Auch wenn eine Genehmigung für Krankenfahrten nach § 60 Abs. 2 Satz 4 SGB V als erteilt gilt, müssen nach dem Rechtsgedanken des § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB V die Fahrten im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig sein, um einen Anspruch auf Übernahme der Kosten zu begründen. Daran fehlt es in der Regel, wenn ein Psychiater in Anspruch genommen wird, der seine Leistungen mehrere Hundert Kilometer entfernt vom Wohnort des Versicherten anbietet, so dass Fahrkosten in Höhe von 2.000 € pro Behandlung entstehen.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 20.04.2023 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Erstattung von Fahrkosten nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in Höhe von 7.514,40 €.
Der 1966 geborene, seit mindestens 8 Jahren in B1 lebende und bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte schwerbehinderte Kläger, der u.a. über die Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) und H (hilflos) verfügt und der u.a. an einer bipolaren affektiven Psychose leidet, beantragte bei der Beklagten die Erstattung von Fahrkosten von seinem Wohnort in B1 zu vier ambulanten psychiatrischen Behandlungen am 20.05.2021, 07.06.2021, 10.06.2021 und 16.06.2021 bei S1, in B2, bei dem der Kläger bereits seit etwa 20 Jahren in Behandlung ist. Für die Fahrten nahm der Kläger die Dienste des Taxiunternehmens G1 in D1 in Anspruch, für die Kosten in Höhe von jeweils 2.000,- € anfielen, insgesamt 8.000 € (Quittungen vgl. Bl. 38, 37, 28, 20). In den Akten befindet sich eine Stellungnahme des S2 vom 20.05.2021 (Bl. 30 Verwaltungsakte), wonach der Kläger unter einer schwergradig ausgeprägten psychischen Erkrankung leide und sich aktuell auch noch der somatische Zustand verschlechtere, was wiederum zu einer deutlichen Dekompensation des psychischen Befindens führe. Ein Behandlungsabbruch führe mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer fatalen Verschlechterung der psychischen Befindlichkeit, insbesondere vor dem Hintergrund der latenten Suizidalität. Weiterhin bestätigte der behandelnde L1 im Schreiben vom 20.05.2021, der Kläger sei durch Fachärzte zu behandeln, denen er absolut vertraue (Bl. 26 und Bl. 29 Verwaltungsakte).
Nachdem die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) mit der Angelegenheit befasst hatte (Gutachten vom 22.04.2021 und 16.06.2021, hier auch unter Einbeziehung der ärztlichen Stellungnahmen des S2 bzw. des L1 vom 20.05.2021), teilte sie dem Kläger mit Bescheid vom 22.06.2021 mit, dass die Fahrkosten teilweise in Höhe von 485,60 € (121,40 € pro Hin- und Rückfahrt auf Basis einer Einsatzpauschale von 3,20 € pro Einzelfahrt [x 2 bei Hin- und Rückfahrt] zzgl. 1,15 € pro gefahrenem Kilometer x 100 km) anerkannt würden. Hinsichtlich des Differenzbetrages lehnte sie den Antrag mit der Begründung ab, im Umkreis des Wohnortes des Klägers stünden Fachärzte für die psychiatrische Behandlung zur Verfügung. Bei der Berechnung der Fahrkosten werde eine Entfernung von 50 Kilometern vom Wohnort zu einer der nächstgelegenen Behandlungsstätten im Großraum F1 akzeptiert.
Hiergegen legte der - anwaltlich vertretene - Kläger mit Schreiben vom 02.07.2021 Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.08.2021 (Eingang beim Klägerbevollmächtigten am 23.08.2021) als unbegründet zurückwies.
Mit Schriftsatz vom 17.09.2021, eingegangen beim Gericht am 23.09.2021, hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben und vorgetragen, sein Gesundheitszustand sei desolat. Es liege Multimorbidität vor. Zur Erhaltung des status quo sei er auf die Behandlung durch seine langjährigen Ärzte angewiesen. Er gerate in psychische Grenzsituationen und erleide Angstzustände, wenn neue Situationen und für ihn nicht bekannte Umstände aufträten. Sollte er nicht mehr in der Lage sein, seine Vertrauensärzte aufsuchen zu können, drohe ein Suizid, der von ihm vernunfts- und willensgeleitet nicht beeinflusst werden könne. Er vertraue auch nur dem Fahrer des Taxiunternehmens aus D1, den er seit ca. 2015/2016 kenne. Die Beklagte habe die Kosten des Taxiunternehmens bis ca. 2021 bezahlt, so dass er sich auf den Vertrauensgrundsatz berufe. Die Kosten habe er durch Darlehen seiner Angehörigen beglichen.
Das SG hat den Kläger um Vorlage der ärztlichen Schweigepflichtsentbindungserklärung gebeten und, als der Kläger dieser Aufforderung nicht nachkam, die Klage mit Gerichtsbescheid vom 20.04.2023 abgewiesen unter Verweis auf den Grundsatz der objektiven Beweislast und die fehlende Möglichkeit zur Ermittlung des medizinischen Sachverhalts.
Gegen den seinem Bevollmächtigten am 21.04.2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 22.05.2023 (Montag) Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingereicht und nunmehr eine Entbindungserklärung von der ärztlichen Schweigepflicht zu den Akten gegeben.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 20.04.2023 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 22.06.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2021 zu verurteilen, ihm ergänzende Fahrkosten in Höhe von 7.514,40 € zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält den Gerichtsbescheid für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte sowie der Gerichtsakte erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung hat keinen Erfolg.
Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, in der Sache aber nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 22.06.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2021, worin die Beklagte die Erstattung von Fahrkosten nach B2 über den Betrag von 485,60 € hinaus abgelehnt hat. Die hiergegen vom Kläger erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs. 1 und 4, 56 SGG) ist unbegründet, da ihm der begehrte Anspruch nicht zusteht. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, der Gerichtsbescheid des SG ist nicht zu beanstanden.
Gem. § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB V übernimmt die Krankenkasse nach den Absätzen 2 und 3 die Kosten für Fahrten einschließlich der Transporte nach § 133 (Fahrkosten), wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig sind. Welches Fahrzeug benutzt werden kann, richtet sich nach der medizinischen Notwendigkeit im Einzelfall. Die Krankenkasse übernimmt Fahrkosten zu einer ambulanten Behandlung unter Abzug des sich nach § 61 Satz 1 ergebenden Betrages in besonderen Ausnahmefällen, die der Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 festgelegt hat. Die Übernahme von Fahrkosten nach Satz 3 und nach Absatz 2 Satz 1 Nummer 3 für Fahrten zur ambulanten Behandlung erfolgt nur nach vorheriger Genehmigung durch die Krankenkasse. Für Krankenfahrten zur ambulanten Behandlung gilt die Genehmigung nach Satz 4 als erteilt, wenn eine der folgenden Voraussetzungen vorliegt:
1. ein Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen „aG“, „Bl“ oder „H“,
2. eine Einstufung gemäß § 15 des Elften Buches in den Pflegegrad 3, 4 oder 5, bei Einstufung in den Pflegegrad 3 zusätzlich eine dauerhafte Beeinträchtigung der Mobilität, oder
3. bis zum 31. Dezember 2016 eine Einstufung in die Pflegestufe 2 gemäß § 15 des Elften Buches in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung und seit dem 1. Januar 2017 mindestens eine Einstufung in den Pflegegrad 3.
Da der Kläger schwerbehindert ist und über die Merkzeichen aG und H verfügt, gilt die Genehmigung für die Krankenfahrten als erteilt. Jedoch müssen auch in diesem Fall nach dem Rechtsgedanken des § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB V die Fahrten im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig sein, um einen Anspruch auf Übernahme der Kosten zu begründen (BSG 08.09.2015, B 1 KR 27/14 R, juris Rn. 11 unter Verweis auf BSG 26.09.2006, B 1 KR 20/05 R, juris, Rn. 13). Vorliegend bedeutet dies, dass der Kläger aus zwingenden medizinischen Gründen berechtigt gewesen sein muss, S2 in B2 aufzusuchen anstelle eines wohnortnahen. Dies ist nicht der Fall. Versicherte können zwar zwischen den für die vertragsärztliche Versorgung zugelassenen, näher im Gesetz bezeichneten Leistungserbringern frei wählen (§ 76 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Nimmt der Versicherte allerdings ohne zwingenden Grund einen anderen als einen der „nächsterreichbaren an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte, Einrichtungen oder medizinische Versorgungszentren“ (im Folgenden: Leistungserbringer) in Anspruch, hat er die Mehrkosten zu tragen (§ 76 Abs. 2 SGB V). Etwas anderes gilt nur, wenn ein besonderer Behandlungsbedarf die Inanspruchnahme eines weiter entfernt praktizierenden Arztes zwingend erfordert (BSG 08.09.2015 a.a.O. Rn. 19, zu den Maßstäben BSG 17.02.2010, B 1 KR 14/09 R, juris, Rn. 24 ff.). Ein besonderes Vertrauensverhältnis, das sich aus positiven Erfahrungen in der Vergangenheit speist, genügt hierfür in aller Regel nicht. Spezielle Kenntnisse oder Fähigkeiten eines Arztes können erst dann eine Inanspruchnahme zu Lasten der GKV rechtfertigen, wenn sie sich in einem besonderen, vom räumlich nächsterreichbaren Arzt nicht oder nicht ausreichend vorgehaltenen Leistungsangebot niederschlagen, das nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse Teil einer zweckmäßigen medizinischen Behandlung der betreffenden Krankheit ist (BSG 08.09.2015 unter Verweis auf BSG 17.02.2010, B 1 KR 14/09 R, juris; vgl. auch Gerlach in: Hauck/Noftz SGB V, 7. Ergänzungslieferung 2023, § 60 SGB 5, Rn. 19). Der Gesetzgeber hat den Begriff der „zwingenden Gründe“ bewusst eng gefasst, um eine allgemeine Härteklausel auszuschließen. Bei der gebotenen restriktiven Auslegung kommen hierfür nur solche Umstände in Betracht, die in ihrer Wertigkeit zwingenden medizinischen Gründen entsprechen.
Gemessen an diesen Maßstäben besteht keine zwingende medizinische Notwendigkeit, einen in Anspruch zu nehmen, der seine Leistungen mehrere Hundert Kilometer entfernt vom Wohnort des Klägers anbietet. Die Suche auf der Seite der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg nach ergibt allein im etwa 30 km von B1 entfernten F1 eine Trefferzahl von 32 (vgl. https://www.arztsuche-bw.de/index.php?suchen=1&sorting=name&direction=ASC&arztgruppe=facharzt&id_fachgruppe=480&nachname=&plz=&ort=freiburg&landkreis=, Stand 16.08.2023), hinzu kommen noch die Fachärzte in B1 bzw. in anderen angrenzenden Gemeinden. Da die Beklagte sich bereit erklärt hat, Fahrkosten in einem Umkreis von 50 km von B1 aus zu übernehmen, hat der Senat keinen Zweifel, dass der Kläger in diesem Umkreis einen geeigneten Arzt finden könnte. Der Kläger hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung lediglich vorgetragen, zu zwei erfolglos Kontakt aufgenommen zu haben - der eine habe ihn wieder fortgeschickt, der andere habe nicht gewusst, wie er ihn behandeln solle. Hieraus lässt sich aber nicht der Schluss ziehen, dass keiner der zahlreichen im 50-km-Umkreis geeignet ist. Es ist zudem in keinster Weise ersichtlich, dass S2 Behandlungsmethoden anwendet, die wohnortnahe nicht beherrschen, oder ein Leistungsangebot vorhält, das sich von anderen unterscheidet. Dies wird vom Kläger auch nicht behauptet. Der Kläger hat hierzu in der mündlichen Verhandlung zwar dargelegt, S2 sei vor etwa 20 Jahren der einzige gewesen, der ihm habe helfen können, indem er u.a. mittels Elektroschocks die Wirkung von Medikamenten wiederherzustellen vermochte. Eine zum jetzigen Zeitpunkt durch S2 erfolgende besondere Behandlung ergibt sich aus den Akten indes nicht. Dass der Kläger zu S2 ein besonderes Vertrauensverhältnis hat, genügt nicht, zumal der Kläger seit seinem Umzug nach B1, wo er jedenfalls bereits seit 2015 wohnt (vgl. MDK-Gutachten vom 04.02.2015, Bl. 55 Senatsakte), mehrere Jahre Zeit hatte, sich vor Ort einen neuen zu suchen und auch zu ihm Vertrauen zu fassen. Er war auch in der Lage, sich in B1 und Umgebung auf einen neuen Hausarzt, Anästhesisten, Zahnarzt, HNO-Arzt, Augenarzt, Dermatologen, Kardiologen, Diabetologen, Chirurgen, Urologen und Pneumologen einzustellen und war zudem - aus welchen Gründen auch immer - jedenfalls am 16.06.2021 nicht bei S2, sondern beim H1, der in derselben Praxis wie S2 tätig ist, in Behandlung (vgl. Bl. 20 Verwaltungsakte). Insofern folgt der Senat den MDK-Gutachten vom 22.04.2021 und 16.06.2021 (letzteres in Kenntnis der ärztlichen Stellungnahme des S2 vom 20.05.2021) und stellt fest, dass keine medizinische Notwendigkeit für eine Behandlung ausgerechnet bei S2 in B2 besteht. Im Gegenteil: Ein Arztwechsel ist etwas Alltägliches und kann verschiedenste, auch in der Person des Arztes liegende Ursachen haben - etwa wenn der behandelnde Arzt altersbedingt seine Praxis schließt, sich auf die Behandlung von Privatpatienten beschränkt, umzieht oder stirbt. Sollte - wovon der Senat nicht ausgeht - beim Kläger eine psychische Dekompensation mit Suizidgefahr eintreten, wenn die Behandlung durch den vertrauten nicht mehr fortgesetzt wird, wäre dem ggf. mittels einer Krankenhausbehandlung zu begegnen.
Da es auf das besondere Vertrauensverhältnis zu dem behandelnden Arzt nicht ankommt, bedurfte es auch keiner weiteren Ermittlungen mehr durch den Senat.
Dass die Fahrkosten zu S2 in den letzten Jahren von der Beklagten übernommen wurden, ist kein Grund für eine Fortsetzung der Übernahme der Fahrkosten. Vielmehr ist die Beklagte verpflichtet, eine bisher rechtswidrige Praxis zeitnah zu beenden (vgl. § 2 Abs. 4 SGB V). Da es keinen Bewilligungsbescheid der Beklagten gibt, in dem (dauerhaft) die Fahrten zu S2 genehmigt wurden, waren die Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) bzw. des § 48 SGB X nicht zu prüfen.
Berechnungsfehler bei dem von der Beklagten errechneten Fahrkostenersatz für Fahrstrecken bis zu 50 km sind nicht ersichtlich und vom Kläger auch nicht vorgetragen worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.