L 9 SO 170/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 52/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 170/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 16.03.2021 geändert.

 

Der Bescheid vom 30.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.03.2019 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin die ungedeckten Kosten für die stationäre Unterbringung der verstorbenen Frau V. C. im Zeitraum 01.07.2018 bis 00.00.2020 ohne Berücksichtigung von Vermögen zu zahlen.

 

Der Beklagte hat der Klägerin in beiden Rechtszügen die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt die Übernahme der Kosten für die stationäre Unterbringung der verstorbenen Frau V. C. (Bewohnerin) im Zeitraum 01.07.2018 bis zu deren Tode am 00.00.2020 iHv ca. 27.000 €.

 

Die Klägerin ist die Trägerin des Seniorenhauses St. V. in R.. Die 1924 geborene und verwitwete Bewohnerin lebte dort vom 23.08.2015 bis zu ihrem Tod. Sie bezog eine Altersrente, die sich zum 01.07.2018 auf monatlich 187,38 € netto belief und eine Witwenrente iHv monatlich 866,69 € netto. Bei ihr waren der Pflegegrad 2 und ein GdB von 70 aufgrund von orthopädischen und kardiologischen Erkrankungen, einer Hirnleistungsbeeinträchtigung sowie einer Hör- und Sehminderung anerkannt. Die Bewohnerin bevollmächtigte am 17.08.2015 ihre inzwischen (am 01.10.2019) verstorbene Nachbarin (Bevollmächtigte) umfassend in den Bereichen Gesundheitssorge/Pflegebedürftigkeit, Aufenthalt und Wohnungsangelegenheiten sowie Vermögenssorge.

 

Die Bewohnerin war Eigentümerin einer Immobilie in der W.-straße in R., die sie bis zu ihrer Heimaufnahme selbst bewohnte. Sie veräußerte das Haus am 23.09.2015 zum Preis von 57.000 €. Von dem Kaufpreis zahlte sie jeweils 20.000 € auf ihre beiden Sparbücher ein, die dann jeweils ein Guthaben von 40.000 € aufwiesen. Der Restbetrag von 17.000 € verblieb auf dem Girokonto.

 

Die Bewohnerin wurde am 23.08.2015 in das Pflegeheim der Klägerin aufgenommen und schloss am 03.11.2015 einen Heimvertrag mit der Klägerin ab. Sie zahlte die sich daraus ergebenden Kosten zunächst aus ihrem eigenen Einkommen und Vermögen. Am 07.12.2015 unterschrieb die Bewohnerin eine Erklärung, mit der sie die Bevollmächtigte beauftragte, monatlich 4.000 € von ihren Girokonten abzuheben und ihr auszuhändigen. Daraufhin hob die Bevollmächtigte monatlich jeweils 2.000 € von den Sparbüchern ab, am 07.03.2016 jeweils 10.000 €. Am 04.01.2017 wiesen die Sparbücher Guthaben von 3,89 € und 0,59 € auf.

 

Mit Schreiben vom 06.06.2018 beantragte die Bevollmächtigte ab dem 01.07.2018 Hilfe zur Pflege und Pflegewohngeld bei dem Beklagten. Das Vermögen sei aufgebraucht. Auf dem Girokonto der Bewohnerin befanden sich zum Zeitpunkt der Antragstellung 659,85 €. Die Bevollmächtige erklärte auf Nachfrage des Beklagten, das Geld aus dem Hausverkauf sei für die Entrümpelung, die Einrichtung des Zimmers im Pflegeheim, neue Kleidung, Taxikosten, Friseurbesuche, etc. verwendet worden. Darüber hinaus sei die Bewohnerin sehr großzügig gewesen und habe immer wieder Geld an das Personal verschenkt. Mit Schreiben vom 19.09.2018 teilte sie mit, dass sie nicht mehr als Bevollmächtigte zur Verfügung stehe. Sie legte Kontoauszüge vor, aus denen sich Überweisungen an das Heim für die Bewohnerin iHv 32.576,10 € ergäben. Auf ihr Konto seien zur Deckung der Heimkosten 10.460,42 € geflossen, den Rest habe sie in bar erhalten.

 

Der Beklagte lehnte die Anträge auf Pflegewohngeld und Hilfe zur Pflege mit zwei Bescheiden vom 30.10.2018 ab. Die Bewohnerin habe zum Zeitpunkt der Heimaufnahme im Jahr 2015 über ein Vermögen iHv knapp 103.000 € verfügt (57.000 € Erlös aus dem Hausverkauf, knapp 46.000 € Sparguthaben). Dazu kämen noch die Rentenzahlungen iHv ca. 35.000 €, so dass bis zum Beginn der beantragten Leistung ca. 138.000 € zur Verfügung gestanden hätten. Abzüglich der Kosten für das Pflegeheim iHv ca. 80.000, verbleibe ein Vermögen iHv ca. 58.000 €, dessen Verbleib nicht geklärt sei. Das gehe zu Lasten der Bewohnerin.

 

Die Bewohnerin legte gegen die Bescheide am 08.11.2018 Widerspruch ein. Die Kosten für das Pflegeheim beliefen sich bislang auf ca. 83.000 €, davon hätten lediglich ca. 34.000 € durch die Renten gedeckt werden können. Die Restkosten und weitere Ausgaben seien aus dem Vermögen gedeckt worden, das jetzt verbraucht sei.

 

Der Beklagte wies die Widersprüche der Bewohnerin unter Beteiligung sozial erfahrener Dritter mit Widerspruchsbescheiden vom 12.03.2019 zurück. Im Zeitraum 20.08.2015 bis 30.08.2018 seien nach Abzug der Pflegekassenleistungen und der Rentenzahlungen ungedeckte Heimkosten iHv ca. 46.000 € entstanden. Daneben sei von dem Vermögen der Bewohnerin ein Verbrauch von ca. 3.400 € nachgewiesen, außerdem seien Lebenshaltungskosten iHv 12.250 € abzuziehen. Damit verbleibe ein ungeklärtes Vermögen iHv ca. 41.000 €. Dies stehe einem Anspruch auf Hilfe zur Pflege und Pflegewohngeld entgegen.

 

Die Bewohnerin hat am 26.03.2019 Klage erhoben. Sie hat im Verfahren eine persönliche Erklärung vorgelegt, nach der ihr Vermögen für Kleidung, Ausflüge, Cafébesuche, Arztfahrten, etc. verbraucht worden sei. Außerdem sei sie gegenüber dem Personal des Pflegeheims immer großzügig gewesen.

 

Das Sozialgericht hat die Mitarbeiterin des Pflegeheims Frau M. I. als Zeugin vernommen. Diese hat erklärt, die Bewohnerin habe vor ca. zwei Jahren häufig zum Arzt gemusst, sie sei dann mit dem Taxi gefahren und habe dabei eine Begleitung gebraucht. Zur finanziellen Situation der Bewohnerin könne sie nichts sagen. Sie könne sich nicht vorstellen, dass sie Geldgeschenke an die Mitarbeiter gemacht habe, da dies verboten sei.

 

Aufgrund des Todes der Bevollmächtigten hat das Pflegeheim die Bestellung eines rechtlichen Betreuers angeregt. Die Mitarbeiterin der Betreuungsstelle Frau T. hat die Bewohnerin im Oktober 2019 aufgesucht und berichtet, eine Verständigung sei ohne Einschränkungen möglich, die Bewohnerin habe jedoch diverse körperliche Gebrechen und könne nur kurze Wegstrecken mit dem Rollator zurücklegen. Zu dem Sohn bestehe kein Kontakt mehr. Die Bewohnerin habe keinerlei Überblick über ihre finanziellen Angelegenheiten. Die Mitarbeiterin empfahl eine rechtliche Betreuung mit den Aufgabenkreisen Gesundheitsfürsorge und Vermögenssorge. Der behandelnde Arzt der Bewohnerin U. hat mitgeteilt, die Bewohnern leide an einer hochgradigen allgemeinen Angiosklerose, einem paroxysmalen Vorhofflimmern und rezidivierenden Synkopen. Auch er hat die Bestellung eines Betreuers empfohlen. Am 25.11.2019 ist die Bewohnerin durch das Betreuungsgericht angehört worden. Die Bewohnerin sei offen und zugewandt gewesen, sie habe den Zweck der Anhörung uneingeschränkt erfasst. Die Bewohnerin wünsche Unterstützung im Hinblick auf Behördenangelegenheiten und offizielle Schriftstücke. Dies sei ihr einfach zu viel. Das Amtsgericht R. hat mit Beschluss vom 25.11.2019 die Berufsbetreuerin Frau Z. mit den Aufgabenkreisen Gesundheitsfürsorge und vermögensrechtliche Angelegenheiten als Betreuerin bestellt. In dem Bericht vom 14.01.2020 hat die Betreuerin nochmals betont, die Bewohnerin könne zu den Abhebungen von ihrem Konto keine Angaben machen, da sie alles in die Hände der Bevollmächtigten gelegt habe. Sie habe einen monatlichen Taschengeldbetrag zwischen 100 und 150 € erhalten und gelegentlich Bekleidung. Sie habe alles unterschrieben, was die Bevollmächtigte ihr vorgelegt habe.

 

Die Bewohnerin ist am 00.00.2020 verstorben. Nach dem Tod der Bewohnerin ist bei dieser kein Vermögen gefunden worden.

 

Die Klägerin hat das Verfahren als Rechtsnachfolgerin gem. § 19 Abs. 6 SGB XII fortgeführt. Die Ablehnung der Kostenübernahme sei zu Unrecht erfolgt. Existenzsichernde Leistungen dürften nicht aufgrund von bloßen Mutmaßungen abgelehnt werden.

 

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 30.10.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.03.2019 zu verurteilen, ihr 27.999,16 € nebst Zinsen iHv 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 13.03.2019 als Zuschuss zu zahlen.

 

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

 

Sie ist von der Rechtmäßigkeit ihrer Bescheide ausgegangen. Der ungeklärte Vermögensverbrauch gehe zu Lasten der Bewohnerin und nach deren Tode zu Lasten der Klägerin als ihrer Rechtsnachfolgerin.

 

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil ohne mündliche Verhandlung am 16.03.2021, abgewiesen. Zwar wäre ein Anspruch der Bewohnerin gem. § 19 Abs. 6 SGB XII auf die Klägerin übergegangen, ein solcher Anspruch habe jedoch nicht bestanden. Die Bewohnerin sei zwar pflegebedürftig gewesen, sie habe ihre Hilfebedürftigkeit jedoch nicht nachgewiesen. Sie habe ursprünglich am 20.11.2015 ein Geldvermögen iHv ca. 99.000 € gehabt. Der Verbrauch dieses Vermögens sei nicht nachgewiesen oder auch nur plausibel gemacht. Die ungedeckten Kosten für das Pflegeheim hätten ca. 42.000 € betragen, so dass noch ca. 57.000 € Restvermögen verblieben seien. Davon seien ca. 10.000 € belegt, so dass ein ungeklärter Betrag von ca. 47.000 € verbleibe. Die Bewohnerin hätte dies zumindest plausibel erklären können und müssen. Die Unaufklärbarkeit des Sachverhaltes gehe zu Lasten der Bewohnerin und nach deren Tod zu Lasten der Klägerin als Rechtsnachfolgerin.

 

Die Klägerin hat gegen das ihr am 19.03.2021 zugestellte Urteil am 16.04.2021 Berufung eingelegt. Existenzsichernde Leistungen dürften nicht aufgrund von bloßen Mutmaßungen abgelehnt werden. Die Bewohnerin habe altersbedingt nicht mehr nachvollziehen können, wofür sie das Geld verwendet habe. Schließlich sei für den Fall, dass die fehlende Erklärung für den Verbleib des Geldes auf einer manifestierenden, progredienten geistigen Erkrankung beruhe, eine Ausnahme von dem Grundsatz zu machen, dass der Hilfesuchende die objektive Beweislast für das Nichtvorliegen von Vermögen trage (Bezugnahme auf den Beschluss des Senates vom 25.10.2017 – L 9 SO 413/17 B ER). Dies sei bei der Bewohnerin der Fall, sie habe zwar keine demenzielle Erkrankung gehabt, aber es habe ein altersbedingter geistiger und körperlicher Abbauprozess stattgefunden.

 

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 16.03.2021 zu ändern, den Bescheid vom 30.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.03.2019 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr die ungedeckten Kosten für die stationäre Unterbringung der verstorbenen Frau V. C. im Zeitraum 01.07.2018 – 00.00.2020 ohne Berücksichtigung von Vermögen zu zahlen.

 

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Der Beklagte hält das Urteil für zutreffend. Solange der Verbrauch des Vermögens nicht nachgewiesen sei, könnten Leistungen nach dem SGB XII nicht beansprucht werden.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsakte der Beklagten und die Betreuungsakte des Amtsgerichts R., die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid vom 30.10.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.03.2019 ist rechtswidrig. Die Bewohnerin hatte Anspruch auf Übernahme der ungedeckten Heimkosten vom 01.07.2018 bis zum 00.00.2020. Dieser Anspruch ist nach deren Tod gem. § 19 Abs. 6 SGB XII auf die Klägerin übergegangen.

 

Streitgegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 30.10.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.03.2019, mit dem der Beklagte die Übernahme der ungedeckten Heimkosten der Bewohnerin ab dem 01.07.2018 ablehnt. Der streitige Zeitraum reicht bis zum Tode der Bewohnerin am 00.00.2020. Inhaberin des streitigen Anspruchs ist nach deren Tod gem. § 19 Abs. 6 SGB XII die Klägerin geworden, da es sich bei dem streitigen Anspruch um eine Leistung für eine Einrichtung handelt, die von der Klägerin erbracht worden ist. Dieser durch die Sonderrechtsnachfolge kraft Gesetzes herbeigeführte Beteiligtenwechsel ist keine Klageänderung iS des § 99 SGG, sondern führt zu einer Berichtigung des Rubrums von Amts wegen (BSG Urteil vom 08.03.2017 – B 8 SO 20/15 R).

 

Bei einem Anspruch auf Übernahme von ungedeckten Heimkosten handelt es sich um eine Sachleistung, die Bewilligung erfolgt in Form des Schuldbeitritts zu der zivilrechtlichen Verpflichtung des Heimbewohners (BSG Urteil vom 28.10. 2008 – B 8 SO 22/07 R). Im Falle des Beteiligtenwechsels nach § 19 Abs. 6 SGB XII wandelt sich der Sachleistungsanspruch jedoch in einen Geldleistungsanspruch um, denn die Einrichtung ist nunmehr selbst Inhaberin des Anspruchs (BSG Urteil vom 08.03.2017 – B 8 SO 20/15 R, Coseriu/Filges in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 19 Rn. 66). Die jetzige Klägerin konnte ihren Antrag daher auf den Erlass eines Grundurteils beschränken (BSG Urteil vom 08.03.2017 – B 8 SO 20/15 R). Es bedarf daher keiner Entscheidung, ob dies auch bei einem Sachleistungsanspruch möglich ist (vgl. dazu Urteil des Senates vom 10.03.2022 – L 9 SO 136/19).

 

Der beklagte Landkreis ist als örtlicher Träger der Sozialhilfe passivlegitimiert (§ 3 Abs. 2 SGB XII). Eine abweichende landesrechtliche Bestimmung liegt nicht vor, mit § 2a AG-SGB XII NRW in der ab dem 01.01.2018 gF hat der Landesgesetzgeber die Anwendung von § 97 Abs. 3 SGB XII ausgeschlossen.

 

Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung der im Zeitraum 01.07.2018 bis 00.00.2020 nach Einsatz von Pflegeversicherungsleistungen und Renteneinkommen ungedeckt gebliebenen Kosten für die stationäre Unterbringung der pflegebedürftigen Bewohnerin. Die stationäre Unterbringung war erforderlich, um die Pflege sicherzustellen, denn der Pflegebedarf der Bewohnerin konnte nicht auf andere Weise gedeckt werden.

 

Die ungedeckten Heimkosten können einen Anspruch auf drei unterschiedliche Leistungen nach dem SGB XII auslösen. Die Maßnahmekosten – also die Pflegeleistungen – werden im Rahmen der Hilfe zur Pflege gedeckt. Die Kosten für den inkludierten Lebensunterhalt (Unterkunft und Verpflegung) sind durch Grundsicherungsleistungen zu decken, während der weitere notwendige Lebensunterhalt (insbesondere der Barbetrag) nach der Rechtsprechung des BSG als Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel geleistet wird (BSG Urteil vom 23.03.2021 – B 8 SO 16/19 R mwN). Alle drei Leistungen setzen gem. § 19 Abs. 1 bis 3 SGB XII voraus, dass der jeweilige Bedarf nicht durch eigenes Einkommen und Vermögen gedeckt werden kann.

 

Das ist hier der Fall. Das Renteneinkommen der Bewohnerin deckte den Bedarf nicht. So belief sich zB die Rechnung der Klägerin im Monat Juli 2018 auf insgesamt 3.472,50 €. Davon zahlte die Pflegeversicherung 1.072,02 €, so dass noch 2.397,48 € offen blieben. Das Renteneinkommen belief sich auf lediglich 1.054,07 €. Auch in den anderen streitgegenständlichen Monaten war nicht der gesamte Bedarf durch das Einkommen der Bewohnerin gedeckt.

 

Einzusetzendes Vermögen war im streitigen Zeitraum nicht vorhanden. Grundsätzlich ist gem. § 90 Abs. 1 SGB XII das gesamte verwertbare Vermögen einzusetzen. Nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII darf die Sozialhilfe nicht abhängig gemacht werden vom Einsatz oder von der Verwertung kleinerer Barbeträge oder sonstiger Geldwerte. Der Vorschrift unterfallen nicht nur unmittelbar Geldbeträge und Geldwerte im engeren Sinn, sondern mittelbar auch Vermögensgegenstände, wenn der Erlös aus ihrer Verwertung den maßgeblichen Freibetrag nicht übersteigt bzw. übersteigen würde (BSG Urteil vom 20.09.2012 - B 8 SO 13/11 R). Der Freibetrag beläuft sich nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung zur Durchführung des § 90 Abs. 2 Nr. 9 des SGB XII (in der ab dem 01.04.2017 geltenden Fassung) für jede volljährige Person auf 5.000 €. Die Vorschrift in § 66a SGB XII führt nicht zu einer Erhöhung des maßgeblichen Freibetrages. Nach dieser Vorschrift gilt für Personen, die Leistungen nach dem Siebten Kapitel erhalten, ein zusätzlicher Betrag von bis zu 25.000 € für die Lebensführung und die Alterssicherung im Sinne von § 90 Abs. 3 Satz 2 SGB XII als angemessen, sofern dieser Betrag ganz oder überwiegend als Einkommen aus selbständiger und nichtselbständiger Tätigkeit der Leistungsberechtigten während des Leistungsbezugs erworben wird. Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt, denn die Bewohnerin hatte während des streitigen Zeitraums neben der Altersrente kein weiteres Einkommen.

 

Auf dem Girokonto der Bewohnerin befand sich zum Zeitpunkt der Antragstellung ein Betrag von 659,85 €. Die beiden Sparbücher wiesen noch Guthaben von 3,89 € bzw. 0,59 € auf. Es kann offenbleiben, ob die Bewohnerin zum Zeitpunkt der Antragstellung noch Inhaberin des ursprünglichen Sparguthabens von ca. 80.000 € war, denn selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, war das Vermögen nicht verwertbar. Verwertbar ist Vermögen dann, wenn seine Gegenstände übertragen oder belastet werden können (stRspr des BSG, vgl. Urteil vom 25.08.2011 - B 8 SO 19/10 R). Ob Vermögensgegenstände verwertbar sind, beurteilt sich dabei unter rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten; der Vermögensinhaber muss also über das Vermögen verfügen dürfen, aber auch verfügen können (BSG Urteil vom 09.12.2016 – B 8 SO 15/15 R).

 

Eine Beurteilung der tatsächlichen Verwertbarkeit verlangt eine Betrachtung des Einzelfalls. Faktische Verwertungshindernisse können sich insbesondere aufgrund von Besonderheiten des Vermögensgegenstands selbst ergeben; so kann ein Verwertungsausschluss insbesondere bei Gegenständen oder Rechten vorliegen, für die sich in absehbarer Zeit kein Käufer finden lassen wird, etwa weil diese aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls nicht marktgängig sind und gleichzeitig auch keine andere Verwertung möglich ist. Er kann aber auch aus Besonderheiten in der Person des Vermögensinhabers oder anderen Umständen folgen (BSG Urteil vom 09.12.2016 – B 8 SO 15/15 R).

 

Im vorliegenden Verfahren folgt die Unverwertbarkeit aus der fehlenden Verfügungsmöglichkeit der Bewohnerin. Sie hatte keinen Zugriff mehr auf das Geld, nachdem die Bevollmächtigte es bis Anfang 2017 vollständig von den Sparbüchern abgehoben hatte. Das Geld befand sich weder auf den Konten der Bewohnerin noch in ihrem Zimmer im Pflegeheim, es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sie Geld vor ihrem Tod in ihrem Zimmer oder anderweitig, etwa in einem Bankschließfach, aufbewahrt hatte.

 

Eine Verwertungsmöglichkeit für die Bewohnerin ergibt sich auch nicht daraus, dass ihre Bevollmächtigte zu deren Lebzeiten möglicherweise noch über das Geld verfügen konnte. Zwar ist das Handeln und Unterlassen eines Vertreters dem Vertretenen grundsätzlich analog § 166 Abs. 1 BGB zuzurechnen. Das gilt jedoch nur, soweit der Bevollmächtigte das Vermögen ausschließlich für Bedarfe des Vertretenen einsetzt – was hier augenscheinlich nicht der Fall war – oder wenigstens noch eine Kontrollmöglichkeit des Vertretenen besteht, dieser also den Vertreter überwachen und die Vollmacht ggfs. widerrufen kann. Wenn dies nicht mehr der Fall ist, fehlt es an der Möglichkeit der Einflussnahme und damit an einer Voraussetzung für eine tatsächliche Verwertung des Vermögens. Im vorliegenden Verfahren war eine Kontrollmöglichkeit der Bewohnerin gegenüber ihrer Bevollmächtigten nicht mehr gegeben. Bei ihr bestand zwar keine demenzielle Entwicklung, aber altersbedingt waren nicht nur ihre körperlichen, sondern auch ihre geistigen Kräfte eingeschränkt. Dies wird deutlich durch den GdB von 70, der ua auf einer Hirnleistungsbeeinträchtigung beruhte. Die Bewohnerin hat im Betreuungsverfahren mehrfach angegeben, sie habe keine Kenntnis von ihrer finanziellen Situation und dem Handeln ihrer Bevollmächtigten. Gegenüber der Mitarbeiterin der Betreuungsstelle hat sie erklärt, sie habe keinerlei Überblick über ihre finanziellen Angelegenheiten. Bei der Anhörung durch das Betreuungsgericht hat sie den Wunsch nach einer Unterstützung im Hinblick auf Behördenangelegenheiten und offizielle Schriftstücke geäußert, da ihr dies zu viel sei. Die Berufsbetreuerin weist in ihrem Bericht vom 14.01.2020 darauf hin, dass die Bewohnerin zu den Abhebungen von ihrem Konto keine Angaben machen könne, da sie alles in die Hände der Bevollmächtigten gelegt habe.

 

In einer solchen Konstellation, in der ein Einsatz des Vermögens ausschließlich für Bedarfe des Vertretenen fehlt und die Möglichkeit, den Vertreter zu kontrollieren, vollständig aufgehoben ist, ist die Verwertung des Vermögens durch den Vertretenen ausgeschlossen. Zwar besteht in vielen Fällen, in denen eine Vorsorgevollmacht erteilt worden ist, keine Kontrollmöglichkeit des Vertretenen, zB bei einer Demenzerkrankung oder einem Wachkoma. Dies ändert aber nichts daran, dass Einkommen und Vermögen nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nur dann zu berücksichtigen sind, wenn sie zur Bedarfsdeckung tatsächlich zu Verfügung stehen (BSG Urteil vom 23.03.2021 – B 8 SO 2/20 R).

 

Der Gefahr, dass es nach der Vollmachterteilung aufgrund einer Erkrankung zu einem Verlust der Kontrollmöglichkeit des Vertretenen kommen kann und dann eine Gefahr des Missbrauchs der Vollmacht gegeben ist, begegnet das Gesetz mit § 1820 Abs. 3 BGB. Hiernach besteht für das Betreuungsgericht die Möglichkeit, einen Kontrollbetreuer zu bestellen. Die Voraussetzungen dafür sind, dass der Vollmachtgeber aufgrund einer Krankheit oder Behinderung nicht mehr in der Lage ist, seine Rechte gegenüber dem Bevollmächtigten auszuüben, und aufgrund konkreter Anhaltspunkte davon auszugehen ist, dass der Bevollmächtigte die Angelegenheiten des Vollmachtgebers nicht entsprechend der Vereinbarung oder dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Vollmachtgebers besorgt.

 

Eine solche Situation lag hier vor. Die Bewohnerin konnte ihre Bevollmächtigte alters- und krankheitsbedingt nicht mehr kontrollieren. Nachdem diese den Verbleib des Geldes nicht plausibel erklären konnte, lagen ausreichende Anhaltspunkte für eine zweckwidrige Verwendung vor. Der Beklagte hätte daher schon im Verwaltungsverfahren zu Lebzeiten der Bevollmächtigten die Möglichkeit gehabt, beim Betreuungsgericht die Bestellung eines Kontrollbetreuers anzuregen und so den Einsatz des Vermögens für das Pflegeheim sicherzustellen. Dem steht nicht entgegen, dass die Bevollmächtigte das Geld zum Zeitpunkt der Antragstellung von den Konten abgehoben und möglicherweise bereits verbraucht hatte. Die Aufgabe eines Kontrollbetreuers besteht insbesondere darin, von dem Bevollmächtigten Auskunft und Rechenschaftslegung über das Vermögen des Vertretenen zu verlangen (stRspr des BGH, zB Beschluss vom 08.01.2020 – XII ZB 368/19 mwN). Darüber hinaus kann das Gericht gem. § 1820 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 BGB unter den dort genannten Voraussetzungen anordnen, dass der Bevollmächtigte die ihm erteilte Vollmacht nicht ausüben darf und die Vollmachtsurkunde an den Betreuer herauszugeben hat. Als ultima ratio kommt gem. § 1820 Abs. 5 BGB die Ermächtigung zum Widerruf der Vollmacht durch den Kontrollbetreuer in Betracht (stRspr des BGH, zB Beschlüsse vom 08.01.2020 – XII ZB 368/19 mwN, vom 30.08.2017 – XII ZB 16/17 und vom 09.05.2018 – XII ZB 413/17). Wenn der Bevollmächtigte auf ein entsprechendes Verlangen nicht darlegen und ggfs. nachweisen kann, dass das Vermögen im Interesse des Vertretenen verbraucht worden ist, kann der Kontrollbetreuer einen Regress einleiten. In Betracht kommen ein Schenkungsrückforderungsanspruch nach § 528 BGB oder bei unbefugtem Handeln ein Anspruch auf Herausgabe des durch die Geschäftsführung Erlangten sowie auf Schadenersatz (Roth in: Erman, BGB, 17. Aufl. 2023, § 1820, Rn. 17). Daneben kann der Beklagte auch einen Anspruch auf Kostenersatz nach § 103 SGB XII geltend machen, wenn der ursprüngliche Bevollmächtigte das Vermögen ohne entsprechende Befugnis verbraucht hat, um auf diese Weise den Nachrang der Sozialhilfe wiederherzustellen.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG) bestehen nicht.

 

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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