigen Ausführungen nicht glaubhaften - Angaben der Klägerin vermengt („Bewusstseinslage und Orientierung: Klar, orientiert. Äußeres Erscheinungsbild: Normal. Psychomotorik und Mimik: Normal. Schwingungsfähigkeit: Reduziert. Antrieb: Müsse sich zu allem zwingen, sei in letzter Zeit teilnahmslos, sozialer Rückzug vorhanden. Grundstimmung: Traurig, niedergeschlagen, verzweifelt, freudlos, interesselos, hoffnungslos, Gefühl von Erschöpfung und Schwäche, innerer Unruhe. Denken + Kognitive Leistung: Grübeln und Selbstentwertung vorhanden. Gedächtnis/Konzentration: Normal. Wahrnehmung, Ich-Erleben: Verlust des Selbstwertgefühls vorhanden. Kontaktverhalten: Mehrfaches Weinen. Sprache: Normal. Psychotische Symptomatik: Nein.“); eine entzündlich-rheumatische Erkrankung als Ursache für die von der Klägerin angegebenen Schmerzen schlossen die Ärzte im Übrigen ausdrücklich aus.
Auf der Grundlage dessen vermag sich der Senat schon der diagnostischen Einschätzung der Ärzte der A2 Klinik nicht anzuschließen, erst recht nicht hinsichtlich des Ausmaßes der von der Klägerin dort geklagten Schmerzzustände. Unabhängig davon wurde die Klägerin aus der dortigen Behandlung auch in einem - gemessen an der von den Ärzten zugrundgelegten Schmerzstärke von 10/10 - deutlich gebesserten Zustand (nunmehr, so die Annahme der Ärzte, Schmerzstärke 6/10 auf der Analogskala) entlassen. In Ansehung des Umstands, dass die Begutachtung der Klägerin durch L1 bereits rund dreieinhalb Monate nach der Entlassung erfolgte und dieser weder höhergradige seelische Auffälligkeiten, noch höhergradige Schmerzzustände zu objektivieren vermochte - ebenso wie später der Sachverständige H2 -, sind jedenfalls zeitlich überdauernde (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 SGB VI: „auf nicht absehbare Zeit“) Funktionsstörungen der Klägerin von psychischer Seite mit entsprechenden Schmerzzuständen und Auswirkung auf das zeitliche Leistungsvermögen nicht nachgewiesen. Deshalb spielt es auch keine weitere Rolle, ob und inAC welcher Dosierung die Klägerin letztlich Schmerzmedikamente einnimmt und ob sie sich adäquat therapieren lässt.
Aus dem Pflegegutachten der Pflegefachkraft Z1 vom 23.06.2021 folgt schon deshalb nichts Abweichendes, weil es sich bei ihr nicht um eine (Fach-)Ärztin handelt und ihre Begutachtung nach den Maßstäben der sozialen Pflegeversicherung - die sich grundlegend von denen unterscheidet, die für die Frage einer Erwerbsminderung maßgeblich sind - auch in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu der Begutachtung des H2 stattgefunden hat, der - wie schon dargelegt, weder somatisch noch psychisch höhergradige Störungen objektiviert hat. Demgemäß ist es für die vorliegende Beurteilung auch vollkommen unbedeutend, dass bei der Klägerin ein Pflegegrad festgestellt ist.
Dass sich auch aus dem Arztbrief des A3 vom 29.01.2021 und der Auskunft (gegenüber dem SG) der H1, die ebenfalls keine Ärztin (für Psychiatrie) ist, ebenfalls nichts herleiten lässt, was eine Erwerbsminderung im streitigen Zeitraum belegen könnte, hat bereits der Beratungsarzt M2 dargelegt, dessen beratungsärztliche Stellungnahme vom 04.05.2021 als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen verwertbar ist; dagegen ist insbesondere auch in Ansehung des zeitlich späteren Gutachtens des H2 nichts zu erinnern. Nämliches gilt hinsichtlich des „Attestes“ der Allgemeinmedizinerin L3 vom 26.05.2021.
Schließlich folgt auch aus dem Gutachten des S6 vom 15.03.2023 nichts, was eine Erwerbsminderung der Klägerin im streitigen Zeitraum begründen könnte. Das Gutachten ist schon nicht im Wege des Sachverständigenbeweises (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 411 Zivilprozessordnung - ZPO -) als Sachverständigengutachten verwertbar - was das SG übersehen hat -, weil zwischen der Untersuchung der Klägerin durch S6 (21.07.2022) und der Vorlage des schriftlichen Gutachtens (15.03.2023) ein Zeitraum von fast acht Monaten verstrichen ist (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 26.07.2022, L 10 R 1330/21, n.v.; Landessozialgericht - LSG - Baden-Württemberg 25.09.2020, L 8 R 2033/19, in juris, Rn. 40; 27.03.2014, L 6 U 4001/13, in juris, Rn. 50; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 118 Rn. 11n); die Beklagte hat dies zu Recht ausdrücklich geltend gemacht.
Bei einem derart langen Zeitraum ist - wie beim Richter, der Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach der Urteilsverkündung schriftlich niedergelegt hat (s. dazu nur Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes - GmS-OGB - 27.04.1993, GmS-OGB 1/92, in juris, Rn. 18) - typisierend davon auszugehen, dass die Erinnerung des Sachverständigen an die Exploration und den persönlichen Eindruck vom Probanden in Ansehung der bei der Begutachtung gewonnenen Untersuchungsergebnisse - was für die sozialmedizinische Beurteilung unabdingbar ist und gerade deren Kern bildet - mit der Zeit naturgemäß verblassen muss, v.a. bei einem Sachverständigen wie S6, der eine Vielzahl von Gutachten erstattet und es allein deswegen auch mit einer Vielzahl von Probanden zu tun hat.
Aus diesen grundsätzlichen Erwägungen heraus gibt es zur Überzeugung des Senats regelmäßig auch keine Veranlassung, die Frage der Verwertbarkeit bei längerem Zeitablauf zwischen Begutachtung und Erstattung des schriftlichen Gutachtens nach medizinischen Fachgebieten (psychiatrisch bzw. psychosomatisch respektive Schmerzgutachten auf der einen Seite, ärztliche Gutachten auf somatischen Fachgebieten auf der anderen Seite) zu differenzieren. Denn auch z.B. bei orthopädischen Gutachten - oder eben wie vorliegend auch auf neurologischem Gebiet - kommt der sachverständigen Einschätzung und dem Eindruck des Gutachters vom Probanden in der jeweiligen Untersuchungssituation neben den „reinen“ Funktionsbefunden regelmäßig eine richtunggebende Bedeutung zu, namentlich was die Beschwerdekonsistenz, die Glaubhaftigkeit der Beschwerdeangaben und das Verhalten des Probanden in der Untersuchungssituation gegenüber den erhobenen klinischen Befunden anbelangt.
Keiner Entscheidung bedarf hier freilich, ab welchen Zeitraum zwischen Begutachtung und Vorlage des schriftlichen Gutachtens regelmäßig von einer Unverwertbarkeit im Sachverständigenbeweis ausgegangen werden muss. Denn der Senat erachtet den vorliegenden Zeitraum von fast acht Monaten jedenfalls als zu lang.
Die Ausführungen der Klägerseite im Schriftsatz vom 12.12.2023 liegen neben der Sache. Es geht vorliegend nicht darum, ob und in welcher Form sich ein Sachverständiger „Notizen“ macht. Es geht darum, dass mit zunehmendem Zeitablauf zwischen Begutachtung und schriftlicher Erstellung des Gutachtens unwiderlegbar zu vermuten ist, dass dem Sachverständigen bei Abfassung des Gutachtens die Untersuchungsergebnisse einschließlich des persönlichen Eindrucks vom Probanden nicht mehr derart präsent sind, dass das Gutachten mit all seinen Schlussfolgerungen noch als auf diesem Begutachtungsergebnis zum Zeitpunkt der Untersuchung beruhend angesehen werden kann. Wenn Nämliches beim Richter ebenfalls unwiderlegbar vermutet wird (s.o.), wenn eine gewisse Zeitspanne (fünf Monate) zwischen der Verkündung des Urteils und der Abfassung der vollständigen Entscheidung liegt, kann bei einem gerichtlichen Sachverständigen als Gehilfen des Gerichts (s. dazu nur und bereits BSG 25.08.1955, 4 RJ 120/54, in juris, Rn. 22; Keller a.a.O. Rn. 11a) nichts anderes gelten.
Bei allem spielt es im Übrigen hinsichtlich der Verwertbarkeit auch keine Rolle, worauf der Zeitablauf zwischen Begutachtung und Gutachtensvorlage letztlich beruht und dass der betreffende Beteiligte darauf in der Regel keinen Einfluss hat. Es ist vielmehr Aufgabe des Gerichts, den Sachverständigen mit den prozessual zur Verfügung stehenden Mitteln (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 404a Abs. 1, § 409 Abs. 1, § 411 Abs. 2 ZPO) dazu anzuhalten, fristgerecht sein Gutachten vorzulegen. Kommt er dem nicht nach oder folgt der Sachverständige dem gleichwohl nicht fristgerecht, führt dies nicht dazu, dass ein nach den obigen Maßstäben als Sachverständigengutachten unverwertbares Gutachten verwertbar wäre.
Ist das Gutachten des S6 damit hier unverwertbar, kann es als solches auch nicht im Wege des Urkundsbeweises mit vollem Beweiswert verwertet werden (BSG 28.03.1984, 9a RV 29/83, juris, Rn. 13; Keller a.a.O. Rn. 11j).
Freilich erachtet es der erkennende Senat im Rahmen einer Interessenabwägung in einem solchen Fall - hier dem Grunde nach zugunsten der Klägerin - für zulässig (so auch Keller a.a.O. Rn. 11j und Rn. 12n), jedenfalls die im Gutachten dokumentierten klinischen Befunde und anamnestischen Angaben (urkundsbeweislich) zu verwerten, wenn die Befundtatsachen „unwiederholbar“ sind, wenn es also - wie vorliegend - im Rahmen eines zurückliegenden längeren Streitzeitraums um die Frage des Eintritts einer Erwerbsminderung eines Versicherten geht.
Indes lässt sich aus dem von S6 erhobenen psychopathologischen Befund (s. im Einzelnen S. 305 f. SG-Akte) schon keine wesentliche Änderung gegenüber dem von H2 erhobenen ableiten, worauf N1 zutreffend hingewiesen hat. Der Wahlsachverständige hat die Klägerin insgesamt, so überzeugend N1, nicht als eigentlich depressiv beschrieben, sondern als „unausgeglichen“, wobei er (der Wahlsachverständige) die postulierte verminderte Schwingungsfähigkeit dahingehend relativiert hat, dass eine Aufheiterung der Klägerin möglich gewesen ist. Ergänzend merkt der Senat dazu noch an, dass die Klägerin beim Wahlsachverständigen erneut Konzentrations- und Wortfindungsstörungen behauptet hat, die schon H2 nicht zu objektivieren vermocht hat. S6 hat auch selbst eingeräumt, dass Derartiges im explorativen Gespräch „kaum“ aufgefallen ist und er hat im Übrigen ein ungestörtes Sprachverständnis bei richtiger Auffassung und Beantwortung aller Fragen sowie ein formales Denken ohne Ideenflucht, ohne Gedankensperren, ohne Gedankenabreißen bei schlüssigem Gedankenfluss ohne Sprünge und ohne Satzabbrüche dokumentiert. Damit sind die Beschwerdeangaben der Klägerin auch insoweit (erneut) widerlegt.
Nämliches gilt, soweit die Klägerin wiederum vielfältige körperliche Beschwerden und Schmerzzustände behauptet hat. Auch diesbezüglich hat N1 zu Recht darauf hingewiesen, dass der vom Wahlsachverständigen dokumentierte körperliche Befund diese Beschwerdebehauptungen in ihrem Ausmaß nicht ansatzweise trägt (s. S. 304 f. SG-Akte: seitengleiche und kräftige Hebung der Schultern, links humpelnder, aber sicherer Gang ohne neurologische Ursache, keine Paresen, nur sehr geringfügige sensible Ataxie mit leicht unsicherem Blindgang, bei offenen Augen sicherer Stand und Gang, keine Kloni, keine pathologischen Reflexe, unauffälliges Vibrationsempfinden, Sensibilität am ganzen Körper weitgehend - bis auf eine angegebene Taubheit im Operationsnarbengebiet des rechten Knies - intakt), zumal die Klägerin gegenüber S6 auch eingeräumt hat, dass sie nicht einmal eine physikalische Therapie in Anspruch nimmt und dass auch eine psychiatrische Therapie „im eigentlichen Sinn“ bei ihr nicht stattfindet. Der von ihr gegenüber dem Wahlsachverständigen geschilderte Tagesablauf entspricht im Übrigen im Wesentlichen - von einzelnen Relativierungen abgesehen - auch dem, was sie schon gegenüber H2 bekundet hat (Partner 2017 im Internet kennengelernt, erledigt Hausarbeiten und Einkäufe, verbringt bei schönem Wetter viel Zeit auf der Terrasse, kocht gemeinsam mit ihrem Partner, schaut fern, führt den kleinen Hund Gassi, freilich „allenfalls kurz um die Ecke“).
Dass N1 auf der Grundlage dessen und in Ansehung des vorangegangenen Gutachtendes des H2 die Auffassung vertreten hat, dass bei der Klägerin auch weiterhin keine höhergradigen seelischen Funktionsstörungen und Schmerzzustände mit Auswirkung auf das zeitliche Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt belegt sind, ist für den Senat entgegen dem SG „stichhaltig“ und in jeder Hinsicht überzeugend, denn es ist befundgestützt.
In neurologischer Hinsicht leidet die Klägerin zwar an einer Polyneuropathie, diese ist aber nur leichtgradig ausgeprägt; ihr tragen die o.a. qualitativen Einschränkungen (insbesondere überwiegendes Sitzen, keine Arbeiten unter klimatisch ungünstigen bzw. expositiven Bedingungen) hinreichend Rechnung, was der Senat auf das Gutachten des H2 und das Gutachten des L1 stützt; aus dem oben wiedergegebenen klinischen Befund des Wahlverständigen S6 ergibt sich nichts anderes, ebenso wenig wie aus den Arztbriefen des L2.
Von orthopädischer Seite bestehen bei der Klägerin ein Bewegungs- und Belastungsdefizit der LWS bei degenerativen Veränderungen und Fehlstatik mit muskulären Dysbalancen ohne neurologische Ausfälle, eine endgradig eingeschränkte HWS-Beweglichkeit und eine beidseitige Gonarthrose, rechts bei Z.n. Knie-TEP und guter Funktion sowie stabilen Bandverhältnissen, links mit mittelgradigen Funktionseinbußen und mäßig stabilem Bandapparat. Dies entnimmt der Senat dem Entlassungsbericht der Ärzte in I1, dem Gutachten des L1, dem Arztbrief des T1 vom 10.06.2020 sowie dem Gutachten des H2. Aus dem Karteikartenauszug des F2 über drei Behandlungen der Klägerin im Zeitraum vom 07.12.2020 bis 02.02.2021 ergibt sich nichts Abweichendes.
Diese Gesundheitsstörungen bedingen indes keine zeitliche Leistungslimitierung für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts, sondern führen lediglich zu (weiteren, s.o.) qualitativen Einschränkungen (keine erhöhten Anforderungen an die Gang- und Standfähigkeit, kein schweres Heben/Tragen, kein häufiges Bücken, keine Zwangshaltungen). Dies stützt der Senat auf die Leistungsbeurteilung der Ärzte in I1, das Gutachten des L1, die beratungsärztliche Stellungnahme des S3 vom 08.09.2020 (urkundsbeweislich verwertbar), die schon o.a. sozialmedizinische Stellungnahme des Facharztes M2 und auf das Gutachten des H2, der - wie oben schon dargelegt - von somatischer Seite keine höhergradigen Funktionseinschränkungen beschrieben hat; Nämliches gilt in Ansehung des vom Wahlsachverständigen dokumentierten Körperbefunds (s. auch dazu schon oben). Den Radiologieberichten vom 29.12.2020 (MRT der LWS) und vom 27.02.2023 (MRT der HWS) lassen sich schon keine weitergehenden Einschränkungen entnehmen; in ihnen werden vielmehr die bekannten LWS- und HWS-Veränderungen bildgebend bestätigt.
Die sonstigen bei der Klägerin bestehenden internistischen gesundheitlichen Anomalien (namentlich Adipositas mit einem BMI > 40 ohne manifeste pulmonal-kardiale Einschränkungen, medikamentös behandelte arterielle Hypertonie) bedingen ebenfalls keine zeitliche Leistungseinschränkung. Dies stützt der Senat auf den Entlassungsbericht der Ärzte in I1 und auf das Gutachten des L1. Die Klägerseite hat auch nichts Konkretes dargetan, was insoweit eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnte, namentlich auch keine entsprechenden Befundberichte beigebracht oder auch nur erwähnt. Die geringe beidseitige Innenohrschwerhörigkeit mit angegebenem Ohrgeräusch links - dies entnimmt der Senat der Auskunft (gegenüber dem SG) des W2, der eine Therapie nicht für erforderlich erachtet hat - schließt Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an das Hörvermögen aus, bedingt aber ebenfalls keine zeitliche Leistungslimitierung, worauf L1 gut nachvollziehbar hingewiesen hat.
Unter Zugrundelegung all dessen hat der Senat keine ernsthaften Zweifel, dass die Klägerin im streitigen Zeitraum noch in der Lage gewesen ist, jedenfalls leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung der oben festgestellten qualitativen Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten, sodass sie weder voll noch teilweise erwerbsgemindert gewesen ist (§ 43 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB VI). Dabei ist es unerheblich, ob ein dem Leistungsvermögen entsprechender Arbeitsplatz hätte vermittelt werden können, weil nach § 43 Abs. 3 Halbsatz 2 SGB VI die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist. Ebenfalls unerheblich ist, dass bei der Klägerin ein GdB von 50 sowie der Nachteilsausgleich Merkzeichen „G“ festgestellt ist, denn dem kommt hinsichtlich der Fragen einer zumutbaren beruflichen Einsetzbarkeit keinerlei Aussagekraft zu (BSG 19.09.2015, B 13 R 290/15 B, in juris, Rn. 5); Nämliches gilt hinsichtlich eines Pflegegrads (s. dazu schon oben).
Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist vorliegend im Streitzeitraum nicht erforderlich gewesen (vgl. BSG 14.09.1995, 5 RJ 50/94, in juris, auch zum Nachfolgenden). Denn nach der Rechtsprechung des BSG steht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine so große Anzahl von Tätigkeitsarten zur Verfügung, dass das Vorhandensein einer geeigneten Verweisungstätigkeit offensichtlich ist. Nur ausnahmsweise ist für eine auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbare Versicherte wie die Klägerin mit zumindest sechsstündigem Leistungsvermögen für leichte Arbeiten die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderlich, wenn die Erwerbsfähigkeit durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert ist. In der Rechtsprechung des BSG sind bestimmte Fälle anerkannt (z.B. Einarmigkeit, vgl. BSG a.a.O. m.w.N.), zu denen der vorliegende Fall aber nicht gehört. Vielmehr braucht eine Verweisungstätigkeit erst benannt zu werden, wenn die gesundheitliche Fähigkeit zur Verrichtung selbst leichter Tätigkeiten in vielfältiger, außergewöhnlicher Weise eingeschränkt ist. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn ein Versicherter noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten ohne Heben und Tragen von Gegenständen über 5 kg, ohne überwiegendes Stehen und Gehen oder ständiges Sitzen, nicht in Nässe, Kälte oder Zugluft, ohne häufiges Bücken, ohne Zwangshaltungen, ohne besondere Anforderungen an die Fingerfertigkeit und nicht unter besonderen Unfallgefahren zu verrichten vermag (BSG a.a.O.; BSG 27.04.1982, 1 RJ 132/80, in juris). Denn ein Teil dieser Einschränkungen stimmt bereits mit den Tätigkeitsmerkmalen einer körperlich leichten Arbeit überein; dies gilt insbesondere für die geminderte Fähigkeit, Lasten zu bewältigen und die geringe Belastbarkeit der Wirbelsäule (BSG a.a.O.) mit den hierauf beruhenden Einschränkungen. Diese zur früheren Rechtslage entwickelten Grundsätze sind auch für Ansprüche auf Renten wegen Erwerbsminderung nach dem ab dem 01.01.2001 geltenden Recht weiter anzuwenden (vgl. zuletzt BSG 11.12.2019, B 13 R 7/18 R, in juris). Nicht anders liegt der Fall der Klägerin. Auch bei ihr ist den qualitativen Einschränkungen (s.o.) im Wesentlichen bereits dadurch Rechnung getragen, dass ihr nur noch leichte Arbeiten im streitigen Zeitraum zuzumuten gewesen sind.
Bei der Klägerin hat auch keine schwere spezifische Leistungsbehinderung in Gestalt einer Einschränkung ihrer Wegefähigkeit (vgl. dazu nur BSG 12.12.2011, B 13 R 79/11 R, in juris, Rn. 20 m.w.N.) vorgelegen. Aus den oben dargestellten objektivierbaren Befunden der Reha-Ärzte in I1, des L1 und des H2 lässt sich nicht ansatzweise eine höhergradige Einschränkung der Gehfähigkeit ableiten und damit auch keine Beschränkung der sozialrechtlichen Wegefähigkeit, worauf die Gutachter ausdrücklich hingewiesen haben; auch aus dem körperlich-somatischen Befund, den der Wahlsachverständige dokumentiert hat (s.o.), ergibt sich Derartiges nicht. Damit kommt es auf die Behauptung der Klägerin, dass sie wegen ihrer Schmerzmitteleinnahme keinen Pkw mehr führen könne, nicht weiter an.
Der entscheidungserhebliche medizinische Sachverhalt ist hinreichend geklärt. Die aktenkundigen ärztlichen Unterlagen, insbesondere das Sachverständigengutachten des H2 und das Gutachten des L1 sowie die beratungsärztlichen Stellungnahmen des Facharztes M2 und des N1, der insbesondere die vom Wahlsachverständigen dokumentierten Befunde ausgewertet und gewürdigt hat, haben dem Senat die erforderlichen Grundlagen für seine Überzeugungsbildung vermittelt. In Ansehung des Berufungsstreitgegenstands kommt es auf den Gesundheitszustand der Klägerin seit dem 31.05.2023 nicht entscheidend an, sodass auch unerheblich ist, dass und warum bei ihr zwischenzeitlich ein Pflegegrad 2 festgestellt worden ist. Auch spielt es für den vorliegenden Streitgegenstand keine Rolle, dass die Beklagte der Klägerin eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme bewilligt hat, zumal eine solche gerade (auch) dazu dient, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit abzuwenden (vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 2 lit. a SGB VI).
Nach alledem kann die angefochtene Entscheidung des SG, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, keinen Bestand haben, weshalb das Urteil des SG insoweit im Rahmen des Berufungsantrags der Beklagten abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen ist.
Die Kostenentscheidung für beide Rechtszüge beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.