L 3 SF 230/23 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
3
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 40 R 330/21
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 3 SF 230/23 ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

 

Die Vollstreckung aus dem Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 27.07.2023 wird ausgesetzt.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

 

Gründe

 

I.

 

In der Hautsache streiten die Beteiligten um die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

 

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag der Klägerin vom 26.08.2019 mit Bescheid vom 21.8.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04.02.2021 ab, nachdem die von ihr beauftragte Sachverständige S. in ihrem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 10.07.2020 festgestellt hatte, dass die Klägerin noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten mehr als sechs Stunden arbeitstäglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten könne. Im Klageverfahren hat die nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beauftragte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Q. in ihrem Gutachten vom 15.11.2021 demgegenüber ein Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von nur drei bis knapp sechs Stunden ab Antragstellung festgestellt. Den daraufhin am 02.08.2022 angebotenen Vergleich der Beklagten, ihr Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit vom 01.02.2022 bis 31.07.2023 zu gewähren, wenn sie sich unverzüglich in eine teilstationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Maßnahme begebe, hat die Klägerin nicht angenommen. Die Stadt W. hat in ihrer Arbeitgeberauskunft vom 10.03.2022 angegeben, ihrer Mitarbeiterin, der Klägerin, keinen Teilzeitplatz anbieten zu können. Es gebe weder Nischenarbeitsplätze noch könne der Klägerin wegen ihrer Leistungseinschränkung und Qualifikation ein anderer Arbeitsplatz angeboten werden. Eine weitere Anfrage der Beklagten zu einem Anspruch nach § 165 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) hat die Stadt W. nicht beantwortet.

 

Das Sozialgericht Düsseldorf (SG) hat die Beklagte mit Gerichtsbescheid vom 27.07.2023 verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Weder im Tenor noch in den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, wann der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung eingetreten sein oder ab wann die Rente gewährt werden soll.

 

Gegen den ihr am 04.08.2023 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 08.08.2023 beim LSG eingegangene Berufung der Beklagten. Sie wendet ein, der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts sei nicht nachvollziehbar, der Tenor nicht vollstreckbar. Weder werde der Umfang des Anspruchs noch der Leistungsfall angegeben. Zudem sei die Annahme, dass der Klägerin kein Teilzeitarbeitsplatz zur Verfügung stehe, nicht begründet. Weder habe das SG angesichts der durch die aktuellen Veränderungen des Arbeitsmarkts überholten konkreten Betrachtungsweise des Bundessozialgerichts zur Frage der Verschlossenheit des Arbeitsmarkts bei Teilzeitarbeitsplätzen ermittelt noch sich mit dem Anspruch der schwerbehinderten Klägerin nach § 165 Abs. 5 Satz 3 SGB IX auseinandergesetzt. Daher sei das Urteil aufzuheben, hilfsweise die Sache zur erneuten Entscheidung an das SG zurückzuverweisen.

 

Die Beklagte hat zugleich beantragt, die Vollstreckung aus dem Urteil gemäß § 199 Abs. 2 SGG auszusetzen. Die Klägerin hat sich hierzu nicht geäußert.

 

II.                                                                                                                                  

 

Der statthafte Aussetzungsantrag ist zulässig. Insbesondere ist das Rechtsschutzbedürfnis der Beklagten für den Aussetzungsantrag zu bejahen.

 

Zwar ist der Tenor des Gerichtsbescheids vom 27.07.2023 nicht vollstreckbar. Denn es ist weder aus dem Tenor als solchem noch unter Auslegung desselben unter Heranziehung der halbseitigen Entscheidungsgründe festzustellen, wann ein Leistungsfall angenommen und ab wann für welchen Zeitraum Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährt werden soll. Dennoch wird auch durch einen mangelbehafteten Tenor zunächst - dem gesetzlichen Regelfall gem. § 199 Abs. 1 Satz 1 SGG entsprechend - der Rechtsschein eines vollstreckbaren Urteils gesetzt wird (vgl. zum Rechtsscheins eines nichtigen Verwaltungsaktes Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, Anh. § 54 SGG Rn. 20). Es ist daher nicht auszuschließen, dass sich die Klägerin mit dem Gerichtsbescheid gem. §§ 198 Abs. 1 SGG i.V.m. 724 Abs. 1 und 2 Zivilprozessordnung (ZPO) an den Urkundsbeamten des SG - der nur die formelle, nicht aber die materielle Vollstreckungsfähigkeit prüft (Seibel in: Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Auflage 2024, § 724 ZPO, Rn. 10) - wendet, die Erteilung einer Vollstreckungsklausel und daraus ggf. die Vollstreckung beantragt.

 

Der Aussetzungsantrag ist auch begründet.

 

Gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 SGG kann, wenn ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat, der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen. Bei der Entscheidung über die Aussetzung sind im Rahmen einer Interessen- und Folgenabwägung das Interesse des erstinstanzlich obsiegenden Beteiligten an der Vollstreckung gegenüber dem Interesse des Berufungsführers daran, nicht vor endgültiger Klarstellung der Rechtslage zu leisten, abzuwägen (B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 199 Rz. 8).

 

Diese Abwägung führt im vorliegenden Fall dazu, dass dem Antrag der Beklagten auf Aussetzung der Vollstreckung stattgegeben wird. Denn auch wenn die Klage nach der Sach- und Rechtslage zumindest teilweise Aussicht auf Erfolg hat, kann kein überwiegendes Interesse an der Vollstreckung eines Gerichtsbescheids bejaht werden, dem die Beklagte weder anhand des Tenors noch der Entscheidungsgründe entnehmen kann, auf Grund welchen Leistungsfalls, ab wann und für welchen Zeitraum sie Rente wegen voller Erwerbsminderung gewähren soll.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Rechtskraft
Aus
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