1. Eine hochgradige Sehbehinderung stellt eine schwere spezifische Leistungsbehinderung dar, die die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erfordert.
2. Eine Tätigkeit auf einem spezifisch (seh)behindertengerecht ausgestatteten Arbeitplatz stellt keine Tätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes dar.
3. Solange eine solche Tätigkeit ausgeübt wird und ausgeübt werden kann, besteht (gleichwohl) keine Erwerbsunfähigkeit. Ist eine solche Arbeitsmöglichkeit konkret nicht oder nicht mehr im bisherigen Umfang vorhanden, tritt insoweit Erwerbsminderung ein (im Anschluss an BSG, Urteil vom 24.4.1996 - 5 RJ 56/95 -, juris Rn. 20).
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 13. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.
Die 1992 geborene Klägerin leidet unter einer hereditären Netzhautdystrophie (sog. Stargardt Erkrankung), die erstmals im Jahr 2009 als Verdachtsdiagnose gestellt und durch eine genetische Untersuchung im November 2017 bestätigt wurde. Aufgrund dieser Erkrankung ist die Sehschärfe der Klägerin zwischenzeitlich hochgradig eingeschränkt (im September 2014 Visus rechtes wie linkes Auge 0,05; im Mai 2022 rechtes Auge Visus 0,04, linkes Auge Visus 0,06). Seit dem 24.02.2015 ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 anerkannt und sind die Merkzeichen G, H und RF zuerkannt.
Nach dem Abitur im Juni 2011 absolvierte die Klägerin in der Zeit vom 01.09.2011 bis zum 28.02.2014 erfolgreich eine Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten bei der Gemeinde N1. Das Beschäftigungsverhältnis endete Ende August 2014. Ab September 2014 bis April 2015 bezog die Klägerin Arbeitslosengeld bzw. zeitweise Krankengeld. Am 01.05.2015 nahm sie eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung als Verwaltungsfachangestellte in Vollzeit beim Landratsamt des Landkreises H1 als Sachbearbeiterin im Sozialamt auf. Ab dem 23.05.2016 war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Sie bezog Krankengeld vom 05.07.2016 bis zum 11.05.2017. Wegen der Einzelheiten der zurückgelegten Versicherungszeiten wird auf den Versicherungsverlauf vom 29.08.2019 (BI. 20 SG-Akte) verwiesen.
In der Zeit vom 06.12.2016 bis 31.01.2017 fand unter den Diagnosen mittelgradige depressive Episode, Zwangsstörung mit vorwiegend Zwangshandlungen (Zwangsrituale), sonstige infektiöse Otitis externa und hereditäre Netzhautdystrophie eine stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation in der S1-Klinik R1 statt. Ausweislich des Abschlussberichts der Klinik vom 01.02.2017 habe die Klägerin in Vollzeit an einem für ihre Sehbehinderung ungeeigneten Arbeitsplatz in einem Umfeld, welches kein Verständnis für ihre behinderungsbedingt verminderte Leistungsfähigkeit aufgebracht habe, gearbeitet. Dies habe durch die ständige massive Überlastung zu einer Erschöpfung geführt, die sich in einer ängstlich gefärbten Depression und körperlich wahrgenommenen Konflikten dargestellt habe. Es hätten sich sekundär Kontroll- und Ordnungszwänge eingestellt, als Versuch einer Kompensation ihrer inneren Zerrissenheit. Die Klägerin erhielt eine intensive sozialtherapeutische Therapie. Wesentlicher Gegenstand waren insbesondere die Bewältigung des Schicksals ihrer Erblindung und die diesbezüglich fehlgesteuerte Erwartungs- und Leistungshaltung an sich selbst, welche letztlich zu einer mittelgradigen depressiven Episode geführt hätten. Als Behandlungsergebnis wurden eine Remission der Depression, komplettes Sistieren der Zwangshandlungen, gute Stärkung des Selbstwertgefühls und beginnende Krankheitsakzeptanz bezüglich der starken Visusminderung aufgeführt und als Weiterbehandlung eine Fortsetzung ambulanter Psychotherapie sowie das Aufsuchen einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit Sehbehinderung empfohlen. Aufgrund der noch eingeschränkten Krankheitsakzeptanz wurde eine stufenweise Wiedereingliederung empfohlen. Die Entlassung erfolgte zunächst als arbeitsunfähig.
Nach Durchführung einer stufenweisen Wiedereingliederung auf einem anderen Arbeitsplatz beim Landratsamt H1 (Straßen- und Verkehrsamt) ab März 2017 nahm die Klägerin ab dem 12.05.2017 ihre reguläre Arbeitstätigkeit wieder auf, dies jedoch nach einer Änderung ihres Arbeitsvertrages im Umfang auf 50 Prozent reduziert (Änderungsvertrag zwischen der Klägerin und dem Landkreis H1 vom 04.05.2017).
Am 26.07.2018 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Versichertenrente. Im Antragsvordruck gab sie zur Begründung des Rentenantrags an, sie halte sich „seit Jahren“ wegen „Fundus flavimaculatus, Stargardt Krankheit“ für erwerbsgemindert; die Frage, welche Arbeiten sie ihrer Auffassung noch verrichten könne, beantwortete sie mit „Verwaltungstätigkeiten 3,54 Stunden täglich“. Sie gab in einem Selbsteinschätzungsbogen an, dass sich ihr Augenlicht in den letzten fünf Jahren rapide verschlechtert habe. Da sie mittlerweile auf jedem Auge nur fünf Prozent Sehkraft habe, sei ein Lesen ohne Hilfsmittel nicht mehr möglich. Auch mit Hilfsmitteln könne sie nur ca. vier Stunden lesen; eine zu starke Anstrengung ihrer Augen führe zu Kopfschmerzen, Erschöpfung und oftmals auch Übelkeit. Auf Anraten von Arbeitgeber und Ärzten habe sie ihr Pensum auf 50 Prozent reduziert. Die Teilzeitarbeit beim Landratsamt wolle sie aber beibehalten; ihr Arbeitgeber könne ihren Arbeitsplatz flexibel gestalten und auch auf die Bedürfnisse ihrer Behinderung eingehen. Ihr Arbeitsplatz sei bereits optimiert in Form von neuem Lesegerät, Vergrößerungssoftware, Verdunklungsmöglichkeiten, Anpassung der Lichtverhältnisse an ihre hohe Blendempfindlichkeit und einem höhenverstellbaren Schreibtisch.
Die Beklagte zog ärztliche Befund- und Behandlungsberichte aus dem Departement für Augenheilkunde des Universitätsklinikums T1 (B1, S2) vom 03.09.2018, 22.09.2017, 27.01.2015, 02.11.2011, 07.12.2009 und 19.10.2009 sowie den Befund der Praxis für Humangenetik T1 über eine molekulargenetische Diagnostik vom 27.11.2017 bei. Nach deren Auswertung hielt J1 die Klägerin mit sozialmedizinischer Stellungnahme vom 07.09.2018 aufgrund der bei ihr vorliegenden schweren bis hochgradigen Sehminderung bei Morbus Stargardt (Zapfendystrophie), mittelgradigen depressiven Störung 2015 (remittiert) und muskulär-statischen Rückenbeschwerden fähig, für drei bis unter sechs Stunden im bisher ausgeübten Beruf (bis zum Eintritt der AU am 23.05.2016) und für sechs Stunden und mehr in einer dem Leistungsbild entsprechenden Tätigkeit zu arbeiten. Die sekundären psychosomatischen Beschwerden (Depression, Zwangsstörung, Rückenbeschwerden) hätten sich gut gebessert nach der Rehabilitation bis Januar 2017, die nachfolgende Arbeitszeitreduzierung sei zur Rezidivprophylaxe plausibel. Ein dem Sehvermögen angepasster Arbeitsplatz bestehe.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 13.09.2018 mangels Erfüllung der medizinischen Voraussetzungen ab. Es lägen bei der Klägerin zwar eine schwere bis hochgradige Sehbehinderung beidseits, Morbus Stargardt (Zapfendystrophie), eine mittelgradige depressive Episode (remittiert) und muskulär-statische Rückenbeschwerden vor. Unter Berücksichtigung der sich aus diesen Erkrankungen und Behinderung ergebenden Funktionsstörungen könne die Klägerin jedoch noch mindestens sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein.
Hiergegen erhob die Klägerin am 27.09.2018 Widerspruch und trug zur Begründung vor, dass ihr Arbeitsplatz ihrer Sehbehinderung angepasst worden sei. Aufgrund der erheblichen Beeinträchtigung des Sehvermögens sei es ihr jedoch nicht möglich, ein Konzentrationsvermögen von mehr als ca. 3,5 Stunden aufzubringen. Die Einschätzung von J1, wonach bei weiterer Arbeitsplatzoptimierung von einem vollschichtigen Leistungsvermögen auszugehen sei, sei daher nicht zutreffend. Der Arbeitsplatz sei bereits optimiert, die hochgradige Sehbehinderung jedoch sei durch weitere Maßnahmen nicht auszugleichen. Schon allein die Tatsache, dass ihr die Merkzeichen B, G, H und RF zuerkannt worden seien, dürfte auf eine schwere quantitative Leistungsminderung hinweisen. Im Grunde genommen sei ihre Wegefähigkeit sogar aufgehoben. Trotzdem begehre sie lediglich Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, da sie ihr Restleistungsvermögen in den Arbeitsalltag einbringen wolle.
Mit Bescheid vom 20.02.2019 stellte die Beklagte im Widerspruchsverfahren fest, dass bei der Klägerin seit dem 23.05.2016 eine teilweise Erwerbsminderung auf Dauer vorliege. Es liege sowohl für die bisher ausgeübte Tätigkeit an einem angepassten Arbeitsplatz als Verwaltungsfachangestellte als auch für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ein Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden täglich vor. Eine Rentenzahlung könne jedoch aufgrund des Fehlens der versicherungsrechtlichen Voraussetzung nicht erfolgen, da im Zeitpunkt des Eintritts des Leistungsfalles im Mai 2016 lediglich 57 Monate mit Beitragszeiten belegt und somit die allgemeine Wartezeit von 60 Monaten nicht erfüllt sei. Die Wartezeit sei auch nicht vorzeitig erfüllt, weil die Erwerbsminderung nicht durch einen Arbeitsunfall eingetreten sei (§ 53 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch <SGB VI>) und auch nicht volle Erwerbsminderung im Sinne des § 53 Abs. 2 SGB VI eingetreten sei. Da die Klägerin ihre bisherige Tätigkeit als Verwaltungsangestellte mit ihrer Leistungseinschränkung tatsächlich ausüben könne, liege auch keine volle Erwerbsminderung aufgrund Verschlossenheit des Arbeitsmarktes vor.
Zur Begründung ihres weiter aufrechterhaltenen Widerspruchs führte die Klägerin aus, dass die Beklagte zu Unrecht den 23.05.2016 als Eintritt des Leistungsfalls angenommen habe. Zum damaligen Zeitpunkt sei sie in Vollzeit beim Landkreis H1 beschäftigt gewesen, sei lediglich ab dem 23.05.2016 wegen einer Mobbingsituation arbeitsunfähig erkrankt. Aufgrund einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes (Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Konzentrationsstörungen) sei der Arbeitsvertrag durch Änderungsvertrag vom 04.05.2017 geändert und ab dem 12.05.2017 die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit auf 50 Prozent festgelegt worden. Damit sei dokumentiert, dass ab 12.05.2017 kein vollschichtiges Leistungsvermögen mehr vorgelegen habe. Sie gehe daher davon aus, dass dieser Zeitpunkt als Eintritt des Leistungsfalls anzusehen sei. Außerdem sei erst im September 2017 die Diagnose einer Stargardt Krankheit genetisch gesichert worden; mit dieser Diagnose sei deutlich geworden, dass es zu einer Besserung des Gesundheitszustandes nicht mehr kommen könne. Daraufhin sei sie davon ausgegangen, dass sie nunmehr zumindest teilweise erwerbsgemindert auf Dauer sein würde und habe den entsprechenden Rentenantrag gestellt. Es dürfe also mehr dafür sprechen, den Leistungsfall im Mai 2017 bzw. September 2017 anzunehmen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 05.08.2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Auch nach nochmaliger sozialmedizinischer Überprüfung liege seit dem 23.05.2016 teilweise Erwerbsminderung auf Dauer vor. Die Klägerin sei nur noch in der Lage, Arbeiten im Umfang von drei bis unter sechs Stunden täglich zu verrichten. Dies gelte sowohl für die aktuell ausgeübte Teilzeitbeschäftigung als auch für andere an das Restleistungsvermögen angepasste Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Die Wegefähigkeit sei nicht aufgehoben. Trotz Sehschwäche sei es der Klägerin noch möglich, sich ausreichend zu orientieren, um ihren Beschäftigungsort zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt (23.05.2016) sei die Wartezeit für die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung nicht erfüllt. Ein späterer Leistungsfall insbesondere durch die Verschlechterung der Sehstärke ergebe sich aus den vorliegenden ärztlichen Befunden nicht. Bereits durch den Befundbericht (der Augenklinik) vom Januar 2015 sei eine erhebliche Verschlechterung der Sehkraft mit hinzugekommenen Gesichtsfeldausfällen dokumentiert. Eine wesentliche Befundverschlechterung ergebe sich aus dem Befundbericht der Universitätsklinik T1 vom September 2017 nicht. Die Diagnose selbst sei bereits im Jahr 2009 gestellt worden. Auch im Hinblick auf die depressive Störung sei nach nochmaliger kritischer Würdigung kein späterer Leistungsfall plausibel. Wie sich aus dem Bericht der S1-Klinik R1 vom 01.02.2017 ergebe, sei es nach Aufnahme der Vollzeitbeschäftigung im Jahr 2015 zu einer Überforderung und schließlich im Mai 2016 zu einem Zusammenbruch gekommen. Zu diesem Zeitpunkt sei der Tiefpunkt der psychischen Erkrankung erreicht gewesen. Für eine danach eingetretene Verschlechterung lägen keine Anhaltspunkte vor. Eine ambulante fachpsychiatrische Behandlung erfolge nicht. Eine zeitlich überdauernde quantitative Minderung des Leistungsvermögens sei nicht durch die psychische Erkrankung, sondern nur in Kombination mit der Sehstörung begründet. Es könne auch keine Rente wegen vorzeitiger Erfüllung der Wartezeit gewährt werden, weil keinerlei Hinweise dafür vorlägen, dass die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten sei, durch den die allgemeine Wartezeit nach § 53 Abs. 1 SGB VI vorzeitig erfüllt sei. Eine vorzeitige Wartezeiterfüllung nach § 53 Abs. 2 SGB VI sei ausgeschlossen, weil keine volle, sondern lediglich teilweise Erwerbsminderung vorliege.
Deswegen hat die Klägerin am 20.08.2019 Klage zum Sozialgericht (SG) Heilbronn erhoben. Zu deren Begründung hat sie im Wesentlichen ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt. Erst mit dem Scheitern der Wiedereingliederung ab März 2017 sei eine teilweise Erwerbsminderung anzunehmen. Spätestens im August 2016 seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen jedoch erfüllt gewesen und der Eintritt des Leistungsfalls daher nach dem Scheitern der Wiedereingliederungsmaßnahme auf eine vollschichtige Tätigkeit und Änderung des Arbeitsvertrages auf eine auf 50 Prozent reduzierte Arbeitszeit anzunehmen.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat ihre Entscheidung für rechtmäßig gehalten.
Zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts hat das SG die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen schriftlich befragt sowie bei der AOK ein Vorerkrankungsverzeichnis beigezogen. R2 hat die Diagnosen Sehbehinderung/Stargardt Krankheit, ängstlich-depressives Syndrom und haltungsabhängige Rückenschmerzen mitgeteilt und hinsichtlich der Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit auf die fachärztlichen Kollegen (Augenarzt und Psychotherapeut) verwiesen. B2, hat unter dem 24.10.2019 mitgeteilt, dass sie die Klägerin erstmals im Juli 2016 behandelt habe. Bei der Klägerin sei eine mittelgradige depressive Episode gegeben sowie eine Zwangsstörung mit Zwangshandlungen sowie eine hereditäre Netzhautdystrophie bekannt. Aus psychiatrischer Sicht sei die Klägerin sowohl hinsichtlich ihres ausgeübten Berufs als auch hinsichtlich einer leichten körperlichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in der Lage, eine vollschichtige Tätigkeit auszuüben. Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit bestünden vornehmlich aufgrund der Störungen auf ophthalmologischem, nicht auf psychiatrischem Gebiet. Aus psychiatrischer Sicht sei zu berücksichtigen, dass die emotionale Belastbarkeit, Konzentrationsfähigkeit, Aufnahmefähigkeit und die Stressbelastbarkeit als Folge der emotionalen Störungen zeitweise eingeschränkt seien. G1 hat mit Auskunft vom 02.12.2019 über Behandlungen der Klägerin im Rahmen einer Langzeittherapie seit August 2017 berichtet. Die Klägerin habe an einer mittelgradig ausgeprägten Depression nach Mobbing am Arbeitsplatz gelitten; die Konflikte am Arbeitsplatz hätten sich weitgehend gelegt und der Arbeitgeber sei mit ihrer Arbeit (sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart) sehr zufrieden. Sie sei derzeit für den zuletzt ausgeübten Beruf als Sachbearbeiterin beim Landratsamt als unter sechs Stunden arbeitsfähig zu betrachten. Einschränkungen ergäben sich aus der erforderlichen Anpassung an die Sehbehinderung (Anpassungsstörung) einerseits sowie aus der depressiven Psychodynamik und Krankheitsverarbeitung (mittelschwere Depression) andererseits. Die Gesamtheit der Belastungen sei ihr aktuell nicht zuzumuten. Zu langes Arbeiten am PC sei bekannt dafür, dass Symptome wie Kopfschmerzen oder Brennen der Augen (bis hin zu trockenem Auge mit Juckreiz) und vieles mehr auftreten könnten. Andererseits wisse man um die Bedeutung von Stress als einem wesentlichen Einflussfaktor. Dieser vermöge die Zeit bis zum Auftreten von Symptomen erheblich zu beeinflussen. Die konfliktbeladene Arbeitsplatzsituation habe auf die Klägerin einen großen Einfluss ausgeübt und das subjektiv empfundene Leiden hervorgerufen. Ihr Zustand verändere sich weiter hinsichtlich der psychischen Einflussfaktoren, weshalb die therapeutische Begleitung auch seitens der Reha-Klinik empfohlen worden sei und bis heute fortgesetzt werde. Es sei durchaus vorstellbar, dass die Klägerin zu einem späteren Zeitpunkt wieder einer vollschichtigen Tätigkeit werde nachgehen können. S2 (Augenklinik T1) hat mit Auskunft vom 04.11.2019 mitgeteilt, dass die Klägerin seit 2009 aufgrund einer erblich bedingten Netzhauterkrankung (juvenilen Makuladegeneration, Stargardt Krankheit) dort etwa alle drei Jahre in Behandlung sei, zuletzt am 19.02.2019 zur genetischen Beratung. Die Sehschärfe sei zwischenzeitlich erheblich eingeschränkt (rechts 0,05, links 0,125). Zusätzlich bestehe ein zentraler Gesichtsfeldausfall. Die Erkrankung und deren Auswirkung sei insgesamt schleichend. Eine Therapiemöglichkeit bestehe gegenwärtig nicht. Durch die starke Sehbehinderung sei die Klägerin in der Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz eingeschränkt. Das Lesen und Erkennen von Details sei anstrengend und benötige mehr Zeit sowie starke Vergrößerungshilfsmittel und besondere Beleuchtung. Zu der geminderten Leistungsfähigkeit trage auch die anamnestisch erwähnte Depressionsstörung bei. Der heutige Befund sei im Wesentlichen bereits so im September 2014 dokumentiert. Als Verwaltungsangestellte könne die Klägerin mit entsprechenden vergrößernden Hilfsmitteln arbeiten, wobei sie aufgrund der erschwerten Bedingungen durch die Sehbehinderung eine Reduktion auf 50 Prozent der üblichen Arbeitszeit empfehle. Die Sehbehinderung erlaube, bekannte Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu benutzen. Das Gehen an sich werde durch die Augenkrankheit nicht beeinträchtigt, allerdings sei das selbstständige Gehen nur nach Mobilitätstraining möglich, denn das Risiko für Stolpern, Unfälle und Übersehen von Gegenständen sei nicht unwesentlich.
Die Beklagte hat an ihrer Auffassung festgehalten und die sozialmedizinische Stellungnahme der D1 vom 27.02.2020 vorgelegt. Es müsse darauf hingewiesen werden, dass die Klägerin seit dem 23.05.2016 arbeitsunfähig gewesen sei und ihre berufliche Tätigkeit im Rahmen einer Teilzeitbeschäftigung erst wieder am 11.05.2017 aufgenommen habe. Wenn berücksichtigt werde, dass die behandelnde Psychiaterin der Klägerin auf ihrem Fachgebiet ein sechs Stunden arbeitstägliches Leistungsvermögen bescheinige und auch die behandelnden Augenärzte der Klägerin ein unverändertes Beschwerdebild seit 2014 dokumentierten, müsse davon ausgegangen werden, dass die psychische und physische wechselseitige Verstärkung der Beschwerdesymptomatik auf psychiatrischem und ophthalmologischem Fachgebiet zu der Dekompensation mit Arbeitsunfähigkeit seit dem 12.05.2016 geführt habe und damit der Eintritt der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin als Leistungsfall weiterhin Bestand habe. Wenn G1 nämlich zudem angebe, dass ein Arbeitsplatzkonflikt der Klägerin zu der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin geführt habe und im Weiteren dann ausführe, dass die Konflikte der Klägerin am Arbeitsplatz sich weitgehend gelegt hätten, dann wäre bei einer psychophysischen Dekompensation der Klägerin aufgrund eines Arbeitsplatzkonfliktes ja davon auszugehen, dass sie im Weiteren ihre berufliche Tätigkeit wieder sechs Stunden und mehr arbeitstäglich aufgenommen hätte.
Mit Urteil vom 13.07.2020 hat das SG die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 20.02.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.08.2019 verurteilt, der Klägerin Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung in gesetzlicher Höhe auf Dauer ab dem 26.07.2018 zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klägerin unter Berücksichtigung der im Versicherungsverlauf gespeicherten Pflichtbeitragszeiten die allgemeine Wartezeit von 60 Monaten im August 2016 erreicht habe. Nach Auswertung der vorliegenden ärztlichen Befunde unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gehe die Kammer von einem Leistungsfall im März 2017 aus. Der Auffassung der Beklagten, dass der Leistungsfall bereits im Mai 2016 eingetreten sei, könne sich die Kammer nicht anschließen. Die Klägerin leide an wesentlichen Erkrankungen auf unterschiedlichen Fachgebieten. Es bestehe seit 2014 eine progrediente schwerwiegende degenerative Augenerkrankung beidseits, die zu einer erheblichen Reduzierung der Sehfähigkeit mit Gesichtsfeldausfällen sowie einer erhöhten Blendempfindlichkeit und Farbsinnstörung führe. Wesentliche Einschränkungen ergäben sich beim Lesen und Erkennen von Details. Dies bedeute vermehrte körperliche Anstrengung. Ergänzend habe sich eine psychosomatische Symptomatik eingestellt, welche zum Krankheitshöhepunkt ohne geeignete Behandlung zu einer längeren Arbeitsunfähigkeit seit Mai 2015 geführt habe und die im Dezember 2016/Januar 2017 stationär behandelt worden sei. Ausweislich des Berichts der S1-Klinik und der Auskunft des G1 habe ein krankhaft gesteigertes Erwartungsverhalten an die eigenen Fähigkeiten bestanden, welches zu einer ungesunden Selbstüberschätzung und Überforderung sowie einer mittelgradigen depressiven Episode (u.a. hervorgerufen wegen einer Mobbingsituation) und einer Anpassungsstörung (bedingt durch die eintretende Erblindung) geführt habe. Aus dem Befundbericht der S1-Klinik werde in etlichen Bereichen der psychischen Erkrankung eine wesentliche Besserung der Krankheitsausprägung unter Einleitung einer vielschichtigen Therapie (Verhaltenstherapie sowie medikamentöse Behandlung) dokumentiert. Die Klägerin sei zwar noch als arbeitsunfähig entlassen worden, im Hinblick auf die eingeleitete Therapie sei jedoch von einer hinreichenden Prognose der Wiederherstellung der vollschichtigen Einsatzfähigkeit als Verwaltungsangestellte auszugehen gewesen. Dem nachfolgend habe die Klägerin die begonnene Therapie nach erneuter Arbeitsaufnahme ausgeweitet und im August 2017 eine ambulante Psychotherapie bei G1 begonnen. Anhaltspunkte für ein Krankheitsbild bereits zum Beginn der Akuterkrankung, welches keiner Therapie mehr zugänglich wäre und zu einem dauerhaft reduzierten quantitativen Leistungseinschränkung führe, ergebe sich für die Kammer aus den erhobenen Befunden hingegen nicht (unter Hinweis auf Rechtsprechung zur Rentenrelevanz psychischer Erkrankungen bei weiter bestehenden medikamentösen und therapeutischen Behandlungsoptionen: Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 12.09.1990 - 5 RJ 88/89 - und Urteil vom 29.03.2006 - B 13 RJ 31/05 R -; Bayerisches Landessozialgericht <LSG>, Urteil vom 21.03.2012 - L 19 R 35/08 - und Urteil vom 21.01.2015 - L 19 R 394/10; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.04.2016 - L 5 R 459/15 - Rn. 37, Beschluss vom 14.03.2018 - L 5 R 1863/17 - und Urteil vom 19.02.2020 - L 8 R 2066/18 - jeweils juris). Die Reduzierung der Arbeitszeit sei nach Auffassung des J1 erfolgt, um ein Rezidiv der psychischen Erkrankung durch Überlastung und überhöhtes Anspruchsdenken an die eigenen Fähigkeiten (Stellungnahme vom 07.09.2018) zu vermeiden. J1 führe insofern in seiner vorbenannten schriftlichen sozialmedizinischen Stellungnahme aus, dass die Prognose der Sehbehinderung ungünstig sei und in Zukunft mit Erblindung zu rechnen sei. Bezüglich der sekundären psychosomatischen Beschwerden habe sich aus dem Befundbericht der S1-Klinik eine gut gebesserte Symptomatik gezeigt. Es heiße weiter ausdrücklich in seiner Bewertung: „nachfolgende Arbeitszeitreduzierung zur Rezidivprophylaxe =>aktuelle Tätigkeit 3-6 h arbeitstäglich auf Dauer plausibel". Wie J1 unter Darlegung dieser Begründung zu dem angenommenen Leistungsfall ab dem 23.05.2016 gelange, sei hingegen nicht nachvollziehbar. Ein Abstellen auf den ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit erscheine insbesondere im Hinblick auf die voranstehend zitierte Rechtsprechung zur Rentenrelevanz psychischer Erkrankungen nicht schlüssig. Aus den psychischen Befundberichten ergebe sich gerade, was rentenrechtlich grundsätzlich zu fordern sei. Eine intensive medizinische Behandlung der gesundheitlichen Störung, die ausweislich der Befundberichte erfolgreich gewesen sei und das akute Krankheitsbild wesentlich gebessert habe. Ein Ansatz des Leistungsfalls bereits zum Zeitpunkt der Erstdiagnostik und dem ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit dürfe sich auch im Hinblick auf die gesetzlich geforderte Dauerhaftigkeit der Erkrankung nicht begründen lassen. Daneben führe auch die Tatsache, dass die Wiedereingliederung nicht zu einer Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit in einem zeitlichen Umfang von täglich sechs Stunden durchgeführt worden sei, entgegen der Auffassung der Beklagten nicht zu der unweigerlichen Annahme, dass bereits mit Beginn der Arbeitsunfähigkeit der Leistungsfall anzunehmen ist. Die Klägerin habe in der mündlichen Verhandlung eindrücklich geschildert, dass an der neuen Arbeitsstelle weitere ophthalmologische Maßnahmen zeitnah im Zuge der Wiedereingliederung ergriffen worden seien. Es sei ein vollständig auf die Bedürfnisse der Klägerin abgestimmtes Beleuchtungskonzept und weitere Verdunklungsmöglichkeiten geschaffen worden. Darüber hinaus habe die Klägerin ein Einzelbüro zugewiesen erhalten. Ferner sei die Klägerin vom direkten Kontakt mit dem Bürger abgezogen worden. Diese weiteren Maßnahmen seien nicht nur zur Vermeidung psychischer Überlastungsmomente erfolgt, sondern auch weil sich die Blendempfindlichkeit und die durch das Sehen eintretende körperliche Erschöpfung weiter ausgeprägt habe, was die Klägerin im Zuge ihrer Einlassung im Rahmen der mündlichen Verhandlung anschaulich erläutert habe und ihr aufgrund des Charakters der Augenerkrankung erst bei Wiederaufnahme der Arbeitstätigkeit offenkundig geworden sei. Auf Grundlage der erhobenen Befunde ergebe sich für die Kammer, dass die wesentliche Einschränkung der Klägerin durch die Augenerkrankung bedingt sei, allerdings erst mit Manifestation der sekundären psychischen Erkrankung bei hinreichender Therapie und dem Umstand der im Zuge der Wiedereingliederung zusätzlich erkennbar gewordenen weiter fortgeschrittenen Funktionsstörung im Bereich der ophthalmologischen Wahrnehmungsfähigkeit zu einem reduzierten Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in quantitativer Hinsicht führe. Mithin sei die Kammer davon überzeugt, dass erst im März 2017 die quantitative Minderung nachweislich vorgelegen habe.
Mit Bescheid vom 20.02.2019 habe die Beklagte gegenüber der Klägerin bereits verbindlich festgestellt, dass sie die geminderte Erwerbsfähigkeit auf Dauer annehme. Daher sei entgegen der Regelung des §§ 101, 102 Abs. 2 SGB VI kein Spielraum für die Kammer, eine Rente lediglich befristet auszusprechen. Die Kammer sehe im Bescheid vom 20.02.2019 insofern einen begünstigenden Verwaltungsakt, der gegenüber der Klägerin verbindlich die Minderung der Erwerbsfähigkeit auf Dauer feststelle. Daneben sei anzuführen, dass die Kammer von einer Dauerhaftigkeit der sich bedingenden Krankheiten ebenso wie die Beklagte ausgehe. Die Augenerkrankung werde weiter fortschreiten. Daneben habe die psychische Erkrankung auch unter Therapieausweitung seit August 2017 nicht weiter wesentlich beseitigt bzw. gebessert werden können. Diese sei notwendig, um den gegenwärtigen Status quo hinreichend stabil zu halten. Mithin ergebe sich für die Kammer insbesondere aufgrund der künftig zu erwartenden weiteren Erblindung prognostisch eine dauerhafte Leistungsminderung bei der Klägerin.
Gegen das ihr am 23.07.2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 19.08.2020 Berufung zum LSG Baden-Württemberg eingelegt. Zur Begründung führt sie aus, dass ihrer Auffassung nach und entgegen dem Urteil des SG der Klägerin keine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zustehe. Eine quantitative Minderung der Erwerbsfähigkeit auf drei bis unter sechs Stunden liege bereits ab Beginn der Arbeitsunfähigkeit am 23.05.2016 vor, insoweit verweise sie zur Vermeidung von Wiederholungen auf die sozialmedizinische Stellungnahme von D1 vom 27.02.2020. Soweit die Klägerin (und das SG) die Auffassung verträten, bei der Arbeitsunfähigkeit ab dem 23.05.2016 handele es sich „nur“ um eine akute Arbeitsunfähigkeit infolge einer „Mobbingsituation“, solle wohl insinuiert werden, dass die Ursache der damaligen Arbeitsunfähigkeit vollständig getrennt zu sehen sei von den Ursachen, die zu dem unstrittig – nach klägerseitiger Auffassung allerdings erst deutlich später – eingetretenen Leistungsfall einer teilweisen Erwerbsminderung geführt hätten. Die Wiedereingliederung ab dem 15.03.2017 sei nach eigener Aussage der Klägerin auf einem anderen Arbeitsplatz mit einer für sie im Vergleich zur letzten Tätigkeit geeigneteren Arbeitsumgebung und mit leichter zu bewältigenden Arbeitsinhalten erfolgt. Dennoch habe sie diese Tätigkeit nie in einem zeitlichen Umfang von mehr als vier Stunden täglich ausüben können, was in rentenrechtlicher Hinsicht der unstrittig vorhandenen teilweisen Erwerbsminderung entspreche. Wenn nun aber nach andauernder längerer Arbeitsunfähigkeit die Klägerin eine im Vergleich zum früheren Arbeitsplatz sogar erheblich leichtere Tätigkeit nur noch im Umfang von vier Stunden ausüben könne, sei es nicht nachvollziehbar, weshalb bei einer zeitlich zwischen diesen beiden Tätigkeiten liegenden durchgängigen Arbeitsunfähigkeit die Erwerbsminderung der Klägerin erst während statt spätestens bereits mit Beginn eben dieser Arbeitsunfähigkeit eingetreten sein solle. Zu diesem Zeitpunkt (23.05.2016) lägen jedoch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht vor, weil die Klägerin die Mindestversicherungszeit (auch allgemeine Wartezeit genannt) von fünf Jahren (oder 60 Monaten) nicht erfüllt habe. Das Versicherungskonto der Klägerin enthalte bis zum 23.05.2016 statt der erforderlichen 60 Monate nur 57 Monate. Die Mindestversicherungszeit sei auch nicht vorzeitig erfüllt. Die Erwerbsminderung sei nicht durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit eingetreten (§ 53 Abs. 1 SGB VI). Bei einem Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden liege teilweise Erwerbsminderung vor (und damit keine volle Erwerbsminderung), so dass die Mindestversicherungszeit auch nicht vorzeitig nach § 53 Abs. 2 SGB VI erfüllt sei. Darüber hinaus hätte das SG bei dem von ihm angenommenen Eintritt der Erwerbsminderung im März 2017 den Rentenbeginn zum 01.07.2018 festlegen müssen, da der Antrag vom 26.07.2018 außerhalb des maßgeblichen Zeitraums von drei Kalendermonaten (01.04.2017 bis 30.06.2017) gestellt worden sei (§ 99 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB VI).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 13. Juli 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und verweist zur Begründung auf ihren bisherigen Vortrag. Zu dem von der Beklagten als Leistungsfall zugrunde gelegten Zeitpunkt 23.05.2016 sei sie nur akut arbeitsunfähig als Folge der Mobbingsituation am Arbeitsplatz gewesen. Für die sozialmedizinische Einschätzung der Frau D1 in der von der Beklagten angeführten Stellungnahme vom 27.02.2020 gebe es keine Anhaltspunkte. Es gehe nicht um die Arbeitsunfähigkeit (infolge der Mobbingsituation) ab Mai 2016, sondern um den Eintritt der teilweisen Erwerbsminderung, die mit der fortgeschrittenen Funktionsstörung im Bereich der ophtalmologischen Wahrnehmungsfähigkeit mit der Wiedereingliederung im März 2017 eingetreten sei. Die Klägerin habe in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass an der neuen Arbeitsstelle weitere ophtalmologische Maßnahmen im Zuge der Wiedereingliederung ergriffen worden seien. Diese weiteren Maßnahmen seien nicht nur zur Vermeidung psychischer Überlastungsmomente erfolgt, sondern auch, weil sich die Blendempfindlichkeit und die durch das Sehen eintretende körperliche Erschöpfung weiter ausgeprägt hätten. Dass es sich um eine progrediente Erkrankung handele und sich die Beschwerden der Klägerin verschlechtert hätten, sei aufgeklärt und könne nicht ernsthaft bestritten werden. Völlig richtig habe das SG basierend auf diesen Ermittlungsergebnissen festgestellt, dass die quantitative Minderung im März 2017 auf der Manifestation der sekundären psychischen Erkrankung zum einen und zum anderen der zunehmenden Sehstörungen beruht habe. Es gebe keinen plausiblen Grund, den Zeitpunkt der Arbeitsunfähigkeit im Mai 2016 als Leistungsfall heranzuziehen.
Die Berichterstatterin des Senats hat die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den Zeitraum 23.05.2016 bis 11.05.2017 beigezogen. Neben der Diagnose H 52 (Sehstörungen und Blindheit) wird auf psychiatrischem Fachgebiet durchgehend eine nicht näher bezeichnete Zwangsstörung (F 42.9) sowie eine depressive Störung (zunächst i. S. einer anhaltenden depressiven Verstimmung/Dysthymia/F 34.1, später i. S. einer mittelgradigen depressiven Episode) attestiert. Die Berichterstatterin hat ferner am 26.07.2021 einen Erörterungstermin durchgeführt, in dem die Klägerin Gelegenheit hatte, weiter zu ihren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und der Situation am Arbeitsplatz vorzutragen. Hinsichtlich der Angaben der Klägerin in tatsächlicher Hinsicht und der im Rahmen des Erörterungstermins angesprochenen Rechtsfragen wird auf den Inhalt des Protokolls vom 26.07.2021 Bezug genommen.
Nach Vorlage einer weiteren sozialmedizinischen Stellungnahme durch die Beklagte, ausweislich derer H2 auch nach nochmaliger Prüfung an der bisherigen medizinischen Einschätzung festhielt, hat der Senat ein augenfachärztliches Gutachten bei R3 eingeholt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 12.05.2022 bei der Klägerin auf augenärztlichem Fachgebiet folgende Diagnosen gestellt:
Rechtes Auge:
1. hochgradige Sehbehinderung (H54.0), Visus 0,04, bei
2. erblicher Netzhautdystrophie (Zapfen-Stäbchen-Dystrophie) mit Schwund des retinalen Pigmentepithels der Makula und gelblichen Flecken (H35.5)
3. Kurzsichtigkeit (Myopie, H52.1)
4. Stabsichtigkeit (Astigmatismus, H52.2)
Linkes Auge:
5. schwere Sehbehinderung (H54.1), Visus 0,06, bei
6. erblicher Netzhautdystrophie (Zapfen-Stäbchen-Dystrophie) mit Schwund des retinalen Pigmentepithels der Makula und gelblichen Flecken (H35.5)
7. Kurzsichtigkeit (Myopie, H52.1)
8. Stabsichtigkeit (Astigmatismus, H52.2)
Als wesentliche Funktionseinschränkung komme es beim M. Stargardt zu einer zunehmenden Sehschärfeminderung, bis eine Sehschärfe im Bereich um 0,04 bis 0,1 erreicht werde. Allerdings sei für diese Erkrankung typisch, dass bereits bei einer noch recht guten Sehschärfe aufgrund von Fixationsverlagerungen erhebliche Leseschwierigkeiten bestünden, auch da die Schädigung der Netzhaut zu kleinen parazentralen Ausfällen führe. Die von der Klägerin jetzt seit 2017 angegebene deutlich erhöhte Blendungsempfindlichkeit sei hingegen weder für einen M. Stargardt noch für eine Zapfen-Stäbchen-Dystrophie typisch, sondern ein klassisches Symptom einer Zapfendystrophie. Allerdings habe er bei der jetzigen Untersuchung weder bei der Sehschärfeprüfung noch bei den weiteren Untersuchungen eine auffallende Blendungsempfindlichkeit feststellen können. Grundsätzlich sei eine solche auch durch geeignete Arbeitsbedingungen gut zu beherrschen und die wesentliche Einschränkung beruhe auf der Lesefähigkeit. Diese wiederum sei von Blendung weitgehend unabhängig, sondern hänge im Wesentlichen vom notwendigen Vergrößerungsbedarf ab. Es sei davon auszugehen, dass bereits 2014 (unter Verweis auf die Untersuchungsergebnisse in der Augenklinik in T1 vom 05.09.2014 - Visus rechts und links 0,05 - und vom 08.09.2017 - Visus rechts 0,05 -, Visus links 0,125) eine Sehminderung vorgelegen habe, die dann für lange Zeit recht stabil gewesen sei. Erst mit der jetzigen Untersuchung werde nunmehr eine nochmals weitere Reduktion dokumentiert. Die Klägerin komme mit den vorhandenen Hilfsmitteln am Arbeitsplatz unverändert zurecht, als wesentliche Einschränkung werde die erhebliche Blendung angegeben. Die bei der Klägerin bestehende hochgradige Minderung der Sehschärfe führe zu Einschränkungen bei allen Tätigkeiten mit Anforderungen an das Sehvermögen. Hierbei sei grundsätzlich zunächst die Lesefähigkeit eingeschränkt. Daneben könnten aber auch ganz wesentliche Einschränkungen der Orientierung bzw. der Wegefähigkeit eintreten. Tätigkeiten ohne besondere Anforderungen an das Sehvermögen könnten ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit grundsätzlich vollschichtig, d.h. für mindestens sechs Stunden, ausgeübt werden. Zu vermeiden seien Tätigkeiten mit Sturzgefahr, d. h. Arbeiten auf Leitern oder Gerüsten sowie Arbeiten mit höheren Anforderungen an das Sehvermögen. Die Klägerin sei bereits mit einem sehbehindertenspezifischen Arbeitsplatz ausgestattet und übe einen Beruf mit Bildschirmtätigkeit aus. Dies sei für die vorhandene Sehbehinderung als sehr geeignet einzustufen. Eine gesundheitliche Gefährdung durch eine mindestens sechsstündige Tätigkeit bestehe dabei nicht, auch nicht im Sinne einer Überlastung. Weder zu einem früheren Zeitpunkt noch jetzt sei von einer zeitlichen Leistungseinschränkung auszugehen. Soweit B1 und S2 in der Stellungnahme vom 04.11.2019 eine Reduktion auf 50 Prozent der üblichen Arbeitszeit empfohlen hätten, sei zwar zutreffend, dass bei Vorliegen einer ausgeprägten Sehbehinderung mit einem mehr als sechsfachen Vergrößerungsbedarf selbst bei der ausreichenden Versorgung mit vergrößernden Sehhilfen die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit anstrengender sei als für eine normal sehende Person. Hieraus lasse sich allerdings nicht ableiten, dass eine solche Tätigkeit nicht mindestens sechs Stunden täglich ausgeübt werden könne. Die u.U. reduzierte Arbeitsgeschwindigkeit sei hier nicht der Maßstab einer Begrenzung der Arbeitszeit. Soweit G1 in seiner Stellungnahme vom 02.12.2019 zu dem Ergebnis komme, dass die Klägerin in dem Beruf als Sachbearbeiterin nur weniger als sechs Stunden täglich arbeiten könne, führe er diese Einschränkung auf eine Anpassungsstörung sowie mittelschwere Depression zurück, mithin nicht auf die vorliegende Sehbehinderung selbst. Der von ihm (fachfremd) geäußerten Annahme, dass zu langes Arbeiten am PC dafür bekannt sei, Symptome wie Kopfschmerzen oder Brennen der Augen zu verursachen, sei deutlich zu widersprechen. Angesichts der dokumentierten Sehschärfeentwicklung sei davon auszugehen, dass das Sehvermögen sich zwischen 2014 und 2018 nicht wesentlich geändert habe und bereits 2011 mit einer Sehschärfe von 0,16 und 0,12 in einen Bereich reduziert gewesen sei, der einen deutlichen Vergrößerungsbedarf zur Folge gehabt habe. Augenärztlich sehe er keinen Hinweis für eine wesentliche Verschlechterung im Jahr 2017; die angenommene teilweise Erwerbsunfähigkeit sei wie dargelegt augenärztlich nicht hinreichend begründet. Demgegenüber sei die Frage der Wegefähigkeit ein wesentlicher Parameter, der dann allerdings ebenfalls bereits seit 2014 wesentlich eingeschränkt gewesen sei. Die Wegefähigkeit sei angesichts der seit Jahren bestehenden schweren Sehminderung und besonders der aktuell vorliegenden Sehbehinderung wesentlich eingeschränkt. Dennoch halte er grundsätzlich die Absolvierung einer Wegstrecke von täglich mehrmals 500 m zu Fuß für möglich. Bezüglich der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel bestünden jedoch deutliche Einschränkungen. Bereits bei einem GdB von 70 stünden die Merkzeichen B und G zu, d.h. es bestehe aufgrund der Gefährdung u.a. auch ein Anspruch auf eine Begleitperson im öffentlichen Personennahverkehr. Insofern erscheine eine selbstständige Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel kritisch. Passend hierzu gebe die Klägerin auch an, keine öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen und aktuell von ihrer Tante zur Arbeitsstelle mitgenommen zu werden.
Gegen das Gutachten hat die Klägerin dahingehend Einwände erhoben, dass R3 die erhebliche Blendempfindlichkeit verkannt habe, die sich 2017 nochmals erheblich verschlechtert habe und hierzu ergänzend eine Bescheinigung von S2, Universitätsklinikum T1, vom 25.07.2022 vorgelegt, wonach mit durch die starke Blendempfindlichkeit das Wahrnehmen von Kontrasten zusätzlich erschwert sei. Die Klägerin hat weiter die Auffassung vertreten, dass die teilweise Erwerbsminderung im Anschluss an die Wiedereingliederung im Jahr 2017, einhergehend mit der sich verstärkenden Blendempfindlichkeit und der Manifestation der sekundären psychischen Erkrankung eingetreten sei. Die Beklagte hat unter Vorlage einer weiteren sozialmedizinischen Stellungnahme von H2 vom 20.09.2022 an ihrer bisherigen Einschätzung festgehalten.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das angefochtene Urteil des SG ist rechtmäßig, weil der Klägerin gegenüber der Beklagten der vom SG zuerkannte Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zusteht. Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 13.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.08.2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Anspruchsgrundlage für die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung ist § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI. Danach haben Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).
Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung haben Versicherte gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit (§ 50 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI) erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI.
Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens drei bis unter sechs Stunden erwerbstätig sein kann, der Teilzeitarbeitsmarkt aber verschlossen ist (Gürtner in KassKomm, Stand 118. EL März 2022, SGB VI, § 43 Rn. 58 und 30 ff.).
Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist generell nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Gemessen an diesen gesetzlichen Maßstäben ist das Urteil des SG im Ergebnis nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten Anspruch auf Gewährung von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.
Zunächst haben sowohl die Beklagte im angefochtenen Bescheid und Widerspruchsbescheid als auch das SG im angefochtenen Urteil zutreffend zugrunde gelegt, dass die Klägerin unter Berücksichtigung der im Versicherungsverlauf gespeicherten Pflichtbeitragszeiten die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren / 60 Monaten im August 2016 erreicht hat. Insoweit wird, insbesondere hinsichtlich der zu berücksichtigenden Beitragszeiten, auf die zutreffenden Ausführungen im Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 05.08.2019 Bezug genommen.
Zwar ist die Klägerin nach der Überzeugung des Senats unter Berücksichtigung der bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen noch im Stande, berufliche Tätigkeiten, insbesondere eine solche als Verwaltungsangestellte auf einem behindertengerecht eingerichteten Arbeitsplatz wie die von ihr aktuell ausgeübte mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Ein Absinken ihrer geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit auf ein Leistungsvermögen auf drei bis unter sechs Stunden täglich lässt sich zur Überzeugung des Senats zu keinem Zeitpunkt belegen, und war weder im Mai 2016 (wie die Beklagte meint) noch im März 2017 (wie vom SG angenommen) noch im Mai 2017 (wie von der Klägerin angeführt). Jedoch ist sie infolge ihrer Sehschwäche nicht in der Lage, Tätigkeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Dies ergibt sich im Wesentlichen aus der Gesamtwürdigung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen, insbesondere unter Berücksichtigung des Gutachtens R3 vom 12.05.2022.
Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin liegen auf augenärztlichem und auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet. Sie führen zur Notwendigkeit der Berücksichtigung sogenannter qualitativer Einschränkungen, rechtfertigen jedoch nicht die Annahme, der Klägerin könnten deswegen nicht noch leidensgerechte Tätigkeiten auf einem angepassten Arbeitsplatz wenigstens sechs Stunden am Tag im Rahmen einer Fünftagewoche zugemutet werden.
Auf augenärztlichem Fachgebiet leidet die Klägerin an folgenden Gesundheitsbeeinträchtigungen: Hochgradige (rechtes Auge: Visus 0,04) bzw. schwere (linkes Auge: Visus 0,06) Sehbehinderung bei erblicher Netzhautdystrophie (Zapfen-Stäbchen Dystrophie) mit Schwund des retinalen Pigmentepithels der Makula und gelblichen Flecken, Kurzsichtigkeit und Stabsichtigkeit. Das folgt aus den Befund- und Behandlungsberichten der behandelnden Ärzte der Klägerin in der Universitätsaugenklinik T1 (B1, S2) ebenso wie aus dem vom Senat eingeholten Gutachten des R3 vom 12.05.2022. Die hochgradige Minderung der Sehschärfe führt - wie R3 in seinem Gutachten nachvollziehbar dargelegt hat -, zu qualitativen Leistungseinschränkungen, insbesondere zu Einschränkungen der Lesefähigkeit; zu vermeiden sind Arbeiten mit Anforderungen an das Sehvermögen, also Tätigkeiten mit Sturzgefahr, auf Leitern und Gerüsten. Grundsätzlich (bei Berücksichtigung der Sehbehinderung) wären auch körperliche Arbeiten, in gleichförmiger Körperhaltung (dauerndes Stehen oder Sitzen), Schicht- und Nachtarbeiten denkbar. Die von der Klägerin ausgeübte Bildschirmtätigkeit unter Zuhilfenahme technischer Unterstützung hält der Sachverständige für den Senat überzeugend für geeignet. Das Vorliegen der genannten Gesundheitsbeeinträchtigungen sowie die hieraus resultierenden qualitativen Leistungsbeeinträchtigungen sind zwischen den Beteiligten auch unstreitig und wurde R3 nach Untersuchung der Klägerin und Auswertung der in den Akten enthaltenen medizinischen Unterlagen überzeugend bestätigt, so dass sich weitere Ausführungen des Senats hierzu erübrigen.
Auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bestand eine (zwischenzeitlich remittierte) mittelgradige Depression und Zwangsstörung. Das folgt sowohl aus dem ausführlichen Bericht über die stationäre Rehabilitationsmaßnahme als auch aus den Angaben der behandelnden Ärzte: So hat B2 angegeben, im Rahmen ihrer Behandlungen seit Sommer 2016 habe sie eine mittelgradige depressive Episode sowie eine Zwangsstörung mit Zwangshandlungen diagnostiziert (Auskunft vom 24.10.2019). Dies steht im Einklang mit den Angaben des G1 (Auskunft vom 02.12.2019), wonach die Klägerin an einer mittelgradig ausgeprägten Depression nach Mobbing am Arbeitsplatz und nunmehr noch an einer Anpassungsstörung leidet. Hieraus resultieren nachvollziehbar qualitative Einschränkungen hinsichtlich der emotionalen Belastbarkeit, Konzentrationsfähigkeit, Aufnahmefähigkeit und Stressbelastbarkeit der Klägerin. Hierauf hat insbesondere B2 für den Senat nachvollziehbar hingewiesen.
Die bei der Klägerin bestehende Sehbehinderung führt für sich genommen nicht zu einer zeitlichen Einschränkung ihrer Leistungsfähigkeit. R3 hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass die zumutbaren Arbeiten arbeitstäglich mindestens sechs Stunden verrichtet werden können; eine gesundheitliche Gefährdung besteht insoweit nicht, auch nicht im Sinne einer Überlastung. Die von der Klägerin als besonders belastend und anstrengend empfundene Blendempfindlichkeit konnte R3 bei seinen Untersuchungen nicht objektivieren. Selbst wenn man mit den behandelnden Ärzten B3 und S2 das Vorliegen einer starken Blendempfindlichkeit annimmt, die das Wahrnehmen von Kontrasten zusätzlich erschwert (vgl. das von der Klägerin noch vorgelegte Attest vom 25.07.2022), folgt hieraus keine Leistungseinschränkung in zeitlicher Hinsicht. Denn R3 hat für den Senat überzeugend darauf hingewiesen, dass insoweit zwar die von der Klägerin ausgeübte Tätigkeit für sie wegen der ausgeprägten Sehbehinderung mit einem mehr als sechsfachen Vergrößerungsbedarf selbst bei der ausreichenden Versorgung mit vergrößernden Sehhilfen anstrengender sei als für eine normal sehende Person. Hieraus folge eine u.U. reduzierte Arbeitsgeschwindigkeit, nicht jedoch eine Begrenzung der Arbeitszeit. Auch der Senat vermag unter Berücksichtigung der dargelegten an die Sehbehinderung angepassten Arbeitsbedingungen (auch durch zusätzliche Verdunkelungsmöglichkeiten, eine spezielle Beleuchtung und Software zur Verbesserung der Kontraste an die Blendempfindlichkeit) nicht abzuleiten, dass eine solche Tätigkeit nicht mindestens sechs Stunden täglich ausgeübt werden kann.
Auch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet rechtfertigen - und zwar weder für sich genommen noch in der Kombination mit den Auswirkungen der Sehminderung - keine Leistungseinschränkung in zeitlicher Hinsicht: Aus der Rehabilitationsmaßnahme in der S1-Klinik wurde die Klägerin zwar noch arbeitsunfähig, aber mit der Perspektive entlassen, nach Durchführung einer Wiedereingliederung ihre bisherige (vollschichtige) Tätigkeit als Verwaltungsangestellte wieder aufzunehmen. B2 hat auf Befragung durch das SG die Klägerin für in der Lage gesehen, ihren Beruf ebenso wie leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig auszuüben. Soweit die für die Beklagte sozialmedizinisch Stellung nehmenden Ärzte und der behandelnde G1 eine Begrenzung der Leistungsfähigkeit auf drei bis unter sechs Stunden annehmen möchten, vermag der Senat dies für keinen Zeitpunkt nachzuvollziehen: G1 hat in seiner Auskunft ausdrücklich in der Vergangenheitsform gesprochen. Die Klägerin habe an einer mittelgradig ausgeprägten Depression nach Mobbing am Arbeitsplatz gelitten; die konfliktbeladene Arbeitsplatzsituation habe auf die Klägerin einen großen Einfluss ausgeübt und das subjektiv empfundene Leiden hervorgerufen. Diese Konflikte am Arbeitsplatz haben sich zwischenzeitlich sowohl nach den Angaben der Klägerin selbst als auch nach denen von G1 weitgehend gelegt und der Arbeitgeber ist mit ihrer Arbeit (sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart) sehr zufrieden. Ist die depressive Episode - wiewohl nach längerer Zeit der Arbeitsunfähigkeit und ärztlichen Behandlung - sowohl nach den Angaben der behandelnden Ärzte in der S1-Klinik als auch nach denen der behandelnden Ärzte B2 und G1 remittiert, vermag die (insbesondere von G1 noch gesehene) Anpassungsstörung zwar die genannten Leistungseinschränkungen in qualitativer Hinsicht, nicht jedoch solche in zeitlicher Hinsicht zu rechtfertigen. Die sowohl von B2 als auch von G1 angegebene verminderte Stressbelastbarkeit rechtfertigt die Annahme von Einschränkungen in qualitativer Hinsicht, nicht jedoch solche zeitlicher Art. Insbesondere R3 hat nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass die von G1 weiter herangezogene Begründung hinsichtlich des Auftretens von Symptomen wie Kopfschmerzen oder Brennen der Augen bei längerer Bildschirmtätigkeit fachfremd erfolgt ist und im Fall der Klägerin keine medizinische Grundlage hat. Nachdem bereits zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Rehabilitationsmaßnahme ein weitgehend stabilisierter Zustand erreicht war, die Klägerin die empfohlene Weiterbehandlung auf psychiatrischem und psychotherapeutischem Fachgebiet erfolgreich durchführt, keine weiteren depressiven Episoden aufgetreten sind und die behandelnden Ärzte in der Folgezeit keinerlei Schwankungen dokumentiert haben, vermag der Senat auch den insbesondere von den Sozialmedizinern der Beklagten für die Begründung einer auch zeitlichen Leistungseinschränkung herangezogenen Gesichtspunkt einer Rezidivprophylaxe nicht nachzuvollziehen.
Auch wenn die Klägerin nach dem Vorstehenden zur Überzeugung des Senats (und anders als Beklagte und Klägerin meinen) unter Berücksichtigung der bei ihr bestehenden Gesundheitsbeeinträchtigungen noch im Stande ist, berufliche Tätigkeiten (insbesondere solche wie die von ihr derzeit ausgeübte Tätigkeit als Verwaltungsangestellte) mindestens sechs Stunden je Arbeitstag zu verrichten, ist sie dennoch nicht mehr dazu in der Lage, auch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Die Beklagte ist in dem angefochtenen Bescheid vom 13.09.2019 zu Unrecht davon ausgegangen, die Klägerin könne noch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein. Denn die Klägerin leidet zur Überzeugung des Senats an einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung im Sinne der ständigen Rechtsprechung des BSG.
Zwar kann für den Regelfall davon ausgegangen werden, dass ein Versicherter, der nach seinem verbliebenen Restleistungsvermögen noch körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten (wenn auch mit qualitativen Einschränkungen) täglich mindestens sechs Stunden verrichten kann, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter dessen üblichen Bedingungen erwerbstätig sein kann. Denn dem Versicherten ist es mit diesem Leistungsvermögen in der Regel noch möglich, diejenigen Verrichtungen auszuführen, die in ungelernten Tätigkeiten in der Regel gefordert werden, wie z.B. das Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw. (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. nur Urteile vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R -, juris Rn. 31, vom 09.05.2012 – B 5 R 68/11 R -, juris Rn. 17 ff. und vom 11.12.2019 - B 13 R 7/18 R -, juris, Rn. 28). Nach der Rechtsprechung des BSG liegt eine volle Erwerbsminderung jedoch ausnahmsweise selbst bei einer mindestens sechsstündigen Erwerbsfähigkeit vor, wenn der Arbeitsmarkt wegen besonderer spezifischer Leistungseinschränkungen als verschlossen anzusehen ist. Dem liegt zugrunde, dass eine Verweisung auf die verbliebene Erwerbsfähigkeit nur dann möglich ist, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten (vgl. BSG, Urteil vom 30.11.1983 - 5a RKn 28/82 - juris, Rn. 27 ff. und zuletzt BSG, Urteil vom 11.12.2019 - B 13 R 7/18 R - juris, Rn. 28 ff.). Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 43 SGB VI setzt mithin nicht nur voraus, dass der Versicherte in der Lage ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eine Tätigkeit zur verrichten, sondern darüber hinaus, dass er damit in der Lage ist, „erwerbstätig“ zu sein, d.h. unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ein Erwerbseinkommen zu erzielen. Während der „allgemeine Arbeitsmarkt“ in diesem Sinne jede nur denkbare Tätigkeit, die es auf dem Arbeitsmarkt gibt, umfasst und das Merkmal „allgemein“ lediglich den Arbeitsmarkt von Sonderbereichen, wie beispielsweise Werkstätten für Behinderte und anderen geschützten Einrichtungen abgrenzt, ist unter den „üblichen Bedingungen“ im Sinne des § 43 SGB VI das tatsächliche Geschehen auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben zu verstehen, d.h. unter welchen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt die Entgelterzielung üblicherweise tatsächlich erfolgt. Üblich sind dabei Bedingungen dann, wenn sie nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen anzutreffen sind, sondern in nennenswertem Umfang und in beachtlicher Zahl (BSG, Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 78/09 R -, juris Rn. 27 ff.).
Eine hochgradige Sehbehinderung (zu den Stufen der Sehbeeinträchtigung nach Pape bzw. WHO vgl. Deutsche Rentenversicherung <Hrsg.>, Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, 7. Aufl.2011, S. 470), wie sie bei der Klägerin mit Herabsetzung der Sehkraft auf 0,4 bzw. 0,6 vorliegt, die ihr insbesondere das Lesen extrem erschwert (bzw. ohne Zuhilfenahme spezieller Hilfsmittel unmöglich macht), die auch zu erheblichen Fixationsschwierigkeiten führt und ihre Orientierungsfähigkeit einschränkt, stellt zur Überzeugung des Senats eine solche schwere spezifische Leistungsbehinderung dar, die die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erfordert (ebenso Bayerisches LSG, Urteil vom 06.04.2022 - L 19 R 337/18 -, juris Rn. 116; Sächsisches LSG, Urteil vom 14.08.2017 - L 5 R 336/16 -, juris Rn. 19; LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 28.06.2012 - L 13 R 1810/11 -, juris Rn. 19 und vom 13.06.2006 - L 11 R 5778/04 -, sozialgerichtsbarkeit.de). Eine solche ist nicht ersichtlich. Die gerade genannten einfachen industriellen Tätigkeiten erfordern in der Regel den Umgang auch mit kleinen oder größeren Teilen und setzen deren visuelles Erkennen und eine Grundschnelligkeit voraus, die die Klägerin aufgrund ihres hochgradig eingeschränkten Sehvermögens nicht leisten kann (vgl. hierzu auch LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 29.04.2008 - L 7 R 8/07 -, juris Rn. 35). Die Steuerung und Kontrolle von Arbeitsabläufen mit Hilfe von Maschinen erfolgt in aller Regel über optische Anzeigen, die nur bedingt durch akustische oder taktil erfassbare Hinweise ersetzt bzw. ergänzt werden können. Das Bedienen von Maschinen geht für die Klägerin darüber hinaus regelmäßig mit einem erhöhten Maß an Selbstgefährdung einher; Warnanzeigen, Displays u.ä. sind für sie nicht zu erkennen. Insoweit kann die Klägerin auf derartige Tätigkeiten nicht verwiesen werden (vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.06.2021 - L 13 R 1810/11 -, juris Rn. 22).
Auch in dem von der Klägerin erlernten Beruf der Verwaltungsangestellten kann sie nicht unter den üblichen Bedingungen arbeiten. Zwar kann sie eine Tätigkeit als Verwaltungsangestellte grundsätzlich auch als Sehbehinderte ausüben. Dies ist ihr jedoch nicht unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts möglich, weil sie aufgrund ihrer starken Sehschwäche nicht in der Lage ist, an einem üblicherweise zur Verfügung gestellten Büroarbeitsplatz (ohne sehbehindertengerechte Vorkehrungen) Tätigkeiten zu verrichten. Zwar bietet auch eine übliche Bürosoftware im Rahmen der in diesem Zusammenhang zur Verfügung stehenden Programmfunktionen Vergrößerungsmöglichkeiten (z. B. Schriftvergrößerung in Word). Dies ist allerdings für die Klägerin nicht ausreichend: Sie ist, was auch R3 in seinem Gutachten nochmals bestätigt hat, zwingend auf eine (zwar nicht komplett blindengerechte), aber doch für schwer Sehbehinderte zugeschnittene Ausstattung ihres Arbeitsplatzes angewiesen. So benötigt sie ein spezielles stationäres Lesegerät, spezielle Vergrößerungssoftware mit Möglichkeiten der Kontrastverstärkung und spezielle Beleuchtungs- und Verdunklungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz. Tätigkeiten, die einer derart umfassenden Unterstützung im technischen Bereich, auch eines Entgegenkommens des Arbeitgebers in Form der Rücksichtnahme auf die speziellen Bedürfnisse einer stark sehbehinderten Mitarbeiterin bedürfen, können wie dargelegt nicht mehr unter die Definition der „üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes“ subsumiert werden.
Entsprechendes gilt für die gelegentlich für hochgradig Sehbehinderte bzw. Blinde als Verweisungstätigkeit angeführte Tätigkeit in einem Callcenter (vgl. nochmals LSG Baden-Württemberg, a.a.O. Rn. 23): Auch hier wäre für die regelmäßig neben dem reinen Telefonieren zu verrichtenden Aufgaben, wie die Eingabe von Bestellungen in den Computer, die Sachverhaltsprotokollierung und ggf. Weiterleitung von Aufträgen eine speziell auf die Klägerin als hochgradig Sehbehinderte zugeschnittene Arbeitsplatzausstattung erforderlich, die von der üblichen Ausstattung derartiger Arbeitsplätze abweicht (so auch Deutsche Rentenversicherung <Hrsg.>, Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung, 7. Aufl.2011, S. 472, 482f.: Auf dem von der Rentenversicherung definierten allgemeinen Arbeitsmarkt lassen sich trotz aller Bemühungen für Sehbehinderte nicht immer entsprechend ausgerüstete und falls erforderlich in Teilzeit ausübbare Tätigkeiten finden - für Personen mit hochgradiger Sehbehinderung bzw. Erblindung kann allenfalls noch ein Einsatz als Telefonist oder Phonotypist unter Zuhilfenahme ggf. von Spracherkennungssoftware und Brailleschrift am PC in Betracht gezogen werden; differenzierend LSG Bayerisches LSG, Urteil vom 06.04.2022 - L 19 R 337/18 -, juris Rn. 120: Wenn - anders als im hier vorliegenden Fall - keine technischen Zusatzgeräte erforderlich sind, sondern handelsübliche Monitore und Software ausreichen, kann auf die Tätigkeit eines Telefonisten oder einer Büro-/Verwaltungshilfskraft verwiesen werden).
Nachdem auch die Ausübung einer konkreten Verweisungstätigkeit unter den betriebsüblichen Arbeitsbedingungen möglich sein muss, um Erwerbsunfähigkeit ausschließen zu können (so auch Sächsisches LSG, Urteil vom 14.08.2017 - L 5 R 336/16 -, juris Rn. 22; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.06.2012 - L 13 R 1810/11 -, juris Rn. 24 mit Verweis auf BSG, Urteil vom 28.08.1991 - 13/5 RJ 47/90 -, juris Rn. 26), kommt es auch nicht in Betracht, der Klägerin den von ihr tatsächlich innegehaltenen Arbeitsplatz als Verwaltungsangestellte im Straßenverkehrsamt als Verweisungstätigkeit zu benennen. Die Klägerin – dies hat sie sowohl schriftsätzlich vorgetragen als auch im Erörterungstermin am 26.07.2021 ausführlich beschrieben – hat einen Arbeitsplatz inne, der ihrer schweren Sehbehinderung angepasst ist: Er ist mit speziellem Blendschutz, insbesondere einer kompletten Verdunkelungsmöglichkeit ausgestattet. Die Klägerin verfügt über ein stationäres Lesegerät mit speziellen Möglichkeiten zur Schriftvergrößerung und Kontrastverbesserung und über eine spezielle Vergrößerungssoftware. Damit kommt sie nach ihren Angaben gegenüber dem Sachverständigen R3 gut klar. Sie kann in ihrem Beruf als Verwaltungsangestellte auch als Sehbehinderte tätig sein. Dies ändert jedoch zunächst nichts daran, dass der Klägerin grundsätzlich eine Tätigkeit nicht unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts möglich ist, weil sie aufgrund ihrer Sehschwäche nicht in der Lage ist, an einem üblicherweise zur Verfügung gestellten Arbeitsplatz, also allein mit der normalerweise vorhandenen Bürosoftware und den Vergrößerungsmöglichkeiten „normaler“ Textverarbeitungsprogramme und „normaler“ Arbeitsplatzbeleuchtung Tätigkeiten zu verrichten. Sie benötigt zwar (noch) keine blindenspezifische Ausstattung und Grundausbildung, jedoch ein spezielles stationäres Lesegerät, besondere Vergrößerungssoftware und spezielle Verdunkelungsmöglichkeiten an ihrem Arbeitsplatz. Eine Tätigkeit unter derartigen Bedingungen kann nicht mehr als Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes angesehen werden (so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.06.2012 - L 13 R 1810/11 -, juris Rn. 19, 24: eine hochgradige beidseitige Sehbehinderung mit beidseitigem Zentralskotom stellt eine schwere spezifische Leistungsbehinderung dar; Bayerisches LSG, Urteil vom 06.04.2022 - L 19 R 337/18 -, juris Rn. 120: Eine Tätigkeit unter den Bedingungen einer blindengerechten Ausstattung kann, anders als Computertätigkeiten, für die handelsübliche große Monitore und Software ausreichen, nicht mehr als Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes angesehen werden).
Trotz der bei ihr vorliegenden schweren spezifischen Leistungsminderung war die Klägerin nicht erwerbsgemindert, solange sie einen (Vollzeit-)Arbeitsplatz innehatte bzw. ist teilweise Erwerbsminderung erst zum Zeitpunkt der Reduzierung ihrer Arbeitszeit auf 50 Prozent eingetreten. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist die Erwerbsfähigkeit kein rein medizinischer, sondern ein rechtlicher Begriff. Er erfordert zum einen die Feststellung, was der Versicherte arbeitsmäßig (noch) leisten kann aufgrund der bei ihm naturwissenschaftlich, insbesondere medizinisch ermittelten körperlichen, geistigen und seelischen Fähigkeiten, zum anderen die Bewertung, ob und wie dies Fähigkeiten unter den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt jeweils aktuellen Arbeits- und Produktionsverhältnissen wirtschaftlich verwertbar sind (BSG, Urteil vom 24.04.1996 - 5 RJ 56/95 -, juris Rn. 20). Es gilt der Grundsatz, dass ein Behinderter die ihm verbliebene Erwerbsfähigkeit verwerten, damit Arbeitsentgelt erzielen kann und in den Zeiträumen, in denen für ihn Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden, nicht erwerbsgemindert ist, auch dann, wenn er eine Arbeit, die vom berufskundlichen Typ her dem allgemeinen Arbeitsmarkt bekannt ist und deren Anforderungen er genügt, nur unter Zuhilfenahme spezifischer auf seine individuelle Behinderung zugeschnittener Mittel verrichten kann (vgl. BSG, Urteile vom 25.04.1990 - 5 RJ 68/88 -, juris Rn. 17, vom 21.02.1989 - 5/5b RJ 48/87 -, juris Rn. 20, vom 29.09.1980 - 4 RJ 121/79 -, juris Rn. 18; Gürtner in jurisPK SGB VI, § 43, Rn. 99). Der durch eine solche mittelunterstützte Arbeit erzielte Erfolg des Behinderten einschließlich des dafür gezahlten Entgelts ist als wirtschaftliche Einheit zu betrachten und dem Behinderten ungeteilt zuzurechnen. Solange ein Arbeitsplatz, der unter Verwendung technischer oder personeller Hilfsmittel ausgefüllt werden kann und der damit leidensgerecht ist, zur Verfügung steht und auf diesem Arbeitsplatz Entgelt erzielt wird, ist dieses dem Versicherten in der Form zuzurechnen, dass bei ihm in dem Maße, in dem er Einkommen erzielt, die Erwerbsunfähigkeit entfällt. Sobald die vorgenannte Arbeitsmöglichkeit konkret nicht mehr vorhanden ist, tritt Erwerbsunfähigkeit ein (BSG, a.a.O., juris Rn. 20).
So verhält es sich vorliegend: Die Klägerin hatte seit dem 01.05.2015 eine Vollzeitbeschäftigung und seit dem 12.05.2017 eine Teilzeitbeschäftigung beim Landratsamt H1 inne, ist in die Entgeltgruppe 6 eingruppiert und wurde bzw. wird ausweislich des bei den Akten befindlichen Arbeitsvertrages nach den Bestimmungen des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst (TVöD) sowie weiterer einschlägiger Tarifbestimmungen bezahlt. Anhaltspunkte dafür, dass sie ihre Arbeit nicht entsprechend den Anforderungen des Arbeitgebers vollwertig ausübt bzw. für die Annahme einer rein „vergönnungsweisen“ Beschäftigung bestehen nicht.
Trotz der nach der Überzeugung des Senats bereits seit mindestens 2014 vorliegenden schweren spezifischen Leistungsbeeinträchtigung und fehlender Verweisungsmöglichkeiten war die Klägerin demnach in den Zeiträumen ihrer Vollzeitbeschäftigung nicht erwerbsgemindert. Das gilt auch für den etwa einjährigen Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit seit März 2016, denn auch in diesem Zeitraum bestand das Vollzeitbeschäftigungsverhältnis fort. Teilweise Erwerbsminderung ist allerdings mit der Reduzierung der Arbeitszeit auf eine Teilzeitbeschäftigung eingetreten. Aufgrund der Tatsache, dass die Klägerin seit dem 12.05.2017 nur noch einen leidensgerechten Teilzeitarbeitsplatz mit einem halbschichtigen Arbeitsumfang zur Verfügung hat, erzielt sie ihrer Qualifikation und Arbeitsleistung entsprechendes Einkommen nur noch im Maße dieses Teilzeitarbeitsplatzes. Nur noch in diesem Maße entfällt ihre Erwerbsminderung, im Übrigen ist sie seit dem 12.05.2017 teilweise erwerbsgemindert.
Bei einem Eintritt der (teilweisen) Erwerbsminderung am 12.05.2017 liegen auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vor, insbesondere ist die erforderliche fünfjährige Wartezeit erfüllt. Die von der Klägerin am 26.07.2018 beantragte Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung würde am 01.07.2018 beginnen (§ 99 Abs. 1 S. 1 u. 2 SGB VI). Nachdem jedoch die Klägerin keine Berufung eingelegt hat, bleibt es bei dem vom SG tenorierten Rentenbeginn am 26.07.2018.
Nachdem es nach den Angaben der behandelnden Ärzte in der Augenklinik T1 derzeit keine Therapiemöglichkeit für die Augenerkrankung der Klägerin gibt und es bei ihrem Krankheitsbild nach R3 im Wesentlichen zu einem langsam fortschreitenden Funktionsverlust kommt, der in der Regel in einer wie jetzt vorhandenen Sehschärfe resultiert, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass das SG die der Klägerin zuerkannte Rente nicht befristet hat (§ 102 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision bestehen nicht.