L 16 KR 357/23 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 14 KR 45/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 16 KR 357/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde der Antragsgegnerinnen gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 22.03.2023 wird zurückgewiesen.

 

Die Antragsgegnerinnen tragen auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

 

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 48.750,00 € festgesetzt.

 

 

 

Gründe:

 

I.

Die Beteiligten streiten um die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage der Antragstellerin gegen die Widerlegung einer Mindestmengenprognose.

 

Die Antragstellerin ist Trägerin des zur Behandlung von Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zugelassenen Krankenhauses in R. (B.-Krankenhaus) In diesem wurden im Jahr 2019 21, im Jahr 2020 18, im Jahr 2021 11 sowie in den letzten zwei Quartalen 2021 und den ersten zwei Quartalen 2022 zusammen 13 komplexe Eingriffe am Organsystem Ösophagus gemäß den Regelungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) gemäß § 136b Abs. 1 Satz 1 Nummer 2 SGB V für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser (Mindestmengenregelung, Mm-R) durchgeführt.

 

Mit Schreiben vom 04.08.2022/Datenlieferung vom 11.08.2022 übermittelte die Antragstellerin den Antragsgegnerinnen und Antragsgegnern (im folgenden einheitlich Antragsgegnerinnen) die Ist-Leistungszahlen der vorliegend streitigen Eingriffe der Jahre 2021 bzw. 2021/2022 und teilte mit, pandemiebedingt habe sie, wie viele andere Krankenhäuser auch, immer wieder und auch im hier maßgeblichen Leistungsbereich planbare Operationen, Aufnahmen und Eingriffe auf unbestimmte Zeit verschieben müssen. Da sie bereits über Jahre in dem maßgeblichen Leistungsbereich tätig sei und als zertifiziertes onkologisches Zentrum (Krebszentrum) über ein etabliertes Netzwerk aus qualifizierten und zertifizierten Partnern verfüge sowie in Krankenhausvergleichen vordere Plätze belege (z.B. Rang 126 FAZ Deutschlands beste Krankenhäuser vom 14.07.2022) gehe sie davon aus, dass ihre Fallzahlen im Jahr 2023 ohne COVID-19-Einschränkungen steigen würden und sie die Vorgaben der Mindestmengen im Jahr 2023 erfüllen werde. Die bestehende Qualität der onkologischen Versorgung am B.-Krankenhaus sei mit dem Feststellungsbescheid der Bezirksregierung H. vom 07.04.2022 mit dem Ausweis eines „Onkologischen Zentrums“ nach GBA-Richtlinie hervorgehoben. Auch vor dem Hintergrund dieser strukturellen Neuerung gehe sie davon aus, dass sie die Vorgaben der Mindestmengen umfassend erfüllen werde.

 

Mit einem gemeinsamen Schreiben vom 01.09.2022 hörten die Antragsgegnerinnen die Antragstellerin dazu an, dass sie aufgrund erheblicher Zweifel erwögen, deren Mindestmengenprognose zu widerlegen. Bereits anhand der vor der Corona-Pandemie durchgeführten Leistungsmenge sei festzustellen, dass die Leistungszahlen unter der ab dem Kalenderjahr 2023 maßgeblichen, deutlich höheren Anzahl von 26 Eingriffen pro Jahr lägen. Da die maßgeblichen Eingriffe aufgrund der Schwere der zugrundeliegenden Erkrankungen nicht beliebig verschiebbar seien, sei der Verweis auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht nachvollziehbar. Im Versorgungsgebiet 6 führten zudem neben der Antragstellerin nur noch das Gemeinschaftskrankenhaus und das Universitätsklinikum (R.) komplexe Eingriffe am Organsystem Ösophagus durch. Da von allen drei Krankenhäusern zusammen für beide Zeiträume jeweils in der Summe 32 Leistungen gemeldet worden seien, sei davon auszugehen, dass aufgrund der neuen Mindestmenge von 26 ab dem Jahr 2023 ein Anbieter ausreichen werde. Insofern wäre eine Abstimmung zwischen den betroffenen Krankenhäusern, wer zukünftig die Versorgung sicherstellen solle, sinnvoll.

 

Die Antragstellerin erwiderte (Schreiben vom 15.09.2023), sie habe mit dem Gemeinschaftskrankenhaus R. in einem „Letter of Intent“ vom gleichen Tag vereinbart, dass eine Konzentration und Bündelung der Ösophaguseingriffe in ihrem Hause stattfinde. Im Gemeinschaftskrankenhaus R. würden künftig planbare mindestmengenrelevante Eingriffe dieser Art nicht mehr stattfinden und die Zuweiser bzw. Tumorboards entsprechend informiert, damit die Versorgung ausschließlich im B.-Krankenhaus stattfinde. Das Gemeinschaftskrankenhaus, das 2018/2019 mit der Durchführung von Ösophaguseingriffen begonnen habe, habe seitdem eine positive Fallzahlentwicklung zu verzeichnen gehabt, der eine korrespondierende Fallzahlabnahme im B.-Krankenhaus entspreche. Durch den nunmehrigen Rückzug des Gemeinschaftskrankenhauses sei eine deutliche Steigerung der Fallzahlen in ihrem Haus zu erwarten. Sie rechne damit, dass allein hierdurch die neue Mindestmenge von 26 in 2023 erfüllt werde. Dem stünden die aktuell verminderten, auf einen mehrmonatigen Ausfall des Chefarztes nebst Chefarztwechsel in der Viszeralchirurgie zurückzuführenden Fallzahlen im Gemeinschaftskrankenhaus nicht entgegen. Des Weiteren berufe sie sich nochmals auf die COVID-19-Ausnahmen in § 4 Abs. 2 Satz 3 und 4 Mm-R. Auf die Auswirkungen der Pandemie bezüglich der Fallzahlen habe im Übrigen auch der GBA hingewiesen. Zudem haben Patienten in dieser Zeit nicht oder zu spät ärztlichen Rat gesucht, so dass manche Eingriffe aufgrund des Fortschritts der onkologischen Erkrankung nicht mehr haben vorgenommen werden können. Darüber hinaus werde auch das besondere Herausstellungsmerkmal der Zertifizierung als „Onkologisches Zentrum“ zu einer deutlich erhöhten Zahl von Patienten im Jahr 2023 führen, so dass auch deswegen die angehobene Mindestmenge an Eingriffen nach ihrer Erwartung erreicht werde.

 

Mit Bescheid vom 29.09.2022 widerlegten die Antragsgegnerinnen die Mindestmengenprognose der Antragstellerin. Deren gemeldeten Zahlen für die Jahr 2019 bis 2021/2022 unterschritten die Mindestmenge deutlich, was auch nicht durch eine beabsichtigte Kooperation mit dem Gemeinschaftskrankenhaus kompensiert werden könne, da dessen Leistungszahlen viel zu gering seien. Der Verweis auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie sei keine tragende Begründung, da es sich aufgrund der Schwere der zugrundeliegenden Erkrankungen – anders als z.B. bei Knie-TEP-Leistungen – um nicht beliebig verschiebbare Eingriffe handele. Zudem seien gemäß der Mm-R ab 2023 OPS-Codes weggefallen, so dass die Leistungsmengen vergangener Zeiträume den Bedarf bzw. die für Mindestmengenprognosen relevanten Eingriffe überschätzten. Insofern sei davon auszugehen, dass das Potenzial des B.-Krankenhauses und des Gemeinschaftskrankenhauses zusammen nicht ausreichen werde, die Mindestmenge in 2023 zu erreichen.

 

Gegen den Widerlegungsbescheid hat die Antragstellerin Klage vor dem Sozialgericht Köln erhoben (Az.: S 9 KR 1474/22 KH).

 

Am 10.01.2023 hat sie zudem bei dem Sozialgericht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerinnen vom 29.09.2022 begehrt. Eine wirksame Widerlegung sei nur bei begründeten erheblichen Zweifeln an der Richtigkeit der vom Krankenhausträger getroffenen Prognose möglich, die von den Antragsgegnerinnen – was hier nicht der Fall sei – bewiesen werden müssten. Derart spezifische Zweifel seien weder durch die Antragsgegnerinnen im Bescheid dargelegt noch sonst ersichtlich. Die Anregung der Antragsgenerinnen hinsichtlich einer Abstimmung unter den im Versorgungsgebiet 6 die maßgeblichen Leistungen anbietenden Krankenhäusern habe sie aufgegriffen und – worauf die Antragsgegnerinnen im Widerlegungsbescheid praktisch nicht eingegangen seien – eine Absprache mit dem Gemeinschaftskrankenhaus R. getroffen. Mit dem lapidaren Verweis auf „viel zu geringe“ Zahlen des Gemeinschaftskrankenhauses lasse sich die positive Prognose – insbesondere anhand der Zahlenentwicklung 2018 und 2018/2019 sowie unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Pandemie – von 26 oder mehr Eingriffen nicht widerlegen. Darauf, dass die Eingriffszahlen auch nach Auffassung des GBA durch das pandemiebedingt unterbliebene oder verzögerte Aufsuchen von Ärzten zurückgegangen seien, gingen die Antragsgegnerinnen im Widerlegungsbescheid ebenfalls nicht ein, obwohl sogar der Vorsitzende des AOK-Bundesverbandes Zahlen zum Rückgang onkologischer Operationen in den Jahren 2020 bis 2022 öffentlich gemacht und vor einer Zunahme von Krebserkrankungen gewarnt habe. Gleichfalls gingen die Antragsgegnerinnen nicht auf den im Anhörungsverfahren vorgebrachten Umstand der Zertifizierung als „Onkologisches Zentrum“ ein. Auch liege eine offensichtliche Ungleichbehandlung vor, da Krankenhäuser ohne ersichtlichen Grund zu ihrem Nachteil sehr unterschiedlich behandelt worden seien. So gebe es ausweislich der AOK-Transparenzliste 2023 zahllose Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen, deren Prognosen trotz vergleichbarer oder geringerer Zahlen nicht widerlegt worden seien. Auf städtischer Ebene werde sie gegenüber dem Universitätsklinikum R. ungleich behandelt, das keine besseren Zahlen als sie bzw. sie und das Gemeinschaftskrankenhaus zusammen habe vorweisen können. Da sie als konfessioneller Träger zudem grundrechtsfähig sei, mache sie neben der Verletzung einfachen Rechts auch die Verletzung der Berufsfreiheit und des Gleichheitssatzes geltend. Dürfte sie bis zum Abschluss des Klageverfahrens die besagten Eingriffe nicht durchführen, seien ihre berechtigten Interessen irreversibel und gravierend beeinträchtigt. Sie könne dann auch keine positive Prognose für 2024 anstellen. Sei sie einmal aus der Versorgung herausgefallen, sei dies nicht mehr zu korrigieren. Ein planerisches Auswahlermessen stehe den Antragsgegnerinnen nicht zu. Auch sei deren Wertung, nur ein Krankenhaus im Versorgungsgebiet könne prognostisch die Mindestmenge erreichen, nicht gerechtfertigt. Die Antragsgegnerinnen hätten sie darüber hinaus vor Erlass des Bescheides nicht ausreichen angehört. Zudem sei die Anhebung der Mindestmenge auf 26 nichtig. Insbesondere habe der GBA die ihm gesetzlich und in seiner Verfahrensordnung aufgetragene Evaluation der bereits bestehenden Mindestmenge 10 unterlassen. Missstände, die die massive Erhöhung von 10 auf 26 erforderlich erscheinen ließen, habe der GBA nicht festgestellt.

Die Krankenhäuser mit den höchsten Fallzahlen gehörten nicht automatisch zu den besten Krankenhäusern, was der GBA, dem ohnehin die demokratische Legitimation fehle, nicht berücksichtigt habe. Im Übrigen aber stehe sie auch mit weiteren Krankenhäusern, so dem A.-Krankenhaus O., in z.T. bereits weit fortgeschrittenen Kooperationsverhandlungen. Auch sei ihr Aussetzungsinteresse höher zu gewichten als das Vollziehungsinteresse der Antragsgegnerinnen. Die Widerlegung sei offensichtlich rechtswidrig.

 

Die Antragstellerin hat beantragt,

 

die aufschiebende Wirkung der Klage S 9 KR 1474/22 KH gegen den Bescheid der Antragsgegnerinnen vom 29.09.2022 gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG anzuordnen.

 

Die Antragsgegnerinnen haben beantragt,

 

                        den Antrag abzulehnen.

 

Die Antragsgegnerinnen haben ausgeführt, der Widerlegungsbescheid sei formell und materiell rechtmäßig. Selbst im Falle eines Zusammenschlusses mit dem Gemeinschaftskrankenhaus sei nicht damit zu rechnen, dass die geforderte Mindestmenge von 26 erreicht werde, zumal der GBA OPS-Codes, die früher noch unter die Mm-R gefallen seien, gestrichen habe. Die von der Antragstellerin herangezogenen Daten aus früheren Jahren seien daher nur eingeschränkt relevant. Der pauschale Verweis der Antragstellerin auf Auswirkungen der Corona-Pandemie werde nicht weiter belegt. So lege sie nicht dar, wie viele Fälle pandemiebedingt nicht operiert worden seien bzw. nicht operiert werden konnten, vollständig abgesagt oder verschoben worden seien. Auch der Umstand, dass die Antragstellerin in Zukunft ein „Onkologisches Zentrum“ sei, ändere nichts. Das Universitätsklinikum R. erbringe diesen Schwerpunkt ebenfalls. Eine Erhöhung der Gesamtfallzahlen in der Region sei – ebenso wie eine signifikante Patientenwanderung von den diversen, ebenfalls diesen Schwerpunkt aufweisenden Kliniken in den benachbarten Versorgungsgebieten, z.B. H. – nicht zu erwarten. Der Vorwurf der Ungleichbehandlung z.B. im Hinblick auf die dem Universitätsklinikum R. erteilte Zustimmung gehe ins Leere, zumal aus dem Vorwurf eines unrechtmäßigen Verhaltens – da es keine Gleichbehandlung im Unrecht gebe – nichts hergeleitet werden könne. Auch ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Berufsfreiheit sei nicht dargelegt worden. Der Vorwurf der Nichtigkeit der Regelungen des GBA greife nicht durch; im Übrigen seien die Antragsgegnerinnen an die gesetzlichen Vorgaben gebunden.

Besondere, über die im Regelfall mit der Anordnung sofortiger Vollziehung verbundener Umstände, aufgrund derer eine Abwägung zugunsten der privaten Interessen der Antragstellerin ausfallen müsste, lägen nicht vor. Insbesondere sei kein unverhältnismäßiger Eingriff in die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG dargelegt. Die Grenze hierzu könne vor dem Hintergrund des öffentlichen Interesses an einem Gesundheitsschutz, dem die Qualitätssicherung durch die Mindestmengenregelungen diene, nur der existenzvernichtende Eingriff sein, d.h. – was nicht behauptet worden sei –, dass die Klinikschließung drohe. Auch die Folgenabwägung gehe zu Lasten der Antragstellerin, da bei fortdauernder aufschiebender Wirkung der von den die Mindestmengen nicht erreichenden Kliniken eingelegten Rechtsmitteln potenziell die Patientensicherheit gefährdet sei.

 

Das Sozialgericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage S 9 KR 1474/22 KH gegen den Bescheid der Antragsgegnerinnen vom 29.09.2022 mit Beschluss vom 22.03.2023 angeordnet. Es hat die Widerlegung der Mindestmengenprognose für offensichtlich rechtswidrig gehalten. Es fehle an einer ausreichenden Tatsachengrundlage für die von den Antragsgegnerinnen geltend gemachten Zweifel an der Prognose. Wegen der Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.

 

Gegen den am 23.03.2023 bekannt gegebenen Beschluss richtet sich die am 21.04.2023 erhobene Beschwerde der Antragsgegnerinnen. Es sei schon zweifelhaft, dass die Antragstellerin eine tragfähige Prognose vorgelegt habe, die von ihnen in dem vom Sozialgericht geforderten Ausmaß habe widerlegt werden müssen. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts stelle es keinen Begründungsmangel dar, dass sie die konkreten Zahlen des Gemeinschaftskrankenhauses nicht expressis verbis angeführt haben. In der Anhörung sei darauf hingewiesen worden, dass in dem zu berücksichtigenden Zeitraum in allen drei maßgeblichen R. Krankenhäusern zusammen jeweils 32 Leistungen gemeldet worden seien. Insofern sei davon auszugehen, dass aufgrund der auf 26 angehobenen Mindestmenge ab 2023 ein Anbieter zur Sicherstellung der Versorgung ausreichen werde. Im Übrigen seien die Fallzahlen des Gemeinschaftskrankenhauses aufgrund der Kooperationsvereinbarung bekannt gewesen. Unklar bleibe, wie das Sozialgericht – noch dazu in Ansehung der geänderten OPS-Codes – die Prognose habe stellen können, die Antragstellerin könne infolge der Kooperation mit dem Gemeinschaftskrankenhaus wieder – wie vor dem Beginn der Durchführung entsprechender Eingriffe durch das Gemeinschaftskrankenhaus im Jahr 2018/2019 – Eingriffszahlen von mehr als 26 erreichen. Gleichfalls verkenne das Sozialgericht die Begründungslast im Bereich der Auswirkungen der Pandemie und lege alte – die gestrichenen OPS-Codes beinhaltende – Fallzahlen zugrunde. Die Antragstellerin habe im Jahr 2020 – also zu Pandemie–Hochzeiten – sogar mehr Eingriffe durchgeführt, als im Vorjahr. Aus dem Umstand der Zertifizierung als „onkologisches Zentrum“ könne eine stärkere Inanspruchnahme nicht zwingend abgeleitet werden, zumal es sich nicht um einen neuen, sondern einen seit Jahren bestehenden onkologischen Schwerpunkt handele.

 

Die Antragsgegnerinnen beantragen,

 

den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 22.03.2023 zu ändern und den Antrag abzulehnen.

 

Die Antragstellerin beantragt,

 

die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen. Trotz der Pandemie beschränkten sich die Antragsgegnerinnen auf die beiden Auswertungszeiträume 2021 und 2021/2022 und ignorierten damit in unzulässiger Weise die Verhältnisse der Vor-Pandemie-Zeit. Die abstrakte „Begründung“ im Widerlegungsbescheid leide ersichtlich schon formell an einem erheblichen Mangel. Aber auch inhaltlich seien die Anforderungen an eine begründete Widerlegung nicht erfüllt. Aus nicht näher erläuterten Gründen habe das Universitätsklinikum R. – obwohl es in 2021 die gleiche Fallzahl wie die Antragstellerin bzw. deutlich weniger als sie und das Gemeinschaftskrankenhaus zusammen habe aufweisen können – von den Antragsgegnerinnen eine Zustimmung erhalten und es sei von diesen gefolgert worden, dass es für einen zweiten Leistungserbringer – was unzutreffend sei – keinen Platz mehr gebe.

 

Der Senat hat die Antragsgegnerinnen um Darlegung gebeten, warum die Prognose des Universitätsklinikums R. nicht widerlegt worden sei. Zudem sind die Unterlagen hinsichtlich der Prognose der Antragstellerin bezüglich komplexer Eingriffe am Organsystem Ösophagus für das Jahr 2024 angefordert worden (Ist-Zahlen 2022: 18; 2. Halbjahr 2022 und 1. Halbjahr 2023: 12).

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des sonstigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin zu 3. verwiesen.

 

II.

 

Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerinnen ist unbegründet.

 

Das Sozialgericht hat zu Recht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die durch Verwaltungsakt (§ 136b Abs. 5 S. 6 SGB V i.d. F. des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung - Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz - <GVWG> vom 11.07.2021 BGBl, 2754) von den Antragsgegnerinnen vorgenommene Widerlegung der Prognose des Erreichens der entsprechenden Mindestmenge angeordnet.

 

Nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in Fällen, in denen wie hier die Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung entfaltet (§ 136b Abs. 5 S. 11 SGB V), diese ganz oder teilweise anordnen. Bei dieser Entscheidung sind die privaten Belange der Antragstellerin gegen die von den Antragsgegnerinnen verfolgten öffentlichen Interessen abzuwägen (Kel­ler in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, Rn. 10a m.w.N.; LSG NRW, Beschluss vom 11.01.2018 - L 19 AS 2281/17 B). Maßgebliche Bedeutung kommt insoweit dem Umstand zu, inwieweit das Rechtsmittel voraussichtlich in der Hauptsache Erfolg haben wird. Ist dieses offensichtlich begründet, ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in der Regel geboten, bei fehlender Erfolgsaussicht dagegen nicht (vgl. Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b <Stand: 08.03.2023>, Rn. 190 m.w.N.). Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren regelmäßig und auch hier allein gebotenen summarischen Prüfung (BVerfG, Beschluss vom 26.06.2018 – 1 BvR 733/18, juris Rn.3) ist ersteres anzunehmen, weil die von den Antragsgegnerinnen dargelegten Gründe zur Widerlegung der Prognose der Antragstellerin nicht hinreichend plausibel sind.

 

Zwar kann sich diese für die Berechtigung ihrer mengenmäßigen Erwartung nicht auf die Vermutung des § 136b Abs. 5 S. 4 SGB V berufen, weil in dem hier maßgeblichen Vergleichszeitraum 2021/22 nicht die für 2023 erforderliche Mindestmenge erreicht worden ist, jedoch hat sie im Sinne der vom GBA gemäß § 136b Abs. 5 S. 5 SGB V in der Mm-R geregelten berücksichtigungsfähigen Umstände Gründe dargelegt, die eine positive Prognose erlauben und die von den Antragsgegnerinnen nicht schlüssig widerlegt worden sind.

 

Nach § 4 Abs. 2 S. 2 Mm-R ist die voraussichtliche Leistungsentwicklung vom Krankenhausträger unter Berücksichtigung der Leistungsmengen des vorausgegangenen Kalenderjahres (Nr. 1) bzw. der letzten zwei Quartale des vorausgegangenen Kalenderjahres und den ersten zwei Quartalen des laufenden Kalenderjahres (Nr. 2.) sowie der personellen und strukturellen Veränderungen (Nr. 3 und 4) zu begründen. Der Krankenhausträger kann weitere Umstände, zu der auch die CoOVID-19-Pandemie zählt, heranziehen (§ 4 Abs. 2 S. 3 und 4 Mm-R).

 

Zu den strukturellen Veränderungen im Sinne des § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 Mm-R zählt auch die Zertifizierung als Onkologisches Zentrum nach der GBA-Richtlinie. Mit diesem Argument setzt sich der angefochtene Beschluss der Antragsgegnerinnen in keiner Weise auseinander. Soweit diese im Verhandlungstermin darauf verwiesen haben, diese Zertifizierung diene lediglich abrechnungstechnischen Vorteilen, ist dies für den Senat nicht plausibel. Der gleichzeitig damit zu erzielende Werbeeffekt wird nicht dadurch beseitigt, dass möglicherweise im Vordergrund für die Zertifizierung andere wirtschaftliche Vorteile des Krankenhauses stehen mögen. Der Hinweis für potentielle Patienten auf eine besonders hohe Fachkompetenz, der mit entsprechenden Zertifizierungsnachweisen regelmäßig einhergeht, ist insoweit nicht zu vernachlässigen.

 

Soweit die Antragsgegnerinnen der Berufung der Antragstellerin auf die Auswirkungen der Pandemie zum einen die unzureichenden Eingriffszahlen vor dem Infektionsgeschehen und zum anderen die Unaufschiebbarkeit der betroffenen Operationen entgegengehalten haben, ist auch dies nicht hinreichend begründet. Ersteres lässt die von der Antragstellerin belegte Kooperation außer Acht, weil von beiden Krankenhäusern zusammen die erforderlichen Zahlen vor der Pandemie erfüllt worden sind. Diese Zahlen sind mangels entsprechender Rückwirkung der Entscheidung des GBA zu den geänderten, berücksichtigungsfähigen Prozeduren auch nicht hinfällig. Zum zweiten verweist die Antragstellerin zu Recht darauf, dass infolge reduzierter Untersuchungsmöglichkeiten eine ausreichende Diagnosestellung erschwert war, sodass die Eingriffe nicht infolge des pandemischen Geschehens verschoben worden sind, sondern ihre Notwendigkeit nicht in einem Maße wie vor der Pandemie rechtzeitig erkannt werden konnte. Dieses Argument ignoriert der angefochtene Bescheid. Es wird auch nicht durch den Verweis auf die im ersten Jahr der Pandemie erreichten Zahlen widerlegt. Denn insoweit lagen die Diagnosen zu einem großen Teil noch vor dem Infektionsgeschehen.

Wenn die Antragsgegnerinnen darüber hinaus mit der Beschwerde geltend gemacht haben, es fehle an von der Antragstellerin spezifiziertem Vorbringen hinsichtlich der Auswirkungen der Pandemie, ist dies kein Umstand, der für sich genommen der Prognose entgegengehalten werden kann (vgl. die in § 4 Abs. 4 Satz 2 Mm-R genannten und ab 2024 gültigen Beispiele).

 

Unabhängig von den vorstehenden Erwägungen ist die Begründung des angefochtenen Bescheides deshalb nicht plausibel, weil die Antragsgegnerinnen die Prognose des Universitätsklinikums R. nicht widerlegt haben, obwohl auch dieses aufgrund der für 2021/22 gemeldeten Zahlen weit von den geforderten Eingriffen für 2023 entfernt gewesen ist.

Die Differenz infolge des Vergleichs der von der Antragstellerin für 2021/22 gemeldeten Zahlen mit denen des Universitätsklinikums R. von 13 zu 17, bei einer Berücksichtigung der Kooperation von 15 zu 17, ist jedenfalls in Anbetracht beider weit von der erforderlichen Zahl an Eingriffen für 2023 liegenden Mengen nicht geeignet, in einem Fall die Prognose nicht anzuzweifeln und sie in dem anderen zu widerlegen. Vielmehr sprechen diese Zahlen für sich genommen dafür, dass die Antragsgegnerinnen eine indirekte Auswahlentscheidung vorgenommen haben, indem sie – wie dies auch ihrem gesamten Vorbringen entspricht – in Bezug auf die in der Vergangenheit von allen Krankenhäusern im betroffenen Versorgungsgebiet vorgenommene Anzahl entsprechender Eingriffe in Zukunft nur eines von ihnen als ausreichend geeignet angesehen haben und daher in zwei Fällen die Prognose widerlegt und in einem Fall keine Einwände erhoben haben. Infolgedessen trifft zwar die Erwartung zu, dass bei einer Vereinigung sämtlicher Eingriffe in einem Krankenhaus, dieses die erforderliche Mindestmenge erfüllen wird, dieses Argument gilt aber in gleicher Weise für die Antragstellerin wie für das Universitätsklinikum R.. Damit ist jedoch die Widerlegung nur in Bezug auf die von Ersterer aufgestellte Prognose nicht mehr plausibel, wenn keine Gründe aufgezeigt werden, warum außer der offensichtlich die Unterscheidung nicht rechtfertigenden Differenz von vier bzw. zwei Eingriffen die Prognose der Konkurrentin unbeanstandet bleibt.

 

Die Befugnis zur Teilhabe an der Versorgung nach dem SGB V – hier gemäß § 108 SGB V – begründet neben der Versorgungs- und Abrechnungsbefugnis zu Lasten der GKV auch den Anspruch, dass die Krankenkassen bei Einwirkungen auf das Leistungsgeschehen den vom Gesetzgeber vorgegebenen Ordnungsrahmen einhalten und das Diskriminierungsverbot wahren (vgl. BSG, Urteil vom 10.03.2010 – B 3 KR 26/08 R –, BSGE 106, 29-43, SozR 4-2500 § 126 Nr. 2, Rn. 29). Dies folgt aus den Grundrechten der Leistungserbringer aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG, auch wenn Art. 12 Abs. 1 GG keinen Anspruch auf Erfolg im Wettbewerb garantiert (vgl. etwa BVerfGE 106, 275, 299 = SozR 3-2500 § 35 Nr. 2 S 12, 18; BVerfGE 116, 135, 152 - jeweils m.w.N.) und kein Anspruch darauf besteht, dass die Wettbewerbsbedingungen in der GKV dauerhaft gleichbleiben (vgl. BVerfGE 106, 275, 299 = SozR 3-2500 § 35 Nr. 2 S. 12, 18). Daher kann die Antragstellerin auch nicht die Beibehaltung der früheren Mindestmengen verlangen (zur Rechtmäßigkeit der hier erfolgten Erhöhung im Bereich des Organsystems Ösophagus vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 08.06.2023 – L 1 475/21 KL). Art. 12 Abs. 1 GG sichert aber die Berechtigung, am Wettbewerb nach Maßgabe der vom Gesetzgeber vorgegebenen Funktionsbedingungen teilhaben zu können (vgl. BVerfGE 106, 275, 299 = SozR 3-2500 § 35 Nr. 2 S 12, 18; BVerfGE 116, 135, 152). Diese Berechtigung bindet auch die Krankenkassen (Art. 20 Abs. 3 GG). Treffen Krankenkassen vorbereitende oder endgültige Auswahlentscheidungen unter konkurrierenden Leistungserbringern, ist dies demgemäß nur rechtmäßig, soweit diese im Einklang mit den jeweils maßgebenden Vorschriften des Leistungserbringungsrechts stehen (vgl. BSG, Urteil vom 10.03.2010 – B 3 KR 26/08 R –, BSGE 106, 29-43, SozR 4-2500 §126 Nr. 2, Rn. 29).

 

Zwar haben die Krankenkassen das Recht und die Pflicht eine Prognose, die eine berechtigte Mindestmengenerwartung nicht begründet, zu widerlegen. Der Gesetzgeber hat ihnen aber nicht das Recht eingeräumt, über dieses Instrument eine Marktsteuerung vorzunehmen. Die Widerlegung einer Prognose kann daher nur als begründet angesehen werden, wenn sie im Fall konkurrierender Krankenhäuser erkennen lässt, warum bei vergleichbaren Zahlen nur in einem Fall die Zurückweisung der Prognose erfolgt. Dazu müssen zwar nicht die Daten der betroffenen Krankenhäuser im Einzelnen offengelegt werden, es ist aber erforderlich in abstrakter Weise maßgebliche Umstände aufzuzeigen, die die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können. Dies können z.B. personelle oder strukturelle Unterschiede von solchem Gewicht sein, dass sie auch bei bloß abstrakter Darstellung einen wesentlichen Unterschied belegen. Der Senat kann hier dahinstehen lassen, welchen Umfang solche Begründungen verlangen, weil es an jeglicher ergänzenden Darlegung in dem angefochtenen Bescheid fehlt.

 

Ist die angefochtene Widerlegung der Prognose der Antragstellerin daher nicht hinreichend begründet, ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage angezeigt.

 

Dies gilt selbst dann, wenn man hierin eine Vorwegnahme der Hauptsache erblickt. Im Anschluss an die zur früheren Rechtslage, nach der der Widerspruch noch aufschiebende Wirkung entfaltete, vertretenen Auffassung, dass der endgültigen gerichtlichen Entscheidung über die Prognosewiderlegung nur eine Wirkung ex nunc zukomme (vgl. Knispel, GesR 2020, 558, 562 f.), soll auch bei der nunmehr geltenden Rechtslage im Fall einstweiliger Anordnung der aufschiebenden Wirkung für deren Dauer die Abrechnungsbefugnis entsprechender Eingriffe den Krankenhäusern erhalten bleiben (vgl. Becker in Becker/Kingreen, SGB V, 8. Aufl., § 136b, Rn. 11). Auch wenn man dies zugrunde legt, bleibt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ermessensgerecht. Angesichts der für den Senat offensichtlichen Erfolgsaussichten des Rechtsmittels in der Hauptsache und der ernsthaften Gefahr der Verdrängung der Antragstellerin als Anbieter der betroffenen Eingriffe vom Markt, sind Gründe des Patientenschutzes nicht geeignet, eine gegenteilige Entscheidung zu rechtfertigen. Da nach den bisherigen Leistungen im Krankenhaus der Antragstellerin keinerlei Hinweise dafür vorliegen, dort versorgte Versicherte seien einer Gefährdung ausgesetzt gewesen, kommt den Interessen der Antragstellerin an der begehrten Anordnung eine so überragende Bedeutung zu, dass ihr Erlass gerechtfertigt ist.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO.

 

Die Streitwertfestsetzung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 3, 47 Abs. 1 GKG. Bei der Bemessung des wirtschaftlichen Interesses des Krankenhausträgers ist in Fällen der vorliegenden Art im Hauptsacheverfahren der zu erwartende Gewinn zu berücksichtigen und mit 25 % des Gesamtumsatzes zu schätzen (vgl. BSG, Urteil vom 25.03.2021 – B 1 KR 16/20 R – Rn. 34, juris; Knispel, jurisPK-SozR 15/2012 Anm. 3; vgl. auch BSG, Beschluss vom 08.08.2013 – B 3 KR 17/12 R; str., a.A. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 16.06.2020 – L 16 KR 64/20; Becker/Heitzig, KrV 2021, 151 ff.). Der Streitwert der Hauptsache ist danach hier auf 195.000,00 € zu schätzen, sodass sich der Streitwert im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens auf 48.750,00 € beläuft.

 

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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