L 11 KR 3124/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11.
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 5 KR 1093/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 3124/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Formvorschriften (hier bzgl. Beitrittserklärung zur freiwilligen Versicherung in der KV) dürfen im Interesse der Rechtssicherheit nicht aus bloßen Billigkeitserwägungen außer Acht gelassen werden. Ausnahmen sind nach der Rechtsprechung anerkannt und zulässig, wenn es nach den Beziehungen der Parteien und den gesamten Umständen mit Treu und Glauben unvereinbar wäre, das Rechtsgeschäft am Formmangel scheitern zu lassen.
2. Dies gilt für Fälle einer besonders schweren Treuepflichtverletzung eines Beteiligten. Eine besonders schwere Treuepflichtverletzung kommt regelmäßig dann in Betracht, wenn eine Partei in schwerwiegender Weise gegen das Verbot des venire contra factum proprium verstoßen hat (vorliegend bejaht).

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 05.10.2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten sind Beiträge zur freiwilligen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung für die Zeit vom 01.04.2018 bis zum 31.12.2018 nebst Säumniszuschlägen streitig.

Der 1975 geborene Kläger ist Staatsangehöriger der Bundesrepublik Deutschland und war bei der Techniker Krankenkasse (TK) vom 01.10.1998 bis 06.08.2001 sowie vom 15.10.2001 bis 31.03.2003 in der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung pflichtversichert und in der Zwischenzeit (07.08.2001 bis 24.10.2001) freiwillig versichert (Bl. 67 der Senatsakten). Er reiste aus der Bundesrepublik Deutschland kommend am 25.02.2008 in die Schweiz ein (Bl. 13 der SG-Akten) und war dort bis zum 31.03.2018 beschäftigt. Er war in der Schweiz vom 01.01.2013 bis zum 31.03.2018 für den Fall der Krankheit/Mutterschaft bei der A1 in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (zuletzt mit einer Jahresprämie von 2.856,00 Schweizer Franken) versichert (Bl. 26 der Verwaltungsakten; Bescheinigung über die Zusammenrechnung der Versicherungs-, Beschäftigungs- oder Wohnzeiten E104, Bl. 106 der Verwaltungsakten). Der Kläger kündigte im März 2019 diese Versicherung rückwirkend zum 31.03.2018. Die A1 bestätigte die Kündigung (Schreiben vom 21.09.2019, Bl. 23 der SG-Akten) und erstattet ihm die zunächst entrichteten Beiträge für April 2018 bis Juni 2019 (Bl. 24 der SG-Akten). 

Am 01.04.2018 nahm der Kläger, der bis November 2019 weiterhin seinen Wohnsitz in der Schweiz hatte, eine Beschäftigung bei der B1 GmbH in S2 auf. Die Arbeitgeberin meldete den Kläger am 27.04.2018 als „nicht krankenversicherungspflichtigen Arbeitnehmer/Übergrenzer/Selbstzahler“ an (vgl. Bl. 113 der Verwaltungsakten; Bl. 57 der Senatsakten). Vereinbart und gezahlt wurde ein Entgelt über der Jahresarbeitsentgeltgrenze. Die Arbeitgeberin erbrachte an den Kläger Beitragszuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung (vgl. Bl. 155, 158, 160 der Verwaltungsakten).   

Am 06.04.2018 unterzeichnete der Kläger eine Mitgliedschaftserklärung bei den Beklagten beginnend ab dem 01.04.2018 (Bl. 15 der SG-Akten). Er gab an, sich bis unmittelbar vor Mitgliedschaftsbeginn im Ausland aufgehalten zu haben. Er sei bis heute in der Schweiz krankenversichert. Die Beklagten erstellten daraufhin eine Mitgliedsbescheinigung für „Arbeitgeber“ (ohne Konkretisierung durch Name oder Anschrift) mit der Aufforderung, den Antragsteller bei Tätigkeitsbeginn zu melden (Bl. 49 der Verwaltungsakten).

Eine weitere Mitgliedschaftserklärung unterschrieb der Kläger am 11.04.2018 (Bl. 25, 50 der Verwaltungsakten). Hierin gab er u.a. an, vor seinem Auslandsaufenthalt zuletzt in Deutschland bei der TK krankenversichert gewesen zu sein.

Unter dem 13.04.2018 bestätigten die Beklagten zwar die Mitgliedschaft, als Anschrift des Klägers war jedoch die Anschrift der Beklagten in S3 angegeben (Bl. 47 der Verwaltungsakten). Außerdem erstellten die Beklagten eine Mitgliedsbescheinigung, adressiert an die B1 GmbH und teilten mit, die Mitgliedschaft beginne am 01.04.2018, wenn die Voraussetzungen erfüllt seien (Bl. 48 der Verwaltungsakten).

Mit Bescheid vom 12.11.2018 (Bl. 27, 44 der Verwaltungsakten; Bl. 9 der SG-Akte) - gerichtet an den Kläger, adressiert an die Anschrift seines Vaters in K1 - teilten die Beklagten dem Kläger mit, dass dieser ab dem 01.04.2018 als freiwilliges Mitglied versichert sei und dass sich der monatliche Beitrag für die Kranken- und Pflegeversicherung auf insgesamt 814,20 € beliefe. Für den Zeitraum vom 01.04.2018 bis 31.10.2018 seien für die Krankenversicherung noch 4.832,10 € und für die Pflegeversicherung 867,30 € offen, insgesamt also 5.699,40 €. Dem Kläger wurde der Bescheid durch seinen Vater ausgehändigt.

Mit Schreiben vom 13.11.2018, wiederum an die Anschrift des Vaters des Klägers adressiert, bat die Beklagte zu 1 um Einreichung eines Fotos für die Erstellung einer elektronischen Gesundheitskarte (Bl. 28 der Verwaltungsakten).

Gegen den Bescheid vom 12.11.2018 erhob der Kläger am 06.12.2018 Widerspruch (Bl. 29 der Verwaltungsakten), mit dem er eine rechtsverbindliche Mitteilung seiner Mitgliedschaft bei den Beklagten ab 01.01.2019 sowie einen Erlass der rückständigen Beiträge für die Zeit vom 01.04.2018 bis 31.12.2018 erreichen wollte (Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 23.01.2019, Bl. 22 der Verwaltungsakten). Er reichte auf dem entsprechenden Formular im Dezember 2018 das angeforderte Foto für die elektronische Gesundheitskarte ein (Bl. 32 der Verwaltungsakten).

Mit Bescheid vom 07.01.2019 setzten die Beklagte den monatlichen Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung ab 01.01.2019 wegen der Senkung des Zusatzbeitrages auf 0,9 % und der Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrages auf 3,05 % auf insgesamt 853,06 € fest (Bl. 34 der Verwaltungsakten). 

Die Beklagten teilten mit Schreiben vom 11.01.2019 u.a. mit, die Mitgliedschaft komme nach § 188 Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) i.V.m. § 9 Abs. 1 Nr. 3 SGB V mit dem Tag der Aufnahme der Beschäftigung des Klägers zustande. Mit Schreiben vom 01.02.2019 übersandten die Beklagten dem Kläger die Gesundheitskarte (Bl. 20 der SG-Akten). 

Unter dem 11.02.2019 (Bl. 17 der Verwaltungsakten) führte der Kläger aus, die Mitgliedschaft richte sich nach § 9 Abs. 1 Nr. 5 SGB V, da er bereits zuvor in Deutschland gearbeitet habe. Sein Wahlrecht gemäß § 173 Abs. 1 SGB V habe er am 11.04.2018 gegenüber den Beklagten schriftlich ausgeübt. Die Beitrittserklärung werde mit Zugang wirksam, wobei unstreitig sei, dass diese den Beklagten zugegangen sei. Fraglich sei lediglich, wann die Beitragserklärung der Versicherung zugegangen sei, wenn sie sieben Monate zur Bearbeitung benötigte. Das Versicherungsverhältnis sei zum 01.04.2018 zustande gekommen. Gemäß § 175 Abs. 2 SGB V hätte die Beklagte zu 1 unverzüglich eine Mitgliedsbescheinigung ausstellen müssen, die er für die Kündigung seiner freiwilligen Versicherung in der Schweiz benötigt habe. Aufgrund der fehlenden Mitgliedsbestätigung habe er - der Kläger - die bestehende Krankenversicherung in der Schweiz nicht kündigen können. Im Ergebnis verhalte es sich so, dass mit dem Zugang der Beitrittserklärung bei der gewählten Krankenkasse bei dieser unmittelbar die Mitgliedschaft und damit das Versicherungs- bzw. Sozialrechtsverhältnis begründet werde. Gern. § 188 Abs. 2 SGB V beginne die Mitgliedschaft der in § 9 Abs. 1 Nr. 5 SGB V genannten Versicherungsberechtigten mit dem Tag der Aufnahme der Beschäftigung, also vorliegend dem 01.04.2018. Die Forderung der Beiträge für die Vergangenheit sei aber verwirkt. Die Beklagten hätten ein schutzwürdiges Vertrauen dadurch begründet, dass das Formular für die Beantragung der elektronischen Gesundheitskarte nicht unverzüglich übersandt worden sei, sondern erst im Anschluss an die Mitgliedsbescheinigung am 13.11.2018. Aufgrund der Tatsache, dass er erst nach dem 13.11.2018 (zufällig) die Möglichkeit erhalten habe, von seinem Recht Gebrauch zu machen, ergebe sich, dass ein Versicherungsbeginn frühestens ab dem Zeitpunkt 13.11.2018 gesehen werden könne. Mangels Übersendung einer Gesundheitskarte sei er davon ausgegangen, dass noch keine Versicherung bei den Beklagten bestand habe, weshalb er auch nicht seine „alte“ Versicherung gekündigt habe. Für die Zeit vom 01.04.2018 bis 31.12.2018 liege eine Doppelversicherung vor, die durch ihn nicht verursacht bzw. verschuldet worden sei. Eine Doppelversicherung sei rechtlich nicht zulässig.

Mit Schreiben vom 21.02.2019 (Bl. 13 der Verwaltungsakten) hielten die Beklagten an der Beitragserhebung für die Zeit ab dem 01.04.2018 fest, stundeten die Forderung jedoch vorübergehend bis 28.02.2019. Ein Erlass komme nicht in Betracht. Es sei auch nicht bekannt, ob die Mitgliedsbescheinigung bei der A1 Krankenversicherung eingereicht worden sei, um den vorrangigen Versicherungsschutz bei den Beklagten zu bestätigen. In der Anlage übermittelten die Beklagten dem Kläger das Formular E104 als Versicherungsnachweis zur Vorlage bei der S4 Krankenkasse (Bl. 14 der Verwaltungsakten).

Am 25.02.2019 zahlte der Kläger die Beiträge mit der ausdrücklichen Zahlungsbestimmung für Januar bis März 2019; die Beiträge für April bis Dezember 2018 erst im Laufe des Jahres 2021.

Das einstweilige Rechtsschutzgesuch des Klägers betreffend die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 12.11.2018 über die Forderung von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung für die Zeit ab dem 01.04.2018 hatte keinen Erfolg (Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 02.05.2019, S 18 KR 1518/19 ER; Beschluss des Senats vom 04.09.2019, L 11 KR 1861/19 ER-B). Der Senat führte u.a. aus, dass nicht abschließend zu beurteilen sei, ob der Kläger für die Zeit ab dem 01.04.2018 die Voraussetzungen einer freiwilligen Mitgliedschaft bei der Beklagten zu 1 in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 9 SGB V erfülle und daher bei der Beklagten zu 2 in der gesetzlichen Pflegeversicherung beitragspflichtiges Mitglied geworden sei. Eine Beitrittsberechtigung nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V bestehe nur, wenn erstmals im Inland eine Beschäftigung aufgenommen worden sei. Dies sei nach den bisherigen Erkenntnissen fraglich, denn der Kläger habe angegeben, bereits in der Bundesrepublik Deutschland gearbeitet zu haben. Eine Beitrittsberechtigung nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V verlange, dass zunächst eine Versicherungspflicht im Inland bestanden habe, die durch eine Beschäftigung im Ausland geendet habe. Mangels näherer Erkenntnisse über das Ende der Versicherungspflicht im Inland bei der TK könne dies ebenfalls nicht abschließend beurteilt werden. Da der Kläger jedoch die Mitgliedschaft bei den Beklagten beantragt und selbst ausführlich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V dargelegt habe, könne er sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht darauf berufen, dass eine Versicherung nicht bestehe. Ob die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V tatsächlich vorlägen, könne im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens geklärt werden. Eine Mitgliedschaft habe gemäß § 188 Abs. 2 Satz 2 SGB V mit dem Tag der Aufnahme der Beschäftigung begonnen, also am 01.04.2018
. Dass der Kläger zum damaligen Zeitpunkt noch über einen anderweitigen Krankenversicherungsschutz verfügt habe, stehe einem wirksamen Beitritt zur freiwilligen Krankenversicherung als solches und damit auch der Beitragspflicht nicht entgegen. Zwar ende die freiwillige Versicherung gemäß § 191 Nr. 2 SGB V mit Beginn einer Pflichtmitgliedschaft, was aufgrund des sich daraus ergebenden Vorrangs einer Pflichtmitgliedschaft vor einer freiwilligen Versicherung zur Folge hätte, dass die freiwillige Versicherung gar nicht zustande gekommen wäre. Die Mitgliedschaft in der A1 begründe jedoch keine Pflichtmitgliedschaft i.S.d. § 191 SGB V, denn dazu zähle nur eine inländische Pflichtversicherung auf der Grundlage von § 5 Abs. 1 SGB V. Die Mitgliedschaft in der A1 könne lediglich ein anderweitiger Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall i.S.v. § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V sein, hindere jedoch den Beitritt zur freiwilligen Versicherung und damit auch die Beitragspflicht nicht. Auch könne nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs von der Erhebung der Beiträge für die Zeit vom 01.04.2018 bis 31.12.2018 abgesehen werden. Das von der Rechtsprechung entwickelte Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs habe zur Voraussetzung, dass der Sozialleistungsträger eine ihm aufgrund Gesetzes oder bestehenden Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung (§§ 15 und 14 Erstes Buch Sozialgesetzbuch <SGB I>) verletzt und dadurch dem Betroffenen einen rechtlichen Nachteil zugefügt habe sowie ferner, dass zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang bestehe (Hinweis auf Bundessozialgericht <BSG> 11.03.2004, B 13 RJ 16/03 R, BSGE 92, 241). Auf der Rechtsfolgenseite müsse durch die Vornahme einer Amtshandlung des Trägers ein Zustand hergestellt werden können, der bestehen würde, wenn die Pflichtverletzung nicht erfolgt wäre (z.B. BSG 06.11.2008, B 1 KR 8/08 R, juris; BSG 28.09.2010, B 1 KR 31/09 R, BSGE 106, 296 = SozR 4-2500 § 50 Nr. 2). Der Herstellungsanspruch könne einen Versicherungsträger somit nur zu einem Tun oder Unterlassen verpflichten, das rechtlich zulässig sei (BSG 12.10.1979, 12 RK 47/77, juris). Voraussetzung sei damit neben der Pflichtverletzung im Sinne einer fehlenden oder unvollständigen bzw. unrichtigen Beratung, dass der dem Versicherten entstandene Nachteil mit verwaltungskonformen Mitteln im Rahmen der gesetzlichen Regelung, also durch eine vom Gesetz vorgesehene zulässige und rechtmäßige Handlung, ausgeglichen werden könne (BSG 11.03.2004, B 13 RJ 16/03 R, BSGE 92, 241). Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch komme grundsätzlich auch bei der Versäumung einer Ausschlussfrist in Betracht (BSG 17.12.1980, 12 RK 34/80, BSGE 51, 89-98 = SozR 2200 § 381 Nr. 44 = juris Rn. 22). Zwar müssten sich die Beklagten entgegenhalten lassen, ohne erkennbaren Grund mehrfach Schreiben an den Kläger fehlerhaft adressiert, ihm nicht unverzüglich eine Mitgliedbescheinigung zugesandt und auch nicht unverzüglich eine Gesundheitskarte ausgestellt zu haben. Dieses Fehlverhalten sei jedoch nicht ursächlich für eine aus Sicht des Klägers fehlerhafte Beitragserhebung für die Zeit vom 01.04.2018 bis 31.12.2018. Diese Beiträge wären auch bei korrektem Verhalten entstanden. Eine eventuell in der Schweiz bestehende Versicherung könnten die Beklagten nicht durch eine eigene Amtshandlung rückgängig machen. Der Einwand der Verwirkung bleibe ebenfalls ohne Erfolg. Die Verwirkung sei als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB>) auch für das Sozialversicherungsrecht und insbesondere für die Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung anerkannt. Die Verwirkung setze als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen habe und weitere besondere Umstände hinzuträten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen ließen. Solche, die Verwirkung auslösenden „besonderen Umstände“ lägen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf habe vertrauen dürfen, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut habe, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet habe (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (BSG 13.11.2012, B 1 KR 24/11 R, BSGE 112, 141-156 = SozR 4-2500 § 275 Nr. 8 = juris Rn. 37 m.w.N.). Ein solches Verwirkungsverhalten liege jedoch nicht vor. Die Beklagten seien nicht tätig geworden. Nichtstun, also Unterlassen, könne ein schutzwürdiges Vertrauen ausnahmsweise dann begründen und zur Verwirkung des Rechts führen, wenn der Schuldner dieses als bewusst und planmäßig erachten dürfe (BSG a.a.O., juris Rn. 39). Hierfür bestünden jedoch keine Anhaltspunkte. Allein der Zeitablauf sei nicht ausreichend.

Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 22.10.2020 widerrief der Kläger den Antrag zur freiwilligen Mitgliedschaft (Bl. 103 der Verwaltungsakten). Zudem kündigte er am 17.12.2020 seine Mitgliedschaft bei den Beklagten zum 28.02.2021 (Kündigungsbestätigung der Beklagten zu 1, Bl. 25 der SG-Akten).

Mit Beitragsrückstandsbescheid vom 02.02.2021 (Bl. 11 der SG-Akten) bezifferten die Beklagten die Beitragsrückstände für die Zeit vom 01.04.2018 bis zum 31.12.2019 bezüglich der Krankenversicherung mit insgesamt 5.469,54 € und bezüglich der Pflegeversicherung mit insgesamt 1.005,20 € zuzüglich Säumniszuschlägen in Höhe von insgesamt 1.666,50 €, mithin insgesamt 8.141,24 €. Gegen den Bescheid vom 02.02.2021 legte der Kläger mit Schreiben vom 16.02.2021 Widerspruch ein.


Die Widerspruchsstelle der Beklagten wies mit gesonderten Widerspruchsbescheiden vom 21.04.2021 zum einen den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 12.11.2018 und zum anderen gegen den Bescheid vom 02.02.2021 als unbegründet zurück (Bl. 51, 96, 117 der Verwaltungsakten). Zur Begründung führten sie u.a. aus: Die Mitgliedschaft bei den Beklagten sei aufgrund der Willenserklärung des Klägers vom 05.04.2018 rechtswirksam zum 01.04.2018 zustande gekommen. Sein Arbeitgeber habe ihn entsprechend seiner Wahlerklärung am 29.04.2018 bei den Beklagten als versicherungsfreien Arbeitnehmer angemeldet. Der Arbeitgeberzuschuss zu seiner freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung sei mit dem laufenden Gehalt ausgezahlt worden. Im Rahmen des über- und zwischenstaatlichen Rechts sei der Kläger mit (alleiniger) Beschäftigungsaufnahme ab 01.04.2018 in Deutschland nach deutschem Sozialversicherungsrecht zu beurteilen. Eine freiwillige Versicherung in Deutschland setze im Unterschied zur Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V u.a. die Zugehörigkeit zu einem versicherungsberechtigten Personenkreis voraus. So müssten bspw. die in § 9 SGB V geforderten Vorversicherungszeiten bei einer gesetzlichen Krankenversicherung erfüllt sein. Diese sei über die S4 Krankenkasse A1 mit dem Formular E104 nachgewiesen. Der Mitgliedsantrag bei den Beklagten sei fristgerecht erfolgt. Somit sei die freiwillige Versicherung aufgrund des § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V i.V.m. VO (EG) 883/04 vom 01.05.2010, die seit 01.04.2012 auch für die Schweiz gelte, rechtswirksam ab 01.04.2018 zustande gekommen. Der Kläger habe den Beitritt nach § 173 Abs. 1 SGB V rechtswirksam erklärt. Fälschlicherweise sei zunächst § 9 Abs. 1 Nr. 3 SGB V (Versicherungsberechtigung wegen erstmaliger Beschäftigungsaufnahme im Inland bei Versicherungsfreiheit nach § 6 Abs.1 Nr. 1 SGB V) als Rechtsgrundlage für die Beitrittsberechtigung genannt worden. Die fehlerhafte Benennung der Rechtsgrundlage habe keine Auswirkungen auf das Zustandekommen der Mitgliedschaft. Eine Doppelversicherung vom 01.04.2018 bis 31.12.2018 habe nicht bestanden. Über das E 104 der S4 Versicherung A1 sei bestätigt, dass die Versicherung in der Schweiz mit Beschäftigungsaufnahme in Deutschland zum 31.03.2018 beendet worden sei. Die Beitragspflicht sei in § 223 SGB V und § 54 Abs. 2 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) geregelt. Beiträge seien demnach für jeden Kalendertag der Mitgliedschaft zu zahlen, soweit es keine abweichenden Bestimmungen im SGB gebe. Die Beitragsfreiheit sei in §§ 223, 224, 225 SGB V und § 56 Abs. 3 SGB XI abschließend geregelt. Die verspätete Zusendung eines Antrags auf eine Versichertenkarte (eGK) begründe keine Beitragsfreiheit. Die Beiträge des Klägers seien nach § 223 Abs. 3 SGB V aus der 2018 geltenden Beitragsbemessungsgrenze zu berechnen. Der Arbeitgeber zahle nach § 257 Abs. 1 Satz 1 SGB V und § 61 Abs. 1 Satz 1 SGB XI einen Beitragszuschuss zur Kranken- und Pflegeversicherung. Die Fälligkeit der Beiträge richte sich nach §§ 23 Abs. 1 Satz 5 SGB IV i.V.m. § 10 Abs. 1 Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler. Die Beiträge würden monatlich erhoben. Fälligkeitstag sei der 15. des Monats für die für den Vormonat zu zahlenden Beiträge. Die Berechnung von Säumniszuschlägen richte sich nach § 24 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IV. Für Beiträge, die nicht bis zum Fälligkeitstag gezahlt seien, sei für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1 % des rückständigen, auf 50,00 € nach unten abgerundeten Beitrages, zu zahlen. Werde eine Beitragsforderung durch Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit festgestellt, sei ein darauf entfallender Säumniszuschlag nicht zu erheben, soweit der Beitragsschuldner glaubhaft mache, dass er unverschuldet keine Kenntnis von der Zahlungspflicht hatte.

Dagegen hat der Kläger am 22.05.2021 Klage zum Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben und die Erstattung der bereits bezahlten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für den Zeitraum 01.04.2018 bis 31.12.2018 nebst Säumniszuschlägen in Höhe von insgesamt 8.141,24 € begehrt. Seine neue Arbeitgeberin habe ihn zunächst bei den Beklagten irrtümlich als versicherungspflichtig Beschäftigten angemeldet. Hierfür habe er am 05.04.2018 eine Mitgliedschaftserklärung unterzeichnet. Diese Anmeldung sei am 27.04.2018 durch die Arbeitgeberin storniert worden, da sein Entgelt oberhalb der Jahresarbeitsentgeltgrenze gelegen habe. Er habe über deren Antragsformular bei der Beklagten zu 1 per E-Mail am 11.04.2018 die Aufnahme in die freiwillige Krankenversicherung beantragt. Danach sei nichts passiert. Er habe weder eine Eingangsbestätigung noch einen Bearbeitungshinweis erhalten. Nachdem auch nach mehreren Wochen keine Rückmeldung der Beklagten erfolgt sei, sei er - der Kläger - davon ausgegangen, dass er sich nicht bei den Beklagten versichern könne und auch nicht versichert sei, weshalb er seine Versicherung in der Schweiz bei der A1 beibehalten habe, um weiterhin krankenversichert zu bleiben. Erstmals im November 2018 hätten die Beklagten die Mitgliedschaft bestätigt und ihn wegen einer Gesundheitskarte angeschrieben.

Der Kläger ist der Auffassung, dass eine Beitragspflicht nicht bestehe. Zwar habe er seit dem 01.04.2018 eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt, er genießt aber gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V Versicherungsfreiheit, da sein regelmäßiges Jahresarbeitsentgelt oberhalb der Jahresarbeitsentgeltgrenze gelegen habe. Auch ergebe sich keine Beitragspflicht aus der Beitrittsanfrage vom 11.04.2018 zur freiwilligen gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Die Beitragspflicht für eine freiwillige Versicherung bestehe nur, wenn er wirksam Mitglied geworden wäre. Er sei aber nicht zum 01.04.2018 wirksam Mitglied in der freiwilligen Versicherung geworden. Es fehle an einer schriftlichen Beitrittserklärung. Er habe zunächst am 05.04.2018 sein Wahlrecht gem. § 175 Abs. 1 SGB V mittels eines vorgefertigten Formulars ausgeübt. Bei dieser Erklärung sei es aber um die Ausübung seines Wahlrechts als ursprünglich falsch eingestufter versicherungspflichtig Beschäftigter gegangen. Eine Mitgliedserklärung als Versicherungsberechtigter zur freiwilligen Versicherung sei nicht schriftlich erfolgt. Er habe am 11.04.2018 lediglich per E-Mail mit einem von der Beklagten zur Verfügung gestellten Formular sein Wahlrecht ausgeübt und erklärt. Dies sei aber lediglich in Textform und nicht wie nach der 2018 geltenden alten Fassung des SGB V gesetzlich vorgegebenen Schriftform. Ferner handele es sich bei dem ausgeübten Wahlrecht nach § 173 Abs. 2 SGB V um eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung, welche nach § 130 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 BGB gegenüber einem anderen abzugeben sei. Ihm - dem Kläger - sei bis zum ersten Schreiben der Beklagten im November 2018 nicht bekannt gewesen, ob diese Erklärung bei den Beklagten auch zugegangen sei oder nicht. Er habe auch keine Mitgliedsbescheinigung gem. § 175 Abs. 2 SGB V erhalten, die seitens der Beklagten hätte unverzüglich ausgestellt werden müssen. Erst sieben Monate später seien die Beklagten tätig geworden und hätten mit Schreiben vom 12.11.2018 die Mitgliedschaft bestätigt. Auch habe er keine Gesundheitskarte erhalten, die immer bei Beginn der Mitgliedschaft ausgegeben werde. Die Zustellung der Gesundheitskarte sei erst im Februar 2019 erfolgt. Aufgrund der Tatsache, dass ihm ‑ dem Kläger - erst nach dem 13.11.2018 die Möglichkeit geboten worden sei, von seinem Recht nach § 15 SGB V Gebrauch zu machen, und er erst mit Antrag auf Aufstellung einer Gesundheitskarte am 21.12.2018 eine schriftliche Erklärung gegenüber der Beklagten zu 1 abgegeben habe, ergebe sich, dass ein Versicherungsbeginn frühestens ab dem Zeitpunkt nach dem 21.12.2018 gesehen werden könne. Er habe keine Leistungen von der Beklagten bezogen und auch nicht beziehen können. 

Weiterhin ist der Kläger der Auffassung, dass die Geltendmachung für die Zeit April 2018 bis November 2018 verwirkt sei. Die Beklagten seien erst sieben Monate nach der Beitrittsanfrage aktiv geworden. Das Unterlassen der Beklagten habe ein schutzwürdiges Vertrauen vorliegend bei ihm begründet, weil das Formular für die Beantragung der elektronischen Gesundheitskarte auch nicht unverzüglich übersandt worden sei. Die im Beitragsrückstandsbescheid ausgewiesenen Beiträge und Säumniszuschläge seien der Höhe nach unstreitig. 

Die Beklagten sind der Klage entgegengetreten.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 05.10.2022 abgewiesen. Der angegriffene Bescheid der Beklagten vom 12.11.2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2021 und der Bescheid vom 02.02.2021 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.04.2021 seien rechtmäßig und verletzten den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger sei Mitglied in der freiwilligen Versicherung geworden. Die Beitragserhebung für den (streitigen) Zeitraum vom 01.04.2018 bis zum 31.12.2018 erfolge daher zu Recht. Die Erhebung von Säumniszuschlägen für die erst verspätet entrichteten Beiträge sei dementsprechend nicht zu beanstanden. Der Kläger sei Mitglied in der freiwilligen Versicherung geworden. Das SG hat zur Begründung auf die Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid vom 21.04.2021 verwiesen. Hierbei sei insbesondere unerheblich, dass zunächst streitig gewesen sei, aufgrund welcher genauen Tatbestandsvoraussetzung die Mitgliedschaft erfolgt sei. Ebenso seien etwaige formale Aspekte (wie die Abgabe einer schriftlichen Mitgliedschaftserklärung und Erhalt einer Mitgliedschaftsbescheinigung) deshalb unbeachtlich, nachdem seitens des Klägers selbst immer wieder das grundsätzliche Bestehen der Versicherung als solches fortlaufend ausdrücklich gewünscht und deren ordnungsgemäße Durchführung angemahnt worden sei. Den in völligem Widerspruch hierzu erst später zum Ausdruck gebrachten Willen, eine rückwirkende Stornierung der freiwilligen Versicherung zum 01.04.2018 bewirken zu wollen, erachte das Gericht aufgrund dieser Widersprüchlichkeit daher für unbeachtlich. Die darüber hinaus auch im Klageverfahren vom Kläger (weiterhin) gerügten Aspekte (wie beispielsweise der verspätete Versand der Gesundheitskarte) seien nicht geeignet, den grundsätzlichen Eintritt der Mitgliedschaft in der freiwilligen Versicherung mit daraus resultierender Beitragspflicht in Frage zu stellen. Dazu hat das SG auf die Begründung im Senatsbeschluss vom 04.09.2019 verwiesen.

Gegen den seiner Bevollmächtigten am 06.10.2022 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich der Kläger mit seiner am 07.11.2022 (Montag) beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufung. Er hat sein Vorbringen wiederholt und vertieft. U.a. hat er vorgebracht, ein wirksames Mitgliedschaftsverhältnis sei nicht zum 01.04.2018, sondern frühestens zum 01.01.2019 zustande gekommen. Die Voraussetzungen des § 188 Abs. 3 SGB V a.F. seien nicht erfüllt. Der Beitritt sei nicht schriftlich, sondern lediglich in Textform erklärt worden. Bei Mangel der gesetzlich vorgeschriebenen Form liege Nichtigkeit vor (§ 125 BGB). Da er - der Kläger - ursprünglich den Wunsch gehabt habe, bei den Beklagten versichert zu sein, habe er schließlich eine Mitgliedschaft ab Januar 2019 akzeptiert und die Gesundheitskarte beantragt. Erst mit diesem Antrag, welcher die Schriftform gewahrt habe, habe er seinen Wunsch erneuert. Eine Heilung des Formmangels könne erst ab Bestätigung der ursprünglich nichtigen Mitgliedschaftserklärung erfolgen. Bei der Schriftform des § 188 Abs. 3 SGB V a.F. handele es sich um eine materielle und nicht um eine formelle Tatbestandsvoraussetzung, welche wie jede andere Tatbestandsvoraussetzung zu beachten sei.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 05.10.2022, den Bescheid der Beklagten vom 12.11.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.04.2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 02.02.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.04.2021 aufzuheben und die Beklagten zu verurteilen, an den Kläger die bereits bezahlten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für den Zeitraum 01.04.2018 bis 31.12.2018 nebst Säumniszuschlägen in Höhe von insgesamt 8.141,24 € zurückzuzahlen.

Die Beklagten beantragen,

            die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagten haben auf den angefochtenen Gerichtsbescheid verwiesen. Die Mitgliedschaftserklärungen seien vom Kläger persönlich unterschrieben worden. Leider lasse sich nicht mehr nachvollziehen, ob ihm diese im Rahmen eines persönlichen Gesprächs ausgehändigt worden seien oder ob dies ggfs. schriftlich erfolgt sei.

Der Senat hat eine Auskunft zu den Vorversicherungszeiten bei der TK eingeholt. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Bl. 65/67 der Senatsakten Bezug genommen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erteilt.
 
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie der beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe


Die Berufung hat keinen Erfolg.

1. Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs. 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte sowie statthafte Berufung des Klägers ist zulässig.

2. Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits sind die Bescheide vom 12.11.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.04.2021 (§ 95 SGG) und vom 02.02.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.04.2021, mit denen die Beklagten für die Zeit ab 01.04.2018 eine Mitgliedschaft in der freiwilligen Krankenversicherung bei der Beklagten zu 1 und der sozialen Pflegeversicherung bei der Beklagten zu 2 festgestellt und die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung ab 01.04.2018 auf monatlich 814,20 € sowie für die Zeit vom 01.04.2018 bis zum 31.12.2018 die aktuelle Höhe der Beitragsforderung nebst Säumniszuschlägen auf insgesamt 8.141,24 € (vgl. zum Regelungsgehalt eines sog. Leistungsbescheids LSG Baden-Württemberg 08.11.2021, L 11 KR 1820/21, Rn. 28, juris m.w.N.) festgesetzt hat. Dagegen wendet sich der Kläger statthaft mit der Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG), beschränkt auf die Zeit vom 01.04.2018 bis zum 31.12.2018. Die Regelungen zur Mitgliedschaft sowie zu den Beiträgen für die Zeit ab 01.01.2019 greift er ausdrücklich nicht an. Weiterhin begehrt er im Wege der Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG) die Erstattung der von ihm für die streitige Zeit erbrachten Beitragszahlungen nebst Säumniszuschlägen.

3. Die Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Bei der hier vorliegenden isolierten Anfechtungsklage ist auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Verwaltungsaktes abzustellen, wobei es auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, mithin die Widerspruchsbescheide vom 21.04.2021, ankommt (vgl. nur Bieresborn in BeckOGK, SGG <01.08.2023>, § 54 Rn. 143; Söhngen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 54 <Stand: 15.06.2022> Rn. 49 jeweils m.w.N.).

a. Der Kläger war in der streitigen Zeit Mitglied der freiwilligen Krankenversicherung der Beklagten zu 1 und infolgedessen gem. § 20 Abs. 3 SGB XI Mitglied der sozialen Pflegeversicherung bei der Beklagten zu 2. Der Kläger ist der freiwilligen Krankenversicherung mit Wirkung zum 01.04.2018 beigetreten.


aa. Zu Recht gehen die Beteiligten davon aus, dass bei dem Kläger keine Versicherungspflicht i.S.d. § 5 SGB V vorlag. Insbesondere bestand keine Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V aufgrund der zum 01.04.2018 aufgenommenen abhängigen Beschäftigung. Denn wegen des regelmäßig erzielten Jahresentgelts (vom 01.04.2018 bis 31.12.2018 insgesamt 58.375,00 €, monatlich 6.485,89 €), das die seinerzeit maßgliche Jahresarbeitsentgeltgrenze überstieg (2018: 59.400,00 €; monatlich 4.9500,00 €), war der Kläger - was auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist - gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 6 SGB V versicherungsfrei. Der Kläger ist der freiwilligen Krankenversicherung jedoch wirksam zum 01.04.2018 beigetreten.

bb. Der Kläger war nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V zum Beitritt berechtigt, worauf die Beklagten in ihrem Widerspruchsbescheid vom 21.04.2021 hingewiesen haben. In der maßgeblichen, bis zum 31.12.2018 geltenden Fassung konnten der freiwilligen Versicherung Personen beitreten, die als Mitglieder aus der Versicherungspflicht ausgeschieden sind und in den letzten fünf Jahren vor dem Ausscheiden mindestens vierundzwanzig Monate oder unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens zwölf Monate versichert waren; Zeiten der Mitgliedschaft nach § 189 SGB V und Zeiten, in denen eine Versicherung allein deshalb bestanden hat, weil Arbeitslosengeld II zu Unrecht bezogen wurde, werden nicht berücksichtigt. Gemäß § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V ist der Beitritt der Krankenkasse innerhalb von drei Monaten nach Beendigung der Mitgliedschaft anzuzeigen. Nach dieser Regelung können alle Personen der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig beitreten, die als Mitglieder aus der Versicherungspflicht bei einer inländischen Krankenkasse ausgeschieden sind und die Vorversicherungszeit erfüllen. Auf den Grund des Ausscheidens aus der Versicherungspflicht kommt es nicht an (Peters in BeckOGK, Stand 01.08.2019, SGB V, § 9 Rn. 17). Das Ausscheiden bei einem ausländischen Versicherungsträger ist grundsätzlich nicht ausreichend (BT-Drs. 11/2237, S. 160), es sei denn, etwas anderes ergibt sich aus über- oder zwischenstaatlichen Vorschriften (Gerlach in Hauck/Noftz SGB V, 9. Ergänzungslieferung 2023, § 9 Rn. 45; Just in Becker/Kingreen, SGB V 8. Aufl. 2022, § 9 Rn. 5; Peters in BeckOGK/Peters, Stand 01.08.2019, SGB V, § 9 Rn. 16, 18; Vossen in Krauskopf, 118. EL Februar 2023, SGB V § 9 Rn. 8). Von Bedeutung sind insoweit insbesondere Art. 5, Art. 6 und Art. 14 VO (EG) 883/04 sowie im Verhältnis zur Schweiz (vgl. Art. 90 VO (EG) 883/04) weiterhin die VO (EWG) 1408/31. Diese findet auf den Kläger als deutschen Staatsangehörigen mit Wohnort in der Schweiz und für den die Rechtsvorschriften des Beschäftigungslandes Bundesrepublik Deutschland gelten (Art. 13 Abs. 1 und 2a VO (EWG) 1408/31) persönlich (Art. 2 Abs. 1 VO (EWG) 1408/31) sowie auf den Zweig der Krankenversicherung sachlich (Art. 4 Abs. 1a VO (EWG) 1408/31) Anwendung. Art. 9 Abs. 2 VO (EWG) 1408/31 regelt die Zulassung zur freiwilligen Versicherung: Ist nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats (Bundesrepublik Deutschland) die freiwillige Versicherung oder freiwillige Weiterversicherung von der Zurücklegung von Versicherungszeiten abhängig, so werden die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats (Schweiz) zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten, soweit erforderlich, wie Versicherungszeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates (Bundesrepublik Deutschland) zurückgelegt worden sind. Art. 18 Abs. 1 VO (EWG) 1408/31 regelt die Zusammenrechnung von Zeiten. Danach berücksichtigt der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Versicherungs-, Beschäftigungs- oder Wohnzeiten abhängig ist, soweit erforderlich, die Versicherungs-, Beschäftigungs- oder Wohnzeiten nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats, als handelte es sich um Zeiten, die nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind. Im Ergebnis reicht das Ausscheiden aus der Versicherungspflicht sowie die Erfüllung der Vorversicherungszeiten bei einem ausländischen Versicherungsträger in der Schweiz aus, sofern zu irgendeinem Zeitpunkt auch einmal Versicherungspflicht in der Bundesrepublik Deutschland bestanden hat (vgl. Baierl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 9 SGB V <Stand: 20.06.2023> Rn. 29; Moritz-Ritter in LPK-SGB V, 6. Aufl. 2022, § 9 Rn. 5; ferner Erdmann, WzS 2002, 257; Gerlach in Hauck/Noftz SGB V, 9. Ergänzungslieferung 2023, § 9 Rn. 47). So verhielt er sich vorliegend. Der Kläger weist durch seine Pflichtversicherungszeiten bei der TK den notwendigen Bezug zum inländischen Sozialversicherungssystem auf. Ausweislich der von der A1-Versicherung ausgestellten „E104“-Bescheinigung wurden für den Bereich „Krankheit/Mutterschaft“ Versicherungszeiten vom 01.01.2013 bis zum 31.08.2018 bestätigt und zeitlich eine darüberhinausgehende Krankenversicherung verneint. Der Kläger war in der hier streitigen Zeit nicht krankenversichert, seine obligatorische Krankenpflegeversicherung in der Schweiz endete zum 31.03.2018. Im Hinblick auf den maßgeblichen Beurteilungszeitraum (siehe oben) ist auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen (Widerspruchsbescheide vom 21.04.2021) und zu berücksichtigen, dass die Krankenversicherung in der Schweiz im März 2019 rückwirkend zum 31.03.2018 beendet wurde. Entgegen der Auffassung des Klägers kann nicht - gleichsam fiktiv - das Bestehen einer Krankenversicherung in der Schweiz unterstellt werden. Diese wurde mit Rechtswirkung zum 31.03.2018 beendet und die Beiträge wurden an den Kläger erstattet. Mithin ist der Kläger zum 31.03.2018 aus der obligatorischen Krankenversicherung in der Schweiz ausgeschieden. Die erforderlichen Vorversicherungszeiten werden durch die in der Schweiz zurückgelegten Zeiten erfüllt.

Dagegen lagen die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 5 SGB V nicht vor, weil der Kläger zum 01.04.2018 nicht „erstmals“ eine Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen hat, sondern bereits vor seiner Übersiedlung in die Schweiz, sowie seine Mitgliedschaft bei der TK zum 31.03.2003 nicht durch die Beschäftigung in der Schweiz, die er frühestens zum 25.02.2008 aufgenommen hat, endete.

cc. Der Kläger hat zum 01.04.2018 seinen Beitritt zu den Beklagten erklärt.

Bei der Erklärung des Beitritts handelt es sich um eine empfangsbedürftige öffentlich-rechtliche Willenserklärung, die der Schriftform (§ 188 Abs. 3 SGB V a.F.) bedarf und grundsätzlich vom Berechtigten selbst abgegeben werden kann (z.B. Berchthold in Knickrehm/Roßbach/Waltermann, 8. Aufl. 2023, SGB V § 9 Rn. 3 m.w.N.). Der Beitritt wird mit dem Zugang der Erklärung bei der gewählten Krankenkasse (§ 175 Abs. 1 Satz 1 SGB V) wirksam (§ 130 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 BGB), die ihrerseits kein Ablehnungsrecht hat (§ 175 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Die Beitrittserklärung nach § 9 SGB V gilt gleichzeitig als Meldung zur sozialen Pflegeversicherung (§ 50 Abs. 1 Satz 3 SGB XI). Die Beitrittserklärung ist als empfangsbedürftige Willenserklärung in entsprechender Anwendung des § 133 BGB auszulegen; bei ihrer Auslegung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften (z.B. Senger in Krauskopf, 118. Ergänzungslieferung Februar 2023, SGB V § 188 Rn. 9).

Der Kläger hat gegenüber den Beklagten unmissverständlich seinen Beitritt zum 01.04.2018 erklärt. Er übermittelte den Beklagten zunächst eine „Mitgliedschaftserklärung“ vom 05.04.2018 und bestätigte, dass seine „AOK-Mitgliedschaft“ „am 01.04.2018“ „beginnt“. Diese Erklärung wurde mit dem Eingangsvermerk „06.04.18“ versehen. Auf welchem Weg diese den Beklagten übermittelt wurde (persönlich, schriftlich, per E-Mail etc.), konnte nicht mehr ermittelt werden. Der Kläger macht geltend, dass er zu diesem Zeitpunkt noch von einer Versicherungspflicht aufgrund der am 01.04.2018 aufgenommenen Beschäftigung ausgegangen sei. Eine weitere „Mitgliedschaftserklärung“ unterzeichnete der Kläger am 11.04.2018, mit der er ebenfalls erklärte „Die AOK-Mitgliedschaft beginnt am 01.04.2018“ und die per einfacher E-Mail an die Beklagten sandte (Bl. 16 der SG-Akten). Hintergrund war eine Abstimmung zwischen dem Kläger und seiner Arbeitgeberin, wonach sich dieser wegen der Überschreitung der Jahresarbeitsentgeltgrenze selbst bei der AOK freiwillig versichern wollte und sollte (vgl. E-Mail der S5 vom 10.04.2018, Bl. 45 der SG-Akten). Nach telefonischem Kontakt zwischen dem Kläger und einem Mitarbeiter der Beklagten wurde dem Kläger ein Formular für eine Mitgliedschaftserklärung übersandt, das dieser ausfüllte, unterzeichnete und per E-Mail an die Beklagten zurücksandte. Diesen Sachverhalt entnimmt der Senat den Verwaltungsakten, dem Vorbringen der Beteiligten sowie den vom Kläger eingereichten Unterlagen. Daraus folgt, dass jedenfalls die Erklärung vom 11.04.2018 als Erklärung des Beitritts zur freiwilligen Versicherung bei den Beklagten auszulegen ist. Auch der Kläger will seine Erklärung so verstanden wissen (vgl. z.B. Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 22.05.2021). Die Erklärung ist den Beklagten unstreitig zugegangen. Der Senat ist davon überzeugt, dass die Beitrittserklärung vom 11.04.2018 noch am gleichen Tag nach Versendung der E-Mail in den Machtbereich der Beklagten gelangt ist und diese von ihrem Inhalt Kenntnis nehmen konnten. Dies entnimmt der Senat der E-Mail des Klägers vom 11.04.2018 (Bl. 16 der SG-Akten) sowie den Schreiben der Beklagten vom 13.04.2018. Auch wenn das Schreiben vom 13.04.2018 (Bl. 47 der Verwaltungsakten) mit einer falschen Anschrift versehen war, bestätigten die Beklagten dem Kläger als Reaktion auf dessen Beitrittserklärung die ab 01.04.2018 beginnende Mitgliedschaft. Außerdem erstellten sie - entsprechend dem Wunsch des Klägers in der Mitgliedschaftserklärung vom 11.04.2018 - eine Mitgliedschaftsbescheinigung und übersandte diese an die Arbeitgeberin (Bl. 48 der Verwaltungsakten). Die Beitrittserklärung ist mithin am 11.04.2018 wirksam geworden (§ 130 Abs. 1 Satz 1 BGB). Ein vorheriger oder gleichzeitiger Widerruf (vgl. § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB) ging den Beklagten nicht zu. Der im Oktober 2020 von der Bevollmächtigten des Klägers erklärte Widerruf ging damit ins Leere.

dd. Der Kläger hat den Beitritt der Beklagten zu 1 fristgerecht angezeigt. Nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V ist der Beitritt der Krankenkasse innerhalb von drei Monaten anzuzeigen im Falle des § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V nach Beendigung der Mitgliedschaft. Die Versicherung bei der S4 obligatorischen Krankenversicherung endete zum 31.03.2018. Der Kläger hat jedenfalls am 13.04.2018 seinen Beitritt zur Beklagten zu 1 und damit rechtzeitig erklärt.

ee. Die Beitrittserklärung des Klägers ist jedenfalls nach den Grundsätzen von Treu und Glauben als formwirksam zu behandeln.

Gem. § 188 Abs. 3 SGB V in der bis zum 18.12.2019 geltenden Fassung (a.F.) war der Beitritt schriftlich zu erklären. Unabhängig davon, ob vorliegend die Schriftform eingehalten wurde, könnte sich der Kläger auf eine Formunwirksamkeit nicht berufen.  

Die Beitrittserklärung vom 11.04.2018 wurde den Beklagten per (einfacher) E-Mail übermittelt und entsprach damit nicht der seinerzeit gesetzlich erforderlichen Schriftform (vgl. nunmehr § 188 Abs. 
3 Satz 1 SGB V: Der Beitritt ist in Textform zu erklären.). Denn diese erfüllte nicht die Anforderungen der qualifizierten elektronischen Form (vgl. § 36a Abs. 3 SGB I, §§ 126 Abs. 3, 126a BGB). Zwar hat die Nichtbeachtung der vorgeschriebenen Schriftform grundsätzlich die Nichtigkeit zur Folge (vgl. § 125 BGB; ferner Felix in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 188 SGB V <Stand: 05.06.2023> Rn. 31). Vorliegend kann sich der Kläger auf die Nichteinhaltung der Form nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht berufen (§ 242 BGB).

Zwar dürfen Formvorschriften im Interesse der Rechtssicherheit nicht aus bloßen Billigkeitserwägungen außer Acht gelassen werden. Ausnahmen sind jedoch nach der Rechtsprechung anerkannt und zulässig, wenn es nach den Beziehungen der Parteien und den gesamten Umständen mit Treu und Glauben unvereinbar wäre, das Rechtsgeschäft am Formmangel scheitern zu lassen (vgl. z.B. Bundesgerichtshof <BGH> 03.11.2016, III ZR 286/15, Rn. 12, juris; Bundearbeitsgerichts <BAG> 10.05.2016, 9 AZR 145/15, Rn. 33, juris; BAG 15.12.2011, 7 ABR 40/10, Rn. 39, juris; ferner LSG Baden-Württemberg, 30.10.2009, L 4 U 3728/08, Rn. 46, juris; Verwaltungsgerichtshof <VGH> Baden-Württemberg 19.10.2021, 1 S 2579/21, Rn. 74, juris). Von der Rechtsprechung des BGH sind bislang insbesondere zwei Fallgruppen als Ausnahmen anerkannt worden: die Fälle der - hier nicht vorliegenden - Existenzgefährdung des einen Teils und die Fälle einer besonders schweren Treuepflichtverletzung des anderen Teils (BGH 03.11.2016, III ZR 286/15, Rn. 12, juris m.w.N.). Eine besonders schwere Treuepflichtverletzung kommt danach regelmäßig dann in Betracht, wenn eine Partei in schwerwiegender Weise gegen das Verbot des venire contra factum proprium verstoßen hat, etwa dadurch, dass sie die Erfüllung der von ihr übernommenen Verpflichtung verweigert, nachdem sie über längere Zeit die Vorteile aus der formunwirksamen Vereinbarung in Anspruch genommen hat. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wird berücksichtigt, ob die Vertragsparteien den Vertrag zumindest fahrlässig in fehlerhafter Form abgeschlossen, diesen aber gleichwohl als gültig behandelt und abredegemäß erfüllt haben; bedeutsam ist ferner, ob ein öffentliches Interesse an der Vertragserfüllung und ‑durchführung besteht und wie im Einzelfall das öffentliche Interesse an der Einhaltung der Formvorschriften konkret zu gewichten ist (VGH Baden-Württemberg 19.10.2021, 1 S 2579/21, Rn. 74, juris m.w.N.).

Nach der im vorliegenden Einzelfall vorzunehmenden Gesamtabwägung kann sich der Kläger nicht auf die Formunwirksamkeit seiner Beitrittserklärung vom 13.04.2018 berufen. Auf die Formunwirksamkeit hat sich der Kläger erstmals mit der Erhebung seiner Klage im Mai 2021 berufen. Davor hat er ausdrücklich bestätigt, dass er am 11.04.2018 sein Wahlrecht mittels des ihm zur Verfügung gestellten Formulars „schriftlich“ ausgeübt und seinen Beitritt erklärt hat (vgl. z.B. Schriftsätze seines Bevollmächtigten vom 11.02.2019, 12.03.2019). Auch hat er mit Widerspruchsschreiben vom 23.01.2019 von den Beklagten ausdrücklich verlangt, dass ihm die freiwillige Versicherung bestätigt wird, was einen formwirksamen Beitritt aber gerade voraussetzt. Er ging selbst vom Zustandekommen einer freiwilligen Versicherung aus und bat folgerichtig um den Erlass der „rückständigen Beiträge vom 1.4.2018 bis zum 31.12.2018“. Mit seinem Berufen auf die Formunwirksamkeit der Beitrittserklärung vom 11.04.2018 setzt sich der Kläger in Widerspruch zu seinem vorangegangen Verhalten.

Weiterhin ist zu beachten, dass der Kläger die freiwillige Versicherung bei der Beklagten ab 01.04.2018 als formwirksam behandelt und daraus Vorteile gezogen hat. So
wurde dem Kläger auf sein Verlangen seitens der Beklagten (Schreiben vom 21.02.2019, Bl. 13, 14 der Verwaltungsakten) das Formular E104 als Versicherungsnachweis zur Vorlage bei der S4 Krankenkasse übersandt. Dieses hat sich der Kläger zu eigen gemacht, der S4 Versicherung A1 vorgelegt und sich gegenüber dieser auf eine Absicherung im Krankheitsfall in der Bundesrepublik Deutschland ab 01.04.2018 berufen. Daraufhin beendete die A1 die S4 obligatorische Krankenpflegeversicherung rückwirkend zum 31.03.2018 und erstattet dem Kläger die zunächst entrichteten Beiträge für April 2018 bis Juni 2019, mithin auch für die hier streitige Zeit. Weiterhin hat der Kläger in der hier streitigen Zeit seitens seiner Arbeitgeberin Beitragszuschüsse zu seiner freiwilligen Krankenversicherung bei der Beklagten zu 1 nach § 257 Abs. 1 Satz 1 SGB V bezogen. Danach erhalten freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherte Beschäftigte, die - wie der Kläger - nur wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze versicherungsfrei sind, von ihrem Arbeitgeber als Beitragszuschuss den Betrag, den der Arbeitgeber entsprechend § 249 Absatz 1 oder 2 SGB V bei Versicherungspflicht des Beschäftigten zu tragen hätte. Wenn der Kläger meint, hierbei handele es sich um Arbeitslohn und dieser Zuschuss stehe ihm für seine Zukunftssicherung frei zur Verfügung, verkennt er, dass der Zahlungsanspruch nach § 257 SGB V ein dem öffentlichen Recht zuzuordnender, sozialversicherungsrechtlicher Anspruch ist, der hinsichtlich der Voraussetzungen und der Rechtsfolgen auf das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung verweist und einem eigenen Sicherungszweck dient (LSG Baden-Württemberg 28.03.2023, L 11 KR 2099/2, Rn. 36, juris m.w.N.). Bei dem Zuschuss nach § 257 SGB V handelt es sich weder um Arbeitsentgelt i.S.v. § 14 SGB IV noch um einen arbeitsvertraglichen Anspruch. Der Anspruch knüpft an das Bestehen eines sozialrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses an und begründet eigenständige sozialrechtliche Pflichten des Arbeitgebers bzw. der zur Zahlung des Vorruhestandsgeldes verpflichteten Stelle, die neben die arbeitsvertraglichen Pflichten treten (LSG Baden-Württemberg 28.03.2023, L 11 KR 2099/22, Rn. 36, juris). Voraussetzung für einen Anspruch des Klägers gegen seine Arbeitgeberin auf den Beitragszuschuss nach § 257 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist eine freiwillige gesetzliche Krankenversicherung. Genau eine solche Versicherung hat sich der Kläger zu eigen gemacht, indem auf seine Veranlassung (Beitrittserklärung vom 11.04.2018) die Beklagten eine entsprechende Mitgliedschaftsbescheinigung an die Arbeitgeberin versandt haben (Schreiben vom 13.04.2018). U.a. damit hat der Kläger die Auszahlung des Beitragszuschusses an sich bewirkt. Im Übrigen hat er für den hier streitigen Zeitraum die vom Arbeitgeber bezahlten Beitragszuschüsse erlangt, ohne diese zu monieren, geschweige denn zurückzuerstatten (vgl. zum Erstattungsanspruch des Arbeitgebers bei ohne Rechtsgrund geleisteten Beitragszuschüssen LSG Baden-Württemberg 28.03.2023, L 11 KR 2099/2, juris).

Nicht nur der Kläger hat die Beitrittserklärung als gültig behandelt, sondern auch die Beklagten. Auch wenn die Mitgliedschaftsbestätigung vom 13.04.2018 nicht an die Adresse des Klägers gerichtet, sondern falsch adressiert war, so haben die Beklagten den Beitritt des Klägers zum Anlass genommen, diese zu verfassen. Auch haben sie die Mitgliedschaftsbescheinigung vom 13.04.2018 an die Arbeitgeberin abgegeben. Schließlich haben sie mit Bescheid vom 12.11.2018 die Mitgliedschaft bestätigt und nach Einreichung eines Fotos eine Gesundheitskarte ausgestellt, auch wenn dies erst verzögert passiert ist. Im Hinblick auf den Umstand, dass der Kläger - wie er selbst dargelegt hat - am 13.04.2018 den Beitritt zu den Beklagten erklären wollte und damit kein besonderes Schutzbedürfnis besteht, ist im vorliegenden Einzelfall das öffentliche Interesse an der Einhaltung der Formvorschrift des § 188 Abs. 3 SGB V a.F. gering zu gewichten.

ff. Rechtsfolge des wirksamen Beitritts des Klägers ist seine Mitgliedschaft bei der Beklagten zu 1 mit Wirkung zum 01.04.2018. Denn nach § 188 Abs. 2 Satz 1 SGB V beginnt die Mitgliedschaft der in § 9 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB V genannten Versicherungsberechtigten mit dem Tag nach dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht oder mit dem Tag nach dem Ende der Versicherung nach § 10 SGB V. Einer Handlung oder Bestätigung seitens der Beklagten bedurfte es nicht. Der Beitritt wird - bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen - allein durch die Anzeige wirksam (Peters in BeckOGK, Stand 01.08.2019, SGB V § 9 Rn. 50; Ulmer in BeckOK SozR, Stand 01.06.2023, SGB V § 9 Rn. 29; Vossen in Krauskopf, Stand Februar 2023, SGB V § 9 Rn. 40).

b. Der Kläger hatte Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für die Zeit vom 01.04.2018 bis zum 31.12.2018 zu entrichten.

aa. Nach § 223 Abs. 1 SGB V sind die Beiträge jeden Kalendertag der Mitgliedschaft zu zahlen, soweit dieses Buch nichts Abweichendes bestimmt. Gem. § 223 Abs. 2 Satz 1 SGB V werden die Beiträge nach den beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder bemessen. Beitragspflichtige Einnahmen sind gem. § 223 Abs. 3 Satz 1 SGB V bis zu einem Betrag von einem Dreihundertsechzigstel der Jahresarbeitsentgeltgrenze nach § 6 Abs. 7 SGB V für den Kalendertag zu berücksichtigen (Beitragsbemessungsgrenze). Die beitragspflichtigen Einnahmen regelt § 240 SGB V, dazu gehören u.a. das Arbeitsentgelt. Der Kläger hat als freiwilliges Mitglied den Beitrag allein zu tragen (§ 250 Abs. 2 SGB V) und zu zahlen (§ 252 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Dies gilt entsprechend für Beiträge zur Pflegeversicherung (§§ 54 Abs. 3, 59 Abs. 4, 60 Abs. 1 Satz 1 SGB XI. Nach diesen Maßstäben haben die Beklagten die Beiträge in zutreffender Höhe festgesetzt. Für den Senat sind keine Berechnungsfehler ersichtlich. Solche werden vom Kläger auch nicht geltend gemacht; vielmehr hat er ausdrücklich die Richtigkeit der Berechnungen der Beklagten bestätigt. Nachdem der Kläger die Beiträge nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages gezahlt hat, haben die Beklagten dem Grunde und der Höhe nach zutreffend Säumniszuschläge erhoben (vgl. § 24 Abs.
1 Satz 1 und Abs. 2 SGB IV). Auch insofern sind dem Senat keine Fehler ersichtlich; solche werden vom Kläger auch nicht geltend gemacht.  

bb. Schließlich kann
von der Erhebung der Beiträge für die Zeit vom 01.04.2018 bis 31.12.2018 nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs abgesehen werden noch steht der Beitragserhebung der Einwand der Verwirkung entgegen. Insoweit sieht der Senat von einer weiteren Begründung ab und verweist auf die ausführlichen Darlegungen im Senatsbeschluss vom 04.09.2019.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

5. Die Revision wird nicht zugelassen, da ein Grund hierfür (
§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) nicht vorliegt.



 

Rechtskraft
Aus
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