L 3 U 157/20

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Hannover (NSB)
Aktenzeichen
S 58 U 97/20
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 3 U 157/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 29. September 2020 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist die Höhe einer Verletztenrente.

Der 1956 geborene Kläger ist als selbstständiger Möbeltischler freiwillig versichertes Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft. Am 10. November 2017 stürzte er bei Ausübung seiner Tätigkeit aus etwa einem Meter Höhe von einer Leiter und fiel auf den linken Unterarm. Die am selben Tag aufgesuchten Ärzte J. und Dr. K. diagnostizierten jeweils eine (arti­ku­läre und dislozierte) distale Radius­fraktur links mit mehreren Frag­menten (Durchgangs­arzt­berichte vom Unfalltag), die im L. operativ versorgt wurde (Zwischen­­bericht Dr.  M. ua vom 14. November 2017). Der dabei angelegte Fixateur externe wurde am 22. Dezember 2017 entfernt (Zwischenbericht Dr. M. vom selben Tag).

Seither beklagt der Kläger fortbestehende Funktionseinschränkungen und eine schmerzhafte Belastungsminderung im Bereich des linken Unterarms und der linken Hand. Im März 2018 zeigte sich bei einer MRT-Untersuchung des linken Handgelenks ein Ulnavorschub mit Ulna­impaktion (Bericht des Radiologen Dr. N. vom 13. März 2018). Daraufhin erfolgte im August 2018 eine Ulnaverkürzungsosteotomie (Bericht Prof. Dr. O. ua vom 24. August 2018).

Zur Klärung der verbliebenen Unfallfolgen holte die Beklagte ein Gutachten des Unfallchirurgen Dr. P. ein, der annahm, dass als Unfallfolgen insbesondere noch eine Herabsetzung der Trage- und Belastungsfähigkeit des linken Arms sowie Funktions­ein­schrän­kungen des linken Hand­gelenks bestünden. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzte er ohne nähere Begründung auf 20 vH ein (Gutachten vom 20. August 2019). Demgegenüber ging der beratende Arzt der Beklagten lediglich von einer MdE iHv 10 vH aus (beratungsärztliche Stellung­nahmen Dr.  Q. vom 11. September 2019 und 20. Oktober 2019).

Mit Bescheid vom 28. Januar 2020 gewährte die Beklagte dem Kläger wegen der Folgen des konkludent anerkannten Arbeitsunfalls vom 10. November 2017 eine Rente als vorläufige Ent­schädigung nach einer MdE von 10 vH (unter Berücksichtigung eines weiteren Arbeitsunfalls vom 21. April 2011 als Stützrententatbestand). Als Unfallfolgen an der linken Hand erkannte sie eine Bewegungs­einschränkung im Handgelenk sowie endgradig bei der Unterarmdrehung, belastungs­abhängige Beschwerden, eine Kraftminderung, eine Synovialitis und eine Narben­bildung nach operativ versorgtem knöchern fest verheiltem Mehrfragmentbruch der Speiche mit Gelenk­beteiligung und dorsaler Einstauchung und nachfolgender Verkürzungsosteotomie der Elle an. Demgegenüber lägen eine Discusdegeneration, eine Arthrose im Daumensattelgelenk an der linken Hand, Magenbeschwerden und die Folgen des Unfalls vom 21. April 2011 unabhängig von dem Arbeitsunfall vor.

Der Kläger erhob Widerspruch und wandte ein, dass der Verletztenrente die von Dr.  P. veranschlagte MdE iHv 20 vH zugrunde zu legen sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Nach gültigen Bewertungskriterien könne erst ein Speichenbruch mit erheblicher Achs­abknickung und Einschränkung der Handgelenksbeweglichkeit um 80° eine MdE von 20 vH rechtfertigen. Gegenüber Versicherten mit solchen Funktionseinschränkungen sei der Kläger aber eindeutig bessergestellt, weil sein Speichenbruch in achsengerechter Stellung verheilt sei und die Bewegungs­ausmaße im Hand­gelenk fast im Normbereich lägen. Unter Berücksichtigung auch der ein­geschränk­ten Unterarmdrehbeweg­lich­keit und der geklagten Beschwerden sei lediglich eine MdE von 10 vH begründbar.

Am 27. Mai 2020 hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Hannover Klage erhoben und dort einen Anspruch auf Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 vH geltend gemacht. Dem gutachterlichen Vorschlag von Dr. P. müsse gefolgt werden. Es bestünden weitere Schäden, die als Vorschäden bei der MdE-Bewertung Berücksichtigung finden müssten. Die Schmerzhaftigkeit und Kraftlosigkeit hätten gewissermaßen eine Aufhebung des Gebrauchs­werts der Hand zur Folge.

Mit Gerichtsbescheid vom 29. September 2020 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Zahlung von Verletztenrente nach einer höheren MdE. Aus den unfallbedingten Gesundheitsstörungen, wie sie die Beklagte im angefochtenen Bescheid fest­gestellt habe und die zwischen den Beteiligten erkennbar auch nicht streitig seien, ergebe sich keine MdE von wenigstens 20 vH. Die messbaren Unfallfolgen bestünden in erster Linie in der endgradig eingeschränkten Beweglichkeit des linken Handgelenks. Diese hätten sich sowohl in der Untersuchungssituation durch Dr. Q. (gemeint: Dr. P.) am 12. August 2019 als auch aus dem Untersuchungsbericht der Universitätsklinik R. vom 17. Februar 2020 ergeben. Dies rechtfertige nach den unfallmedizinischen Erfahrungssätzen unter weiterer Berück­sichtigung der Schmerzhaftigkeit und Kraftflussminderung eine MdE von 10 vH. Zu weiteren Ermittlungen habe kein Anlass bestanden, weil der Sachverhalt in medi­zinischer Hinsicht durch die dokumentierten Befunde geklärt sei.

Gegen den seinen Prozessbevollmächtigten am 6. Oktober 2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 2. November 2020 Berufung zum Landes­sozial­gericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Dazu wiederholt er sein bisheriges Vorbringen und vertritt die Auffassung, dass eine MdE von weniger als 20 vH für die von der Beklagten festgestellten Unfallfolgen nicht denkbar sei. Das Schmerz­geschehen in der „Unfall­hand“ wirke sich erheblich auf die MdE aus. Zudem sei ein MdE-Zuschlag wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit im Berufsbild des Klägers (als selbstständiger Möbel­tischler mit hoher Qualifikation) erforderlich.

Zur Vorbereitung einer Entscheidung über die Gewährung einer Rente auf unbestimmte Zeit hatte die Beklagte bereits während des erstinstanzlichen Verfahrens eine weitere beratungs­ärztliche Stellung­nahme von Dr. Q. (vom 1. Oktober 2020) eingeholt, nach dessen Ein­schätzung die MdE aufgrund einer geringen Bewegungs­einschränkung weiterhin mit 10 vH zu bewerten sei. Daraufhin erging nach Zustellung des Gerichtsbescheides des SG und vor Einlegung der Berufung ein weiterer Bescheid, mit dem die Beklagte fest­stellte, dass anstelle der bisherigen Rente als vorläufige Entschädigung eine Rente auf unbestimmte Zeit in gleicher Höhe an den Kläger weiter­gezahlt werde. Es liege weiterhin eine MdE von 10 vH vor, wobei als Unfall­folgen eine geringe Bewegungs­einschränkung im Handgelenk, belastungs­abhängige Beschwerden sowie eine Narbenbildung nach operativ versorgtem knöchern fest verheiltem Mehrfragmentbruch der Speiche mit Gelenk­beteiligung und dorsaler Einstauchung und nach­folgender Verkürzungs­osteo­tomie der Elle mit beginnenden arthrotischen Ver­änderungen im Speichen-Ellengelenk berücksichtigt würden (Bescheid vom 20. Oktober 2020). Widerspruch und Klage gegen diesen Bescheid blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 17. Februar 2021; Gerichts­bescheid des SG Hannover vom 22. Juli 2021 im Verfahren S 58 U 46/21). Die Berufung des Klägers wies der Senat im Verfahren L 3 U 161/21 mit Urteil vom 23. März 2022 zurück und führte zur Begründung aus, dass die Klage unzulässig sei, weil der Bescheid vom 20. Oktober 2020 den im vorliegenden Rechtsstreit angefochtenen Verwaltungs­akt mit Wirkung für die Zukunft ersetzt habe und deshalb (in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Februar 2021) bereits Gegen­stand dieses Verfahrens geworden sei.

Der Kläger beantragt,

            1.  den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 29. September 2020 auf­zuheben und den Bescheid der Beklagten vom 28. Januar 2020 in Gestalt des Wider­spruchs­bescheides vom 14. Mai 2020 sowie den Bescheid vom 20. Oktober 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Februar 2021 abzuändern,

            2.  die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 10. Mai 2019 Verletztenrente iHv mindestens 20 vH der Vollrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung. Im Berufungsverfahren hat sie weitere Befund­unterlagen und ein Gutachten des Neurologen Prof. Dr. S. (vom 8. März 2021) vor­gelegt, nach dessen Einschätzung beim Kläger weder ein komplexes regionales Schmerz­syndrom (CRPS) noch neurologische Auffälligkeiten bestünden.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat den Handchirurgen Dr. T. gutachtlich gehört. Der Sachverständige ist zum Ergebnis gekommen, dass die MdE aufgrund der Unfallfolgen über den 9. Mai 2019 hinaus fortlaufend mit 10 vH einzuschätzen sei. Dafür sei maßgebend, dass beim Kläger weder eine erhebliche Achsenabknickung der Speiche noch eine Ein­schränkung der Handgelenksbeweglichkeit um insgesamt 80° bestünden, sondern lediglich eine Gesamtminderung der aktiven Beweglichkeit von 30°. Zusätzlich bestehe eine Minderung der Außendrehfähigkeit des linken Unterarms um 20° im Seitenvergleich, die jedoch sehr leicht kompensiert werden könne und daher funktionell nur wenig bedeutsam sei (Gutachten vom 2. September 2022).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakten, der beigezogenen Prozessakten des Verfahrens L 3 U 161/21 und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Hannover vom 29. September 2020 hat keinen Erfolg.

A. Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Prozessbevollmächtigten des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung verhandeln und entscheiden, denn mit der - ausweislich des elektronischen Empfangsbekenntnisses am 1. Februar 2023 zugestellten - Terminsmitteilung vom 31. Januar 2023 waren die Prozessbevollmächtigten auf diese Möglichkeit hingewiesen worden. Überdies ist der Kläger persönlich in der mündlichen Verhandlung erschienen und hat im Hinblick auf das Ausbleiben seiner Prozess­bevoll­mäch­tigten nicht um Vertagung des Rechtsstreits nachgesucht, sondern sich selbst zur Sache geäußert und Anträge gestellt, die dem schon aus seinem schriftsätzlichen Vorbringen erkennbaren Begehren entsprechen.

B. Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat seine Klage zu Recht abgewiesen.

I. Gegenstand der Klage (§ 95 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) ist zunächst der Bescheid vom 28. Januar 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2020, mit dem die Beklagte dem Kläger eine Rente als vorläufige Entschädigung ab dem 10. Mai 2019 nach einer MdE von 10 vH gewährt und die Folgen des Arbeitsunfalls vom 10. November 2017 festgestellt hat. Mit seiner hiergegen gerichteten Klage begehrt der Kläger eine Abänderung der angefochtenen Bescheide sowie die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung einer Verletzten­rente iHv mindestens 20 vH der Vollrente.

Ferner ist der Bescheid vom 20. Oktober 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Februar 2021 gemäß § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Nach dieser Vorschrift wird ein neuer Verwaltungsakt nach Klage­erhebung nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Wider­spruchs­bescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Die Vorschrift findet nach ihrem ein­deutigen Wortlaut auch Anwendung, wenn ein neuer Verwal­tungs­akt nach der erstinstanz­lichen Entscheidung, aber noch vor Einlegung der Berufung bzw vor dem Ablauf der Berufungs­frist ergeht (vgl B. Schmidt in: Meyer-Lade­wig/Kel­ler/Lei­therer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 96 Rn 7a mwN). Dies trifft auf den Bescheid vom 20. Oktober 2020 zu.

Der Verwaltungsakt vom 20. Oktober 2020, mit dem die Beklagte festgestellt hat, dass an den Kläger anstelle der bisherigen Rente als vorläufige Entschädigung eine Rente auf unbestimmte Zeit in gleicher Höhe weitergezahlt werde, ist nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 2020 ergangen und hat den Bescheid vom 28. Januar 2020 in Gestalt des Wider­spruchsbescheides mit Wirkung für die Zukunft abgeändert, mithin - mangels Festsetzung eines anderen Zeitpunkts der Wirksamkeit der getroffenen Feststellung - ab Bekanntgabe des Bescheides (vgl bereits Senatsurteil vom 23. März 2022 - L 3 U 161/21 -).

Eine Abänderung liegt vor, wenn der mit der Klage angefochtene Verwaltungsakt teilweise auf­gehoben und durch eine neue Regelung ersetzt wird. Eine Ersetzung liegt vor, wenn der neue Ver­waltungsakt ganz an die Stelle des alten tritt (vgl B. Schmidt aaO, Rn 4). Diese Voraus­setzungen sind hier insoweit erfüllt, als der Bescheid über die Rente auf unbestimmte Zeit den Verwaltungs­akt, mit dem eine Rente als vorläufige Entschädigung gemäß § 62 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) bewilligt worden ist, teilweise aufhebt und durch eine neue Regelung ersetzt (vgl dazu B. Schmidt aaO mwN, Rn 9c; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. Oktober 2011 - L 10 U 4346/08 -, juris; Senatsurteil vom 14. März 2018 - L 3 U 166/14 -; im Ergebnis ebenso LSG für das Saarland, Urteil vom 18. Januar 2006 - L 2 U 174/03 -, juris). Dabei liegt eine Ersetzung lediglich für die Zukunft, mithin ab Bekanntgabe des neuen Bescheides vor; für den damit zugleich begrenzten Zeitraum der als vorläufige Entschädigung gewährten Rente bleibt demgegenüber der Bescheid vom 28. Januar 2020 maßgebend.

II. Die so verstandene Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs 1 und 4 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig.

III. Die Klage ist aber unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer höheren Verletztenrente.

1. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 56 SGB VII. Nach dessen Abs 1 S 1 haben Versicherte, deren Erwerbs­fähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigs­tens 20 vH gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (Abs 1 S 2); dabei sind die Folgen eines Versicherungsfalls nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vH mindern (Abs 1 S 3).

Die Rente ist gemäß § 56 Abs 3 S 2 Halbs 2 SGB VII iH des Vomhundertsatzes der Vollrente festzusetzen, der dem Grad der MdE entspricht. Die MdE richtet sich gemäß § 56 Abs 2 S 1 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden vermin­der­ten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Anhaltspunkte für die Bemessung der MdE im Einzelfall bilden die sog Erfahrungs­werte, die sich in der gesetzlichen Unfallversicherung im Laufe der Zeit bei einer Vielzahl von Unfallfolgen herausgebildet haben (vgl hierzu Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 13. September 2005 - B 2 U 4/04 R -, juris, Rn 33 mwN). Dabei haben ärztliche Meinungs­äußerungen darüber, inwie­weit Beeinträchtigungen der körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfall­folgen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, für die Gerichte keine verbindliche Wirkung. Derartige Meinungsäußerungen sind nach ständiger Recht­sprechung des BSG aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richter­liche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind (vgl BSG, Urteil vom 30. Juni 1998 - B 2 U 41/97 R -, SozR 3-2200 § 581 Nr 5, juris Rn 20).

2. Bei Zugrundelegung dieser Vorgaben besteht bei dem Kläger seit dem 10. Mai 2019 aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls vom 10. November 2017 lediglich eine MdE um 10 vH.

a) Der Senat stützt seine Beurteilung auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. T.. Nach dessen schlüssigen und überzeugenden Ausführungen, gegen die die Beteiligten insoweit auch keine konkreten Einwendungen erhoben haben, sind eine Minderung der Beweglichkeit des linken Handgelenks des Klägers (Gesamtminderung 30°), eine Minderung der Außendreh­fähig­keit seines linken Unterarms um 20° im Seitenvergleich, eine Minderung der groben Kraft links und eine Minderung der Muskulatur, zeitgerecht verheilte Operationsnarben an der speichen­­seitigen linken Hand sowie an der linken Speiche (nach Anwendung eines Fixateurs externe), eine zeitgerecht verheilte Operationsnarbe an der linken Elle nach Verkürzung der Elle, eine radiologisch mit geringer Verwerfung ver­heilte linksseitige mehrfragmentäre Trümmer­fraktur der Speiche, eine leichte Verschmälerung des Gelenkspalts zwischen der körperfernen Speiche und der Handwurzel (posttraumatische Arthrose) sowie eine in guter Stellung bei regel­haft liegendem Osteosynthesematerial verheilte Ellenverkürzung mit Wahr­schein­lichkeit durch das Unfallereignis vom 10. November 2017 verursacht worden.

Soweit der Kläger in seiner persönlichen Stellungnahme vom 10. Oktober 2022 pauschal ein­wendet, das Gutachten von Dr. T. entspreche nicht der Realität seines Gesund­heits­zustands, lässt dieses Vorbringen schon nicht erkennen, welche konkreten gesundheit­lichen Verhältnisse der Sachverständige unberücksichtigt gelassen oder fehlerhaft beurteilt haben sollte. Auch aus der Behauptung, ihm, dem Kläger, sei von ärztlicher Seite eine Versteifung des Handgelenks empfohlen worden und der Sachverständige habe hierüber kein Wort ver­loren, ergibt sich kein Anhaltspunkt für eine Unrichtigkeit der vom Sach­ver­ständigen festgestellten und in seinem Gutachten dargelegten aktuellen Befunde im Bereich des linken Handgelenks. Eine Hand­gelenks­versteifung ist tatsächlich nicht erfolgt und kann deshalb auch nicht bei der Bewertung der MdE zugrunde gelegt werden. Damit kommt es nicht darauf an, dass die behauptete Empfehlung auf der Grundlage zahl­reicher akten­kundiger Arztberichte ohnehin nicht nach­vollzogen werden kann.

Soweit der Kläger annimmt, der Sachverständige habe die ärztlich verordnete Hand­gelenks­orthese nicht berücksichtigt, trifft das ausweislich des Gutachtens vom 2. September 2022 (dort S 11, 16 und 17) nicht zu. Welche Einschränkungen möglicherweise mit dem Tragen der Orthese bei der Ausübung der konkreten beruflichen Tätigkeit verbunden sein könnten, spielt für die Beurteilung der MdE aber keine Rolle, weil hierfür die verminderten Arbeits­möglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens entscheidend sind.

Schließlich vermag der Senat auch keine Hinweise auf einen ursächlichen Zusammen­hang zwischen den Folgen des in Rede stehenden Arbeitsunfalls vom 10. November 2017 und einer vom Kläger angeführten Sägeschnittverletzung vom 10. August 2021 zu erkennen. Für die Annahme eines solchen Zusammenhangs gibt schon sein Vortrag, er habe einen Krampfanfall in der linken Hand erlitten, dadurch das Werkstück nicht mehr halten können und sich daraus resul­tierend eine Sägeschnittverletzung am rechten Zeige­finger zugezogen, keine ausrei­chen­den Anhaltspunkte her. Zudem sind keinerlei ärztlichen Befund­unterlagen oder Einschätzungen vor­gelegt oder benannt worden, die die Annahme eines Zusammenhangs stützen könnten. Bei derart vagen Angaben des (durch auf das Recht der gesetz­lichen Unfall­versicherung spezialisierte Rechtsanwälte) fachkundig vertretenen Klägers besteht keine Veranlassung zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen, die nur ins Blaue hinein geführt werden könnten.

b) Weitere Unfallfolgen außerhalb des Fachgebiets des vom Senat bestellten Sachverständigen sind weder schlüssig vom Kläger geltend gemacht worden noch von Amts wegen ersichtlich. Dies gilt insbesondere in Bezug auf das neurologische Fachgebiet, zu dem die Beklagte parallel zum Berufungsverfahren weitere Ermittlungen durchgeführt und das (im Wege des Urkunden­beweises verwertbare) Gutachten des Neurologen Prof. Dr. S. vorgelegt hat. Dessen Ausführungen, wonach ein CRPS nicht vorliege und auch in sämtlichen Voruntersuchungen keine entsprechenden Symptome und Befunde genannt würden, ist der Kläger in der Sache ebenso wenig entgegengetreten wie der Feststellung, dass sich keine neurologischen Auffällig­keiten gefunden hätten. Eine Fehlerhaftigkeit dieser Einschät­zung des Neurologen ist auch von Amts wegen nicht erkennbar, zumal auch der Sach­verständige Dr.  T. keine Anhalts­punkte für das Vorliegen eines CRPS an der linken Hand des Klägers hat finden können.

Eine andere Beurteilung ergäbe sich auch nicht, wenn man das Gutachten von Prof. Dr.  S. wegen eines Verstoßes gegen das Gutachterauswahlrecht des Versicherten gemäß § 200 Abs 2 SGB VII als unverwertbar ansähe. Denn auch dann lägen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass bei dem Kläger Gesundheitsstörungen auf neurologischem Fachgebiet vorliegen könnten. Wie vorstehend ausgeführt, behauptet der Kläger solche auch selbst nicht. Auch insoweit besteht daher kein Anlass für weitere Ermittlungen.

c) Die danach bestehenden Unfallfolgen bedingen eine MdE von 10 vH.

Der Senat schließt sich auch in dieser Hinsicht der überzeugend begründeten Einschätzung des Sach­verständigen Dr. T. an, die im Einklang mit den im Gutachten zutreffend angeführten Erfahrungswerten steht. Danach kann im Falle eines Speichenbruchs, der mit erheblicher Achsenabknickung verheilt ist und in dessen Folge eine Einschränkung der Handgelenks­bewegungen um insgesamt 80° vor­liegt, von einer MdE iHv 20-30 vH ausgegangen werden (vgl Schönberger/Mehr­tens/Valen­tin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl 2017, S 581; Tho­mann/Schröter/Grosser, Orthopädisch-unfallchirurgische Begut­achtung, 3. Aufl 2020, S 556). Im Vergleich hierzu ist der Kläger jedoch deutlich bessergestellt, weil bei ihm lediglich geringe Verwerfungen der körperfernen Speiche bestehen, die nicht mit einer erheblichen Achsen­ab­knickung vergleichbar sind, sondern biomechanisch lediglich einer leichten Abknickung entsprechen. Außerdem ist die Beweglichkeit seiner linken Hand insgesamt lediglich um 30° eingeschränkt.

Bei isolierter Betrachtung dieser Befunde ist der Unfallfolgen­zustand beim Kläger daher sogar noch günstiger als im Falle eines Speichenbruchs mit Achsenabknickung und Einschränkung der Handgelenksbewegungen um insgesamt 40°, für den erst eine MdE iHv 10 vH veranschlagt werden könnte (vgl Schönberger/Mertens/Valentin aaO; Thomann/Schröter/Grosser aaO). Mit dem Sachverständigen Dr. T. geht der Senat aber davon aus, dass die Berück­sichtigung der zusätzlich bestehenden endgradigen Minderung der Außendrehfähigkeit des linken Unter­arms insgesamt die Annahme einer MdE von 10 vH rechtfertigt. Eine weiter­gehende Erhöhung der MdE ergibt sich daraus aber nicht, weil die Drehminderung nach den plausiblen Aus­führungen des Sachverständigen durch Mitbewegungen im Schulter­bereich und im Bereich der Wirbelsäule sehr leicht kompensiert werden kann und deshalb funktionell wenig bedeutsam ist.

Dieses Ergebnis ist auch bei einem Vergleich mit anderen unfallmedizinischen Erfahrungs­werten plausibel. So kann auch im Falle einer Einschränkung der Streckung (Hebung; Exten­sion) und Beugung (Senkung; Flexion) der Hand auf 20°-0-30° lediglich eine MdE von 10 vH an­genommen werden (vgl Schiltenwolf/Hollo/Gaidzik, Begutachtung der Haltungs- und Bewe­gungs­organe, 7. Aufl 2021, S 806; Mehrhoff/Ekkernkamp/Wich, Unfallbegutachtung, 14. Aufl 2019, S 174). Nach den unwider­sprochen gebliebenen Ausführungen des Sachverständigen ist die Handhebung beim Kläger noch bis 55° möglich und damit deutlich günstiger als in dem genannten Erfahrungswert. Die Hand­senkung ist bei der passiven Prüfung noch bis 30° ausführbar. Insgesamt bedingen die Einschränkungen der Handgelenksbeweglichkeit daher für sich genommen keine MdE von 10 vH; bei Mitberücksichtigung der leichten Einschränkung der Unter­armdreh­fähigkeit erscheint die Annahme einer MdE von 10 vH aber angemessen.

Die Annahme einer höheren MdE lässt sich auch nicht im Hinblick auf die vom Kläger geltend gemachte Schmerzsymptomatik begründen. In Betracht kommt dies erst bei außer­gewöhn­lichen Schmerzen, die das Ausmaß der üblicher­weise mit der Verletzung verbundenen Schmer­zen erkennbar übersteigen und deshalb nicht bereits in der MdE-Bewertung der jeweiligen Schädigung berücksichtigt sind (vgl dazu auch Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO, S 230 ff). Für einen derartigen Sachverhalt fehlt es aber an jeglichen tatsächlichen Anknüpfungs­punkten. Es ist schon nicht ersichtlich, dass ärztlicherseits die Annahme außergewöhnlicher Schmerzen geäußert worden wäre, und dafür findet sich auch in den eingeholten Gutachten kein Anhalt. So hat der Sachverständige Dr. T. dargelegt, dass beide Hände ohne auffallende Seitendifferenz beschwielt sind. Demgegenüber ist zwar die Bemuskelung der linken oberen Extremität im Seitenvergleich leicht gemindert. Die Abweichungen von 0,5-1,5 cm sind aber auch unter Berücksichtigung der üblichen Messfehlerbreite noch derart gering, dass sie nicht auf eine relevante Schonung der linken oberen Extremität schließen lassen, wie sie bei einer erheblichen Schmerz­symptomatik zu erwarten wäre. Damit stellt der Senat nicht infrage, dass an der linken Hand des Klägers überhaupt Schmerzen aufgrund der verbliebenen Unfallfolgen bestehen; diese sind aber bereits in den der vorstehenden MdE-Bewertung zugrunde gelegten Erfahrungs­werten berücksichtigt.

Die hiervon abweichende Auffassung des Gutachters Dr. P. vermag nicht zu überzeugen, weil sie mit den anerkannten Erfahrungswerten nicht in Übereinstimmung zu bringen ist und der Gutachter auch im Ansatz nicht erklärt hat, weshalb er von einer MdE von 20 vH ausgeht. Die von ihm selbst erhobenen Befunde weichen in Bezug auf die genannten Erfahrungswerte nicht wesentlich von den durch Dr. T. dargelegten Befunden ab. Teilweise sind sie sogar besser; namentlich konnte der Kläger die linke Hand seinerzeit noch bis 40° senken. Da Dr.  P. weder eine plausible medizinische Begründung für seine Einschätzung gegeben noch die aus seiner Sicht maßgebenden Erfahrungswerte benannt hat, ist sein Gutachten insoweit letztlich unbrauchbar.

d) Nicht nachvollziehbar ist das Vorbringen des Klägers, bei der MdE-Bewertung müssten Vorschäden und der Umstand berücksichtigt werden, dass er „am paarigen Organ“, nämlich an beiden Händen „betroffen“ sei. Insoweit fehlt es an jeglichem konkreten Vortrag, um welche konkreten (ggf auch an der rechten Hand bestehenden) Vorschäden es sich handeln soll, und auch von Amts wegen bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die MdE mit der dargelegten Bewertung der Unfallfolgen an der linken Hand nicht ausreichend bewertet wäre. Dafür, dass - wie der Kläger pauschal behauptet - der Schaden an der linken Hand nicht mit der gesunden rechten Hand kompensiert werden könnte, finden sich in den Gutachten von Dr. P. und Dr. T. keinerlei Hinweise.

e) Es ist auch keine besondere berufliche Betroffenheit des Klägers gemäß § 56 Abs 2 S 3 SGB VII zu berücksichtigen. Nach dieser Vorschrift sind bei der Bemessung der MdE Nachteile zu berücksichtigen, die Versicherte dadurch erleiden, dass sie bestimmte von ihnen erworbene besondere berufliche Kennt­nisse und Erfahrungen infolge des Versicherungsfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen können, soweit solche Nachteile nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung ihnen zugemutet werden kann, ausgeglichen werden.

Die Regelung in § 56 Abs 2 S 3 SGB VII lässt jedoch keine allgemeine Berück­sichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit - etwa entsprechend den Grundsätzen des § 30 Abs 2 Bundesversorgungsgesetz - zu (dazu und zum Folgenden vgl BSG, Urteil vom 5. September 2006 - B 2 U 25/05 R, SozR 4-2700 § 56 Nr 2, juris Rn 18 ff). Eine derartige Auslegung widerspräche der Systematik des Rechts der gesetzlichen Unfall­versicherung, das für die Bemessung der Verletztenrente anders als das Versorgungsrecht für Beschädigtengrund­renten nicht lediglich ohne Rücksicht auf Alter und Einkommen des Beschäftigten allein nach der Höhe der MdE zu gewährende Pauschalsätze vorsieht, sondern (auch) den individuelleren Maßstab des vom Verletzten während des letzten Jahres vor dem Versicherungsfall verdienten Arbeits­entgelts zugrunde legt. Die eine Höherbewertung der MdE rechtfertigenden Nachteile liegen im Rahmen des § 56 Abs 2 S 3 SGB VII nur dann vor, wenn unter Wahrung des in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung die Nicht­berücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei der Bewertung der MdE im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde (vgl BSG aaO mwN). Selbst wenn der Verletzte seinen erlernten Beruf infolge des Versicherungsfalles nicht mehr ausüben kann, muss dies daher nicht zwangsläufig zu einer Erhöhung der MdE führen.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze lassen sich dem Vorbringen des Klägers keinerlei Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Nicht­berücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei der Bewertung der MdE in seinem Fall zu einer unbilligen Härte führen könnte. Dafür ist auch von Amts wegen nichts ersichtlich. Es bleibt daher bei der Grundregel, dass die MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens zu bemessen ist. Darauf, ob und ggf welche Einschränkungen der Kläger in seiner Berufstätigkeit als Möbeltischler aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls hat, kommt es demzufolge nicht an.

C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG), sind nicht ersichtlich.

Rechtskraft
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