L 11 AS 152/23 B ER

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Hildesheim (NSB)
Aktenzeichen
S 37 AS 4013/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 11 AS 152/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze


1. Begehrt ein Antragsteller einstweiligen Rechtsschutz gegen Vollstreckungsmaßnahmen eines Hauptzollamtes wegen Rückforderungen von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, so ist der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit eröffnet, wenn der Antragsteller materiell-rechtliche Einwendungen gegen den zu vollstreckenden Verwaltungsakt selbst geltend macht (hier: Verjährung).
2. Einstweiliger Rechtsschutz kann dann nicht nur gegen Maßnahmen der Vollstreckungsanordnungsbehörde begehrt werden, sondern insbesondere auch gegen Maßnahmen des Hauptzollamtes als Vollstreckungsbehörde.
3. Rechtsgrundlage für einen Anordnungsanspruch auf Einstellung der Zwangsvollstreckung ist im Falle des § 40 Abs. 8 SGB II § 257 Abgabenordnung (AO) i. V. m. § 5 Verwaltungsvollstreckungsgesetz (VwVG).
4. § 257 Abs. 1 Nr. 3 AO ist im Falle der Verjährung analog anzuwenden.

Der Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 13. März 2023 wird

              aufgehoben, soweit der Antragsgegner auch zur vorläufigen Einstellung der

              Zwangsvollstreckung aus dem Bescheid vom 27. Juli 2018 wegen einer

              Forderung von 497,84 Euro verpflichtet wurde.

 

              Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

              Der Antragsgegner und die Beigeladene tragen die außergerichtlichen

              Kosten der Antragstellerin für beide Rechtszüge je zur Hälfte.

 

                                                                      Gründe

                                                                            I.

Der Antragsgegner (Hauptzollamt Braunschweig) wendet sich gegen einen Eilbeschluss des Sozialgerichts (SG) Hildesheim, mit dem er zur vorläufigen Einstellung der Zwangsvollstreckung gegenüber der Antragstellerin wegen Forderungen des Jobcenters (JC) Region Hannover in einer Gesamthöhe von 26.520,49 Euro verpflichtet wurde. Inzwischen geht es nur noch um die Vollstreckung wegen Forderungen in Höhe von 3.143,36 Euro.

Die im Jahre 1969 geborene Antragstellerin bezog in der Vergangenheit Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) vom JC Region Hannover. Dieses erließ unter anderem folgende Bescheide, mit denen die Antragstellerin zu folgenden Erstattungszahlungen verpflichtet wurde:

– Bescheid vom 21. Mai 2013 (Bl. 45 der Gerichtsakte – GA):   17.743,10 Euro

– Bescheid vom 20. September 2017 (Bl. 49 GA):                        5.634,03 Euro

– Bescheid vom 16. November 2017 (Bl. 39 GA):                         2.645,52 Euro

– Bescheid vom 27. Juli 2018 (Bl. 31 GA):                                       497,84 Euro.

Die Erstattung aus dem Bescheid vom 21. Mai 2013 gründete das JC Region Hannover auf § 50 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nach einer Aufhebung gem. § 48 SGB X. Die übrigen drei Bescheide betreffen Erstattungen bei endgültiger Festsetzung von Leistungen.

Unter dem 5. Januar 2023 übersandte der Antragsgegner der Antragstellerin eine Vollstreckungsankündigung über einen Betrag von 26.619,64 Euro, der sich aus den genannten Erstattungsforderungen und einer Mahngebühr in Höhe von 99,15 Euro (Bescheid vom 17. Januar 2019) zusammensetzte (Bl. 19 GA). Der Antragsgegner wurde auf Ersuchen der beigeladenen Bundesagentur für Arbeit (BA) vom 29. Dezember 2022 tätig, die ihrerseits vom JC Region Hannover mit dem Forderungseinzug beauftragt worden war (vgl. Bl. 7, 135 GA). Nach den übereinstimmenden Angaben der Beteiligten erhob die Antragstellerin mit Schreiben vom 20. Januar 2023 gegenüber dem JC Region Hannover die Einrede der Verjährung (vgl. Bl. 2, 139 GA). Auf Ersuchen der Antragstellerin erklärte sich der Antragsgegner bereit, vorübergehend keine Vollstreckungsmaßnahmen einzuleiten, längstens aber bis zum 2. Februar 2023, sofern nicht die Beigeladene ihr Vollstreckungsersuchen zurückzöge.

Am 26. Januar 2023 hat die Antragstellerin beim SG Hildesheim Eilrechtsschutz gegenüber dem Antragsgegner durch einen Antrag auf Anordnung der vorläufigen Einstellung der Vollstreckung begehrt. Der Sozialrechtsweg sei gegeben, da die Antragstellerin sich nicht gegen die Art und Weise der Durchführung der Zwangsvollstreckung wende, sondern Einwendungen gegen die zu vollstreckenden Verwaltungsakte selbst erhebe. Es bestehe keine vollstreckbare Forderung, denn die betroffenen Ansprüche seien verjährt. Der Antragsgegner habe insoweit eine Garantenstellung für die Statthaftigkeit der Vollstreckung und müsse diesbezügliche Rügen prüfen.

Der Antragsgegner hat im Einzelnen dargelegt, dass und aus welchen Gründen seiner Auffassung nach das Eilverfahren bei dem für das Hauptzollamt Braunschweig zuständigen Finanzgericht (FG) Hamburg geführt werden müsse. Gegenüber dem Hauptzollamt als Vollstreckungsbehörde könne sich ein Antragsteller im Hinblick auf die Art und Weise von Vollstreckungsmaßnahmen wehren. Einwendungen gegen den zu vollstreckenden Verwaltungsakt selbst seien dagegen grundsätzlich nach § 256 Abgabenordnung (AO) außerhalb des Vollstreckungsverfahrens zu verfolgen. Sollte sich die Antragstellerin mit ihrem Begehren ausdrücklich nur gegen das Hauptzollamt wenden wollen, wäre nur der Rechtsweg zu den Finanzgerichten gegeben und der Rechtsstreit entsprechend dorthin zu verweisen. Sofern Vollstreckungsschutz gegen Maßnahmen der Vollstreckungsanordnungsbehörde begehrt werde, sei dies auch gegenüber der Vollstreckungsanordnungsbehörde zu beantragen. Im Übrigen liege dem Antragsgegner lediglich die Vollstreckungsankündigung vom 5. Januar 2023 vor. Über die zugrunde liegenden Bescheide verfüge er nicht, da der Gläubiger in einem elektronischen Vollstreckungsersuchen die Vollstreckbarkeit der Forderung sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach bescheinigt habe. Auf Nachfrage des SG hat der Antragsgegner noch mitgeteilt, dass keine früheren Vollstreckungsankündigungen ergangen seien.

Das JC Region Hannover hat auf Nachfrage des SG mitgeteilt, dass gegen die Bescheide vom 21. Mai 2013, 20. September 2017, 16. November 2017 und 27. Juli 2018 weder Widerspruch noch Klage erhoben wurde (Bl. 54 GA). Verwaltungsakte zur Feststellung und Durchsetzung nach § 52 Abs. 1 SGB X seien im Hinblick auf die Forderungen aus den genannten Bescheiden nicht erlassen worden (Bl. 92 GA).

Die Beigeladene hat auf eine Anfrage des SG vom 3. März 2023 trotz Fristsetzung bis zum 8. März 2023 zunächst nicht reagiert.

Mit Beschluss vom 13. März 2023 (Bl. 95 GA) hat das SG den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Zwangsvollstreckung aus den Bescheiden vom 21. Mai 2013, 20. September 2017, 16. November 2017 und 27. Juli 2018 vorläufig einzustellen. Der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit sei nach § 51 Abs. 1 Nr. 4a Sozialgerichtsgesetz (SGG) gegeben. Die Sozialgerichtsbarkeit sei sachlich zuständig, denn die Antragstellerin habe die Einrede der Verjährung erhoben, welche allein die zu vollstreckenden, bestandskräftigen Verwaltungsakte betreffe. Sie wende sich nicht gegen die Art und Weise der Zwangsvollstreckung. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung seien erfüllt. Die Antragstellerin habe im Januar 2023 wirksam die Einrede der Verjährung gegen die Rückforderungen aus den Bescheiden vom 21. Mai 2013, 20. September 2017, 14. November 2017 und 27. Juli 2018 nach § 50 Abs. 4 Satz 2 SGB X in Verbindung mit § 214 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) erhoben. Dies begründe ein Leistungsverweigerungsrecht und stehe einer Vollstreckung entgegen. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund seien glaubhaft dargelegt worden. Die Forderungen aus allen vier streitigen Bescheiden seien jeweils gemäß § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X nach Ablauf von vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der jeweilige Verwaltungsakt unanfechtbar geworden sei, verjährt. Eine Hemmung der Verjährung nach § 52 SGB X sei nicht eingetreten. Die 30-Jahresfrist des § 52 Abs. 2 SGB X gelte nur in den Fällen des § 52 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach hemme ein Verwaltungsakt, der zur Feststellung und Durchsetzung eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers erlassen werde, die Verjährung. Ein solcher Bescheid sei aber nach Auskunft des JC Region Hannover nicht erlassen worden.

Mit Schreiben vom 14. März 2023, das am 23. März 2023 beim SG einging, teilte die Beigeladene dem SG mit, dass sie über die Einrede der Verjährung entschieden habe (Bl. 133 GA). Beigefügt war ein an die Antragstellerin gerichtetes Schreiben vom 14. März 2023, in dem die Beigeladene ihr mitteilte, dass die Forderungen aus den Bescheiden vom 21. Mai 2013 und 20. September 2017 in Höhe von 23.377,13 Euro (plus 80,15 Euro Mahngebühren) verjährt seien (Bl. 139 GA). Von einer weiteren Einziehung der Forderung werde abgesehen. Hingegen seien die Forderungen aus den Bescheiden vom 16. November 2017 und 27. Juli 2018 in einer Gesamthöhe von 3.143,36 Euro nicht verjährt. Diese Forderungen seien am 29. August 2019 und 7. März 2019 und „beide Forderungen zusammen“ am 29. Dezember 2022 zur Vollstreckung an den Antragsgegner abgegeben worden. Nach § 212 Abs. 1 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) i. V. m. § 50 Abs. 4 Satz 2 SGB X habe damit die Verjährung erneut zu laufen begonnen. Die Verjährungsfrist ende erst am 31. Dezember 2026. Dementsprechend zog die Beigeladene unter dem 14. März 2023 ihr Vollstreckungsersuchen über einen Betrag von 23.377,13 Euro wegen der Forderungen aus den Bescheiden vom 21. Mai 2013 (die Angabe „2023“ dürfte versehentlich erfolgt sein) und 20. September 2017 zurück, wohingegen sie den Antragsgegner um Durchführung der Vollstreckung aus den Bescheiden vom 16. November 2017 und 27. Juli 2018 bat (Bl. 141 GA).

Gegen den am 13. März 2023 zugestellten Beschluss des SG (Empfangsbekenntnis: Bl. 104 GA) wendet sich der Antragsgegner mit seiner am 16. März 2023 eingelegten Beschwerde, zu deren Begründung er auf die landes- und bundessozialgerichtliche Rechtsprechung Bezug nimmt. Der Beschluss sei aufzuheben, da der Rechtsweg zu den Sozialgerichten nicht gegeben sei. Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Einstellung der Zwangsvollstreckung hätte gemäß § 114 Finanzgerichtsordnung (FGO) beim zuständigen FG Hamburg gestellt werden müssen. Soweit das SG ausgeführt habe, dass bei Einwendungen, die sich gegen die zu vollstreckenden Verwaltungsakte selbst und nicht gegen die Art und Weise der Zwangsvollstreckung wendeten, der Sozialrechtsweg gegeben sei, verkenne das SG, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim SG hinsichtlich des Antragsgegners unzulässig sei. Die Antragstellerin wende sich mit der Einrede der Verjährung nur gegen die der Vollstreckung zugrundeliegende Forderung. Insoweit sei aber allein die Beigeladene als Adressat der der Vollstreckung zugrundeliegenden Zahlungsaufforderung der richtige Antragsgegner. Die Antragstellerin wolle gerade keinen vollstreckungsrechtlichen Rechtsbehelf gegen den Antragsgegner geltend machen, weil sie sich nicht gegen die Art und Weise der drohenden Vollstreckung wende.

Nach § 40 Abs. 8 SGB II, § 5 Abs. 1 Verwaltungsvollstreckungsgesetz (VwVG) richte sich die Vollstreckung nach den Vorschriften der AO, deren gerichtliche Überprüfung in die Zuständigkeit der Finanzgerichte falle. Gegenüber dem Antragsgegner (Hauptzollamt) als Vollstreckungsbehörde könne sich die Antragstellerin im Hinblick auf die Art und Weise von Vollstreckungsmaßnahmen wehren. Einwendungen gegen den zu vollstreckenden Verwaltungsakt selbst seien grundsätzlich nach § 256 AO außerhalb des Vollstreckungsverfahrens zu verfolgen. Sofern sich die Antragstellerin mit ihrem Begehren ausdrücklich nur gegen das Hauptzollamt wende, sei nur der Rechtsweg zu den Finanzgerichten gegeben und der Rechtsstreit hätte dorthin verwiesen werden müssen. Sofern Vollstreckungsschutz gegen Maßnahmen der Vollstreckungsanordnungsbehörde (§ 3 Abs. 4 VwVG) begehrt werde, sei dies gegenüber der Vollstreckungsanordnungsbehörde zu beantragen, hier also der Beigeladenen.

Die Antragstellerin tritt dem Vorbringen ebenfalls unter Bezugnahme auf landes- und bundessozialgerichtliche Rechtsprechung entgegen. Einwendungen gegen die zu vollstreckenden Verwaltungsakte selbst seien – anders als Einwendungen gegen die Modalitäten der Vollstreckung – im Sozialrechtsweg geltend zu machen. Es treffe auch nicht zu, wenn der Antragsgegner meine, ausschließlich das Finanzgericht sei für den Zoll zuständig. Sofern dies der Fall wäre, hätte für das BSG kein Grund bestanden, im Rahmen seines Urteils vom 14. Mai 2020 (B 14 AS 28/19 R) Ausführungen hinsichtlich der Prüfpflichten zu tätigen. In Fällen, in denen eine Behörde den Einzug ihrer Forderung auf eine weitere Behörde übertrage, begründe dies ein Rechtsverhältnis zwischen dieser weiteren Behörde und dem Vollstreckungsschuldner. Die mit dem Forderungseinzug beauftragte Behörde erhalte eine Garantenstellung für die Statthaftigkeit der Vollstreckung und habe das Vorliegen von die Anordnungsvoraussetzungen betreffenden Rügen zu prüfen. Soweit das BSG ausgeführt habe, dass durch die Beauftragung zur Vollstreckung ein Rechtsverhältnis begründet worden sei und die vollstreckende Behörde die Einwendungen zu prüfen habe, sei im vorliegenden Fall der Antragsgegner auch der richtige Passivbeteiligte.

Soweit die Beigeladene die Auffassung vertrete, die Forderungen aus den Bescheiden vom 16. November 2017 und 27. Juli 2018 seien aufgrund der Abgabe an das Hauptzollamt nicht verjährt, könne dem nicht gefolgt werden. Nach § 212 Abs. 1 Nr. 2 BGB beginne die Verjährung erneut, wenn eine behördliche Vollstreckungshandlung beantragt werde. Die Abgabe der Forderungen an den Antragsgegner sei jedoch kein Antrag auf Zwangsvollstreckung, so dass dadurch die Verjährungsfrist nicht neu beginne. Der Antragsgegner habe mit Schreiben vom 20. Januar 2023 ausgeführt, am 29. Dezember 2022 ein Vollstreckungsersuchen erhalten zu haben. Zu diesem Zeitpunkt sei die Forderung jedoch bereits verjährt gewesen.

Die Beigeladene hat sich im Beschwerdeverfahren dahingehend geäußert, dass sie sich dem Vorbringen des Antragsgegners in der Beschwerdeschrift vom 16. März 2023 anschließe.

                                                                       II.

Die nach § 172 Abs. 1 SGG statthafte und nach § 173 SGG auch im Übrigen zulässige Beschwerde ist nur teilweise begründet.

1. Der Rechtsweg zur Sozialgerichtsbarkeit ist eröffnet, denn vorliegend handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG – Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Maßgebend für die Beurteilung der Frage, welcher Rechtsweg gegeben ist, ist der Streitgegenstand (Flint in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 51 SGG - Stand: 03.11.2023, Rn. 38). Der Streitgegenstand bestimmt sich durch den gestellten Antrag und einen Lebenssachverhalt im Sinne eines Klagegrundes (vgl. Flint, a. a. O., Rn. 40). Streitgegenständlich ist vorliegend das Begehren der Antragstellerin, der Antragsgegner solle die bereits angekündigte Zwangsvollstreckung aus den Bescheiden vom 21. Mai 2013, 20. September 2017, 16. November 2017 und 27. Juli 2018 vorläufig einstellen, da diese Forderungen, die dem Rechtskreis des SGB II entstammen, verjährt seien. Wie bereits das SG zutreffend ausgeführt hat, macht die Antragstellerin damit vorliegend Einwendungen gegen die zu vollstreckenden Verwaltungsakte selbst geltend, wofür der Weg zur Sozialgerichtsbarkeit eröffnet ist, denn die Frage, ob die Forderungen verjährt sind, richtet sich nach den Vorgaben des Sozialgesetzbuchs. Die Antragstellerin wendet sich hingegen nicht gegen die Art und Weise der Zwangsvollstreckung, für die der Weg zu den Finanzgerichten gegeben wäre (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Mai 2020 – L 3 AS 1168/20 ER-B, Rn. 10 m. w. N.; Senatsbeschluss vom 28. Januar 2008 – L 11 AL 165/07 R, Rn. 8; Flint in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 51 SGG - Stand: 03.11.2023, Rn. 390).

Der Umstand, dass die Antragstellerin sich mit ihrem Begehren gegen den Antragsgegner wendet, ändert nichts an der Rechtswegzuständigkeit. Entscheidend für die Frage des Rechtsweges ist nicht, gegen wen sich das Begehren der Antragstellerin richtet, sondern aus welchem Grund - Verjährung - sie es verfolgt. Nichts Anderes ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus der vom Antragsgegner angeführten Entscheidung des Bayerischen LSG (Beschluss vom 29. April 2014 – L 7 AS 260/14 B ER). Mit dieser Entscheidung hat das Bayerische LSG einen Rechtsstreit letztlich deswegen an die erste Instanz zurückverwiesen, weil einem von der Rechtsantragstelle des SG formulierten – und vom SG seiner Entscheidung zugrunde gelegten Antrag – nicht genau zu entnehmen war, um was für einen Streitgegenstand es sich handelte. Insbesondere hat das Bayerische LSG bei der Zurückverweisung bemängelt, das SG habe eine Klärung der Frage versäumt, aus welchem rechtlichen Grund und gegen welche Behörde Rechtsschutz begehrt worden sei (Rn. 21ff., a. a. O.). Sodann hat das Bayerische LSG die Möglichkeiten aufgezeigt, die bestehen, um Rechtsschutz gegen die unterschiedlichen involvierten Behörden zu erlangen. In diesem Zusammenhang hat das Gericht u. a. auch deutlich gemacht, dass gegenüber einem Hauptzollamt Einwendungen gegen die Modalitäten der Vollstreckung geltend gemacht werden können. Vor diesem Hintergrund ist die in diesem Kontext zutreffende Formulierung des Bayerischen LSG zu verstehen, dass bei einem ausdrücklich nur gegen das Hauptzollamt wegen der Modalitäten der Vollstreckung gerichteten Begehren der Rechtsweg zu den Finanzgerichten gegeben sei. Zu der Frage der Geltendmachung materiell-rechtlicher Einwände gegenüber einem Hauptzollamt äußert sich das Bayerische LSG hingegen nicht.

Demgegenüber ist vorliegend der Streitgegenstand von der Antragstellerin bereits erstinstanzlich klar umrissen worden: Sie begehrt vom Antragsgegner (Hauptzollamt) die vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung wegen der geltend gemachten Verjährung. Damit werden zweifelsfrei gerade nicht die Modalitäten der Vollstreckung bemängelt, sondern Einwendungen gegen die zu vollstreckenden Verwaltungsakte geltend gemacht (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, Rn. 39, Stichwort „Vollstreckung Sozialrechtsweg“).

2. Gem. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung einer solchen Regelungsanordnung ist das Vorliegen eines die Eilbedürftigkeit der Entscheidung rechtfertigenden Anordnungsgrundes und das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs, d. h. einer dem geltend gemachten Anspruch entsprechenden materiell-rechtlichen Rechtsposition. Zu Recht hat das SG die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenüber dem Antragsgegner als erfüllt angesehen.

a) Rechtsgrundlage für einen Anordnungsanspruch auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Einstellung der Zwangsvollstreckung ist § 257 AO i. V. m. § 5 Abs. 1 VwVG (vgl. BSG, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 38/14 R, Rn. 18; LSG Baden-Württemberg, a. a. O., Rn. 17; Senatsbeschluss vom 28. Januar 2008 – L 11 AL 165/07 ER). Ausgangspunkt ist dabei der Umstand, dass das JC Region Hannover eine gemeinsame Einrichtung der Träger der Grundsicherung im Sinne von § 44b SGB II ist. Damit gilt für die Vollstreckung von Ansprüchen des JC Region Hannover gem. § 40 Abs. 8 SGB II das VwVG. Zur Anwendung gelangen damit insbesondere die Regelungen über die Vollstreckung von Geldforderungen in §§ 1 bis 5 VwVG mit dem dort enthaltenen Verweis auf bestimmte Vorschriften der AO, u. a. § 257 AO (vgl. Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 40 - Stand: 07.02.2023, Rn. 271f.).

Nach § 257 Abs. 1 Nrn. 1 bis 4 AO ist die Vollstreckung einzustellen oder zu beschränken, sobald die Vollstreckbarkeitsvoraussetzungen des § 251 Abs. 1 AO weggefallen sind (Nr. 1), der Verwaltungsakt, aus dem vollstreckt wird, aufgehoben wird (Nr. 2), der Anspruch auf die Leistungen erloschen ist (Nr. 3) oder die Leistungen gestundet worden ist (Nr. 4). Die Einrede der Verjährung, auf die die Antragstellerin sich vorliegend beruft, ist nicht ausdrücklich von § 257 Abs. 1 AO erfasst. Der Senat hält aber insoweit eine analoge Anwendung für gerechtfertigt (so auch Aubel, a. a. O., Rn. 281.1; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. November 2020 – L 14 AL 4/20; Rn. 57; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. September 2020 – L 29 AS 998/20 B ER, Rn. 16ff.; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Mai 2020, a. a. O., Rn. 23; vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. Dezember 2018 – L 34 AS 2224/18 B ER, Rn. 15). Maßgebend ist dabei der Umstand, dass § 257 AO in seinem originären Geltungsbereich – dem Steuerrecht – zweifelsfrei den Fall der Verjährung umfasst, denn im Steuerrecht bewirkt die Verjährung das Erlöschen der Steuerforderung (§ 232 AO), so dass im Falle der Verjährung die Alternative des § 257 Abs. 1 Nr. 3 AO – Erlöschen des Anspruchs – erfüllt ist. Da die Verjährung im Sozialrecht nicht zum Erlöschen der Forderung führt, wäre bei wortlautgetreuer Auslegung im Falle der Verjährung keine Möglichkeit gegeben, gegen die Vollstreckung vorzugehen. Es könnte lediglich ein Fall der Unbilligkeit der Vollstreckung nach § 258 AO vorliegen, in deren Folge die Vollstreckungsbehörde im Ermessenswege über die Einstellung oder Beschränkung zu entscheiden hätte. Vor diesem Hintergrund hält der Senat es für gerechtfertigt, § 257 Abs. 1 Nr. 3 AO im Anwendungsbereich des § 40 SGB II analog auf den Fall der Verjährung anzuwenden. Es entspricht der materiellen Gerechtigkeit und der Prozessökonomie, wenn der Schuldner die Einrede der Verjährung im Rahmen der Vollstreckung geltend machen kann und nicht darauf verwiesen wird, die Vollstreckungsmaßnahmen zunächst hinzunehmen und dann im Nachhinein die Rückabwicklung zu verfolgen.

b) Die Antragstellerin kann den auf Verjährung gegründeten Anspruch auf Einstellung der Vollstreckung auch gegenüber dem Antragsgegner geltend machen. Dieser ist passivlegitimiert. Grundsätzlich sind nach § 256 AO zwar Einwendungen gegen den zu vollstreckenden Verwaltungsakt außerhalb des Vollstreckungsverfahrens mit den hierfür zugelassenen Rechtsbehelfen zu verfolgen. Es ist aber anerkannt, dass gegenüber einem Hauptzollamt als Vollstreckungsbehörde auch Einwendungen aus materiellem Recht geltend gemacht werden können (vgl. BSG, Urteil vom 25. Juni 2015 - B 14 AS 38/14 R, Rn. 19; vgl. auch den Sachverhalt, der dem Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 27. Mai 2020 – L 3 AS 1168/20 ER-B – zugrunde lag: offensichtlich war der Eilantrag auch gegen ein Hauptzollamt gerichtet, vgl. Rn. 6). Insbesondere für Einstellungsentscheidungen nach § 257 Abs. 1 AO ist die Zuständigkeit des Antragsgegners als mit der Durchführung der Vollstreckung beauftragter Behörde gegeben (BSG, Urteil vom 25. Juni 2015, a. a. O.). Dass darüber hinaus auch die Beigeladene als Vollstreckungsanordnungsbehörde Pflichten im Zusammenhang mit den Anforderungen an rechtmäßige Vollstreckungsanordnungen hat (vgl. dazu ausführlich BSG, Urteil vom 14. Mai 2020 – B 14 AS 28/19 R), ändert nichts an den Pflichten und Zuständigkeiten des Antragsgegners als Vollstreckungsbehörde.

c) Streitig ist im Beschwerdeverfahren lediglich noch der Eintritt der Verjährung im Hinblick auf die Forderungen aus den Bescheiden vom 16. November 2017 und 27. Juli 2018. Nur insoweit hat die Beigeladene die Verjährung nicht anerkannt und den Antragsgegner weiterhin aufgefordert, die Vollstreckung fortzuführen. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist die Verjährung in Bezug auf die Forderung aus dem Bescheid vom 16. November 2017 in Höhe von 2.645,52 Euro eingetreten, nicht hingegen in Bezug auf die Forderung aus dem Bescheid vom 27. Juli 2018 in Höhe von 497,84 Euro.

Nach derzeitigem Sachstand sind die Bescheide vom 16. November 2017 und 27. Juli 2018 bestandskräftig geworden. Beide Bescheide betreffen Erstattungen nach endgültiger Festsetzung gem. § 41a SGB II (Bl. 31, 39 GA). Auf derartige Erstattungsforderungen ist die vierjährige Verjährungsfrist nach § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X entsprechend anzuwenden (Hengelhaupt in: Hauck/Noftz SGB II, 9. Ergänzungslieferung 2023, § 41a SGB, Rn. 514 m. w. N.). Damit lief die vierjährige Verjährungsfrist für die Forderung aus dem Bescheid vom 16. November 2017 mit Ablauf des Jahres 2021 ab, für die Forderung aus dem Bescheid vom 27. Juli 2018 mit Ablauf des Jahres 2022 (§ 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Verwaltungsakte im Sinne von § 52 SGB X, die die Verjährung gehemmt hätten, sind nicht erlassen worden. Die Bescheide vom 16. November 2017 und 27. Juli 2018 selbst sind nicht solche im Sinne von § 52 SGB X, wie das SG völlig zutreffend ausgeführt hat (vgl. BSG, Urteil vom 4. März 2021 – B 11 AL 5/20 R, Rn. 25).

Die Vorschriften des BGB über die Hemmung (§§ 203ff.), die Ablaufhemmung (§§ 210ff.), den Neubeginn (§ 212) und die Wirkung der Verjährung (§ 214) gelten nach § 50 Abs. 4 Satz 2 SGB X sinngemäß (Merten in: Hauck/Noftz SGB X, 4. Ergänzungslieferung 2023, § 50 SGB X, Rn. 94). In Bezug auf die Forderung aus dem Bescheid vom 27. Juli 2018 können sich der Antragsgegner und die Beigeladene auf den Neubeginn der Verjährung nach § 212 Abs. Abs. 1 Nr. 2 BGB berufen. Demnach beginnt die Verjährung erneut, wenn eine gerichtliche oder behördliche Vollstreckungshandlung vorgenommen oder beantragt wird. Bei sinngemäßer Anwendung der Vorschrift auf die Vollstreckung im Bereich des Sozialgesetzbuchs ist eine an den Antragsgegner gerichtete Vollstreckungsanordnung der Beigeladenen der Beantragung einer behördlichen Vollstreckungshandlung gleichzustellen. Damit führt die Vollstreckungsanordnung vom 29. Dezember 2022 zu einem Neubeginn der Verjährung im Hinblick auf die zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufene Verjährung der Forderung aus dem Bescheid vom 27. Juli 2018. Diese wäre erst mit Ablauf des 31. Dezember 2022 eingetreten (§ 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Insoweit war der Beschluss des SG aufzuheben, denn es besteht kein Anordnungsanspruch.

Hingegen kann die Vollstreckungsanordnung vom 29. Dezember 2022 in Bezug auf die Forderung aus dem Bescheid vom 16. November 2017 an der bereits Ende 2021 eingetretenen Verjährung nichts mehr ändern. Dass die Beigeladene vor Ablauf dieser Verjährung eine Vollstreckungsanordnung an den Antragsgegner gerichtet hat, ist von ihr zwar behauptet worden, ergibt sich aber aus den vorliegenden Unterlagen nicht. Vielmehr weist die Vollstreckungsankündigung des Antragsgegners vom 5. Januar 2023 lediglich auf die Vollstreckungsanordnung vom 29. Dezember 2022 hin (vgl. Bl. 19 GA). Der Antragsgegner hat auch verneint, dass er vor dem 5. Januar 2023 Vollstreckungsankündigungen versandt habe, was ebenfalls gegen frühere Vollstreckungsersuchen spricht. Jedenfalls im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens kann damit vorläufig nicht von einem Neubeginn der Verjährung für die Forderung aus dem Bescheid vom 16. November 2017 ausgegangen werden.

Soweit ein Anordnungsanspruch wegen der eingetretenen Verjährung besteht – d. h. wegen der Forderung aus dem Bescheid vom 16. November 2017 –, ist zweifelsfrei auch ein Anordnungsgrund zu bejahen, denn die Beigeladene hält ihr an den Antragsgegner gerichtetes Vollstreckungsersuchen insoweit aufrecht. Es ist der Antragstellerin nicht zuzumuten, zunächst die Vollstreckung hinzunehmen und dann ein weiteres Verfahren zu deren Rückabwicklung zu führen.

4. Die einstweilige Anordnung mit der Verpflichtung zur vorläufigen Einstellung der Zwangsvollstreckung hätte ohne Weiteres an die Beigeladene als sog. Vollstreckungsanordnungsbehörde gerichtet werden können (vgl. dazu ausführlich BSG, Urteil vom 14. Mai 2020, a. a. O.). Sie hat eine Garantenstellung für die Statthaftigkeit der Vollstreckung und muss u. a. das Vorliegen der Voraussetzungen des § 257 AO prüfen (BSG, a. a. O., Rn. 37). Allerdings hat die Antragstellerin sich vorliegend mit ihrem Begehren ausdrücklich auf eine an den Antragsgegner gerichtete einstweilige Anordnung beschränkt, mit der ihrem Begehren auf vorläufige Einstellung der Vollstreckung auch effektiv genügt werden konnte. Vor diesem Hintergrund bestand für den Senat in Anbetracht der nur vom Antragsgegner eingelegten Beschwerde keine Veranlassung, die Beigeladene in die Verpflichtung aus der einstweiligen Anordnung aufzunehmen.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt den Umstand, dass die Beigeladene als Vollstreckungsanordnungsbehörde für den betragsmäßig weitaus höchsten Teil der insgesamt streitigen Forderungen im März 2023 die Verjährung anerkannt und daraufhin die Vollstreckungsanordnung wegen der Forderungen aus den Bescheiden vom 21. Mai 2013 und 20. September 2017 in Höhe von insgesamt 23.377,13 Euro zurückgezogen hat (vgl. Bl. 141 GA). Die Beigeladene war zwar zu diesem Zeitpunkt noch nicht Beteiligte des vorliegenden Verfahrens, aber wertungsmäßig kommt ihr Verhalten einem Teilanerkenntnis nahe. Hinzu kommt, dass die Beigeladene auf das Schreiben des SG vom 3. März 2023 (Bl. 87 GA) nicht innerhalb der gesetzten Frist reagiert hat. Ihr Schreiben vom 14. März 2023 ging erst am 23. März 2023 beim SG ein (Bl. 133 GA). Bei einer zeitnäheren Reaktion hätte ggf. eine streitige Entscheidung für den Großteil der Forderungen vermieden werden können. Vor diesem Hintergrund ist es gerechtfertigt, neben dem Antragsgegner auch die Beigeladene mit der Kostentragung zu belasten. In Anbetracht des betragsmäßig nur geringen Obsiegens (497,84 Euro) im Vergleich mit den insgesamt streitigen Forderungen (26.520,49 Euro) erschien eine nur anteilige Kostentragung nicht geboten.

6. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

C.                                        D.                                   Dr. E.

Rechtskraft
Aus
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