S 13 AS 1018/22

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
13
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 13 As 1018/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Die nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 SGB II vorgesehene Aufrechnungsmöglichkeit in Höhe von 30 % kann durch das Jobcenter unterschritten werden.

Die Klage wird abgewiesen.

Der Beklagte hat ¼ der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Aufrechnung des Beklagten mit einem Erstattungsanspruch gegen Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) streitig.

Der 1997 geborene Kläger steht beim Beklagten im Leistungsbezug. Unter Berufung auf bestandskräftige Forderungen über insgesamt noch 1.348,50 € teilte der Beklagte nach Anhörung vom 24. November 2021 mit Bescheid vom 30. Dezember 2021 mit, dass er ab dem 1. Februar 2022 in Höhe von 36 € monatlich aufrechnen werde. Zu diesem Zeitpunkt berücksichtigte der Beklagte den Kläger als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft seiner Eltern mit einem Regelbedarf in Höhe von 360 €. Im Bescheid führte der Beklagte ohne nähere Erläuterung aus, von seinem Ermessen Gebrauch gemacht zu haben und die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gebührend berücksichtigt zu haben.

Gegen den Bescheid vom 30. Dezember 2021 erhob der Kläger am 7. Juli 2022 Widerspruch und rügte insbesondere die Ermessensausübung. Mit Widerspruchsbescheid vom 14. September 2022 wies der Beklagte unter Anerkennung einer hälftigen Kostenlast „den Widerspruch nach den Ausführungen im hiesigen Widerspruchsbescheid zum ausgeübten Ermessen im Übrigen als unbegründet zurück“. Wegen dessen Begründung wird auf Blatt 5 fortfolgende der Gerichtsakte (GA) verwiesen.

Hiergegen hat der Kläger am 12. Oktober 2022 Klage erhoben und beantragt, den Bescheid vom 30. Dezember 2021 aufzuheben.

Begründend wiederholt der Kläger seinen bisherigen Vortrag und ergänzt: Der Beklagte habe im Rahmen des Widerspruchsverfahrens ausgeführt, dass er – der Kläger – seiner Tochter keinen Unterhalt gewähre. Er sei durch eine rechtsfehlerhafte Anwendung des Gesetzes mit 20 % der Regelleistung unterdeckt. Er werde gegenüber dem Freistaat Thüringen auf Unterhaltszahlung in die Pflicht genommen und sei durch das Familiengericht auch verpflichtet worden. Mit einer gerichtlichen Bestätigung der Aufrechnung werde ihm die Möglichkeit genommen, dem Unterhalt an seine Tochter nachzukommen. Es sei bereits ermessensfehlerhaft, bei einer untergedeckten Leistung nach dem SGB II die hieraus nicht mögliche, wenigstens anteilige Unterhaltsgewährung als Begründung zu nehmen, dass eine Aufrechnung wegen nicht möglicher Unterhaltsgewährung berechtigt sei.

Er beantragt zuletzt,

den Bescheid vom 30. Dezember 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. September 2022 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

und verweist auf seine Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die GA und den beim Verfahren S 13 AS 968/22 befindlichen Ausdruck aus der elektronischen Akte des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist, soweit sie zulässig ist (dazu B.), unbegründet (dazu C.).

A. Das Gericht konnte gemäß § 124 Absatz (Abs.) 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (Schreiben der Beteiligten vom 2. beziehungsweise <bzw.> 3. Januar 2024, Blatt 39 bzw. 51 GA).

B. Der Kläger macht sein Begehren in zulässiger Weise mit der Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG geltend. Mit einer Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids als (Grundlagen-)Verwaltungsakt (vergleiche <vgl.> Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 9. März 2016, B 14 AS 20/15 R, juris) in Gestalt des Widerspruchsbescheids wird die Aufrechnung hinfällig. Für die darüberhinausgehende Verpflichtungsklage ist dagegen kein Raum.

Das Gericht hält dabei den zuletzt gestellten Antrag im Vergleich zum ursprünglichen jedenfalls für sachdienlich (vgl. § 99 Abs. 1 SGG), sodass auf die Frage des Vorliegens einer Klageänderung nicht weiter eingegangen werden muss (zur Unzulässigkeit des ursprünglichen Antrags auf eine isolierte Anfechtung des Ausgangsbescheids Beschluss der Kammer über die Prozesskostenhilfe vom 11. Mai 2023 unter dem hiesigen Aktenzeichen <Az.>).

B. Der angegriffene Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in eigenen Rechten.

I. Gemäß § 43 Abs. 1 Nr. 1 SGB II kann der Beklagte gegen die Ansprüche des Klägers zur Sicherung des Lebensunterhalts aufrechnen, denn dem Beklagten stehen bestandskräftig festgestellte Erstattungsansprüche gegen den Kläger gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 50 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) zu, die ihrerseits auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 SGB X und nicht auf Nr. 3 der Vorschrift beruhten. Dass der Beklagte hier aufgrund eines offensichtlichen Schreibfehlers § 43 Abs. 1 Nr. 4 SGB II zitiert, ist ohne Bedeutung

II. Die Aufrechnung ist dem Kläger gegenüber nach der vorherigen Anhörung (§ 24 Abs. 1 SGB X) auch schriftlich durch Verwaltungsakt nach § 43 Abs. 4 Satz 1 SGB II erklärt worden. Dass die Aufrechnungserklärung nicht mit einem Enddatum versehen wurde, ist unschädlich, da die in § 43 Abs. 4 Satz 2 SGB II vorgesehene Höchstaufrechnungsdauer auch ohne deklaratorische Wiedergabe im schriftlichen Verwaltungsakt maßgeblich ist (vgl. BSG, Urteil vom 9. März 2016, B 14 AS 20/15 R, juris).

III. Auch das Ermessen ist vom Beklagten jedenfalls im Widerspruchsbescheid pflichtgemäß ausgeübt worden, wobei dies bis zum Abschluss des Vorverfahrens infolge der Prüfung der Recht- und Zweckmäßigkeit (§ 78 Abs. 1 Satz 1 SGG) auch möglich war. Das dem Beklagten durch § 43 SGB II eingeräumte Entschließungsermessen, ob er aufrechnet, ist nach § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG gerichtlich dann nur eingeschränkt darauf zu prüfen, ob er sein Ermessen überhaupt ausgeübt, ob er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder ob er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat, § 39 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil –.

Hier hat der Beklagte sein Ermessen mit rechtmäßigen Erwägungen ausgeübt, wobei auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid verwiesen wird. Weitere Gesichtspunkte, die gerade im Falle des Klägers im Sinne einer Ermessensreduzierung dazu zwingen könnten, von der Durchführung einer Aufrechnung abzusehen, sind nicht ersichtlich.

1. Insbesondere folgt kein Ermessensfehler aus der vorgetragenen Unterdeckung von 20 % infolge der – gerichtlich noch nicht beurteilten – Annahme einer Bedarfsgemeinschaft mit den Eltern bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres des Klägers (vgl. hierzu die beim erkennenden Gericht anhängigen Verfahren mit den Az. S 13 AS 667 und 968/22). Dabei kann offenbleiben, ob sich die Behörde hinsichtlich der maßgeblichen Regelbedarfsstufe bis zur gerichtlichen Klärung auf ihre Rechtsauffassung zurückziehen kann oder ob es infolge der Vollendung des 25. Lebensjahres vor Erlass des Widerspruchsbescheids und der vom Beklagten beachteten aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs hierauf überhaupt noch ankam. Denn der Beklagte ist einer etwaigen Unterdeckung schon mit der Begrenzung der Aufrechnung auf zehn Prozent statt der nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB X möglichen 30 % begegnet. Diese Begrenzung zugunsten des Betroffenen hält die Kammer im Rahmen der Ermessensausübung für zulässig. Zwar ist die Höhe der Aufrechnung an sich nicht ins Ermessen der Behörde gestellt (BSG, Urteil vom 9. März 2016, B 14 AS 20/15 R, juris). Hieraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass das Jobcenter gänzlich von der Aufrechnung absehen muss, wenn es der Auffassung ist, nicht die volle Aufrechnungsmöglichkeit ausschöpfen zu können. Die Möglichkeit der Differenzierung ist vielmehr im Gesetz in § 43 Abs. 3 Satz 2 SGB II angelegt, sodass der Grundsicherungsträger außerhalb des direkten Anwendungsbereichs der Vorschrift in atypischen Fällen auch einen geringeren Aufrechnungsbetrag ansetzen kann.

2. Auch der Hinweis auf die Unterhaltsverpflichtungen des Klägers geht ins Leere. Denn er hat zum einen bereits vor der Aufrechnungserklärung und jedenfalls bis zum 1. Januar 2023 keinen Unterhalt geleistet (vgl. die Feststellungen in dem gegen den Kläger ergangenen Versäumnisbeschluss des Amtsgerichts Heilbad Heiligenstadt <AG> vom 5. Januar 2023, 2 F 303/22, unveröffentlicht), sodass der Beklagte bei Erlass des Widerspruchsbescheids am 14. September 2022 als maßgeblichem Zeitpunkt auch keine Unterhaltsverpflichtung berücksichtigen musste. Zudem ist Grundlage der Unterhaltsverpflichtung nicht der Bezug von höheren oder niedrigeren SGB II-Leistungen, sondern die gesteigerte Erwerbsobliegenheit des Klägers (AG am angegebenen Ort). Diese würde geradezu konterkariert, wenn sich der Kläger mit dieser Begründung gegen eine Aufrechnung wehren könnte.

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das Unterliegen des Klägers und den Umstand, dass der Beklagte seine Ermessenserwägungen erst im Widerspruchsbescheid erkennbar gemacht hat (Grundsatz der Einheit der Kostenentscheidung unter Würdigung der durch die Klage erledigten Kostenentscheidung im Widerspruchsbescheid <vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2016, B 14 AS 50/15 R, SozR 4-1300 § 63 Nr. 25>).

Die Berufung bedarf nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG der Zulassung. Die abschnittsweise Bewilligung von Leistungen führt zu einer zeitlichen Zäsur, die eine zeitliche Begrenzung des zulässigen Streitgegenstandes bewirkt (Bayerisches Landessozialgericht <LSG>, Urteil vom 15. Juli 2021, L 7 AS 85/20, Randnummer 18, juris). Eine Beschwer von über 750 € wird damit nicht erreicht.

Die Berufung ist indes wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG) der Frage der Aufrechnungshöhe zuzulassen.

Rechtskraft
Aus
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