Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger eine Entschädigung von 700,00 Euro wegen unangemessener Dauer des Gerichtsverfahrens S 16 AS 517/22 vor dem Sozialgericht Düsseldorf zuzüglich Prozesszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über den jeweiligen Basiszinssatz seit dem 18. November 2022 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger zu 42 Prozent und der Beklagte zu 58 Prozent.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert wird auf 1.200,00 EURO festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf unter dem Aktenzeichen S 16 AS 517/22 (vormals S 29 AS 2951/19) geführten Verfahrens (im Folgenden: Ausgangsverfahren).
Im Ausgangsverfahren begehrte der Kläger im Rahmen eines Auskunftsanspruches die Mitteilung durch das beklagte Jobcenter, welche Akten mit darin von ihm enthaltenen personenbezogenen Daten an ein externes Unternehmen übermittelt wurden. Gleichfalls sollte Auskunft darüber gegeben werden, welche Daten der dortige Beklagte im Rahmen eines anhängigen Berufungsverfahrens (L 20 AL 107/18) dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) zugeleitet hatte. Vor dem Hintergrund von Angaben des beklagten Jobcenters im Erörterungstermin am 3. Juni 2022 erklärte der Kläger das Verfahren für erledigt.
Das Ausgangsverfahren stellte sich chronologisch wie folgt dar:
Gerichtsakte |
Eingangs- bzw. Verfügungsdatum |
Aussteller |
Anm. |
1 |
18.07.2019 |
Kl. |
Eingang Klageschrift |
11 |
31.07.2019 |
SG |
Eingangsverfügung |
12 |
05.09.2019 |
Bekl. |
Klagerwiderung |
12 R |
06.09.2019 |
SG |
Weiterleitung an Kl. zK und Hinweis an Bekl. mit der Aufforderung, die Auskünfte zu erteilen |
15 |
01.10.2019 |
Bekl. |
Schriftsatz Bekl. |
16 R |
04.10.2019 |
SG |
Weiterleitung an Kl. zK + Zusatz: Anfrage Erledigungserklärung? |
17 |
14.11.2019 |
Kl. |
Schriftsatz |
18 R |
15.11.2019 |
SG |
Weiterleitung zur Stell. an Bekl. |
19 |
04.12.2019 |
Bekl. |
Schriftsatz |
19 R |
05.12.2019 |
SG |
Weiterleitung an Kl. zur freigestellt. Stell. |
20 |
12.12.2019 |
Kl. |
Schriftsatz |
20 R |
16.12.2019 |
SG |
Weiterleitung an Bekl. zK und Hinweis an Kl. |
20 R |
20.01.2020 |
SG |
Erinnerung des Kl. |
21 |
03.02.2020 |
Kl. |
Schriftsatz |
22 R |
03.02.2020 |
SG |
Weiterleitung an Bekl. zK |
22 R |
18.02.2020 |
SG |
WV 2 Wo |
22 R |
05.03.2020 |
SG |
WV zum ET |
22 R |
01.02.2021 |
SG |
WV 01.05.2021 |
23 R |
06.05.2021 |
SG |
WV 01.07.2021 |
23 R |
16.08.2021 |
SG |
WV 05.10.2021 |
24 |
05.10.2021 |
SG |
WV 10.11.2021 |
24 R |
11.11.2021 |
SG |
WV 4 Wo (?) |
25 |
10.02.2022 |
SG |
WV 4 Wo (?) |
26 |
17.02.2022 |
Kl. |
Verzögerungsrüge |
26 R |
09.03.2022 |
SG |
Vermerk: Verfahren am 12.01.2022 versehentlich als erledigt ausgetragen. |
26 R |
10.03.2022 |
SG |
Neuerfassung/Ladung mV am 25.03.2022 |
30 |
16.03.2022 |
Kl. |
Antrag auf Terminsaufhebung |
32 |
23.03.2022 |
SG |
Terminsaufhebung/Hinweis an Kl./omV-Anfrage |
36 |
12.04.2022 |
SG |
Ladung ET 03.06.2022 |
43 |
03.06.2022 |
SG |
Protokoll/Erledigungserklärung Kl. |
Am 13. Oktober 2022 hat der Kläger Entschädigungsklage bezüglich des Ausgangsverfahrens erhoben, die dem Beklagten am 17. November 2022 zugestellt worden ist. Der Kläger macht geltend, dass es in dem Ausgangsverfahren zu folgenden Inaktivitätszeiten gekommen sei:
- 2020: April bis Dezember 2020 (9 Monate)
- 2021: Januar bis Dezember 2021 (12 Monate)
- 2022: Januar, Februar und Mai 2022 (3 Monate), insgesamt 24 Monate
Das Verfahren habe für ihn eine überdurchschnittliche Bedeutung gehabt. Das Auskunftsverlangen habe zur Vorbereitung weiterer Ansprüche nach der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) gedient. Eine bloße Feststellung der Überlänge sei nicht ausreichend.
Die eingetretenen Verfahrensverzögerungen ließen sich nicht durch etwaige Besonderheiten der Corona-Pandemie rechtfertigen. Das gelte auch für die Monate April und Mai 2020. Es habe dem Beklagten oblegen, die Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Verfahrensführung auch unter Pandemiebedingungen zu schaffen. Etwaige reduzierte Möglichkeiten zur Durchführung von Gerichtsterminen hätten sich zudem z.B. durch Entscheidungen im schriftlichen Verfahren oder aufgrund von Videositzungen kompensieren lassen.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn eine Entschädigung von 1.200,00 Euro wegen unangemessener Dauer des Gerichtsverfahrens S 16 AS 517/22 SG Düsseldorf zuzüglich Prozesszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 18. November 2022 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er trägt vor: Auch wenn das Ausgangsverfahren teilweise keine Verfahrensförderung erkennen lasse, dürfte eine Entschädigung in Geld nicht in Betracht kommen. Für eine Wiedergutmachung allein durch Feststellung der Verfahrenslänge spreche vorliegend, dass im Ausgangsverfahren ein Auskunftsanspruch nach § 83 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) i.V.m. der DSGVO streitig gewesen sei. Ein Anspruch auf Auskunft habe eher eine geringere Bedeutung. Der Wert des Streitgegenstandes sei nicht in Euro zu beziffern. Die Klage weise zudem einen geringen Schwierigkeitsgrad und Umfang auf. Hinsichtlich der Komplexität des Rechtsstreites sei zu berücksichtigen, dass weitere Verfahren des Klägers anhängig gewesen seien. Zudem habe ein Kammerwechsel stattgefunden. Ein Verschulden in der Organisation und Personalausstattung sei diesbezüglich nicht erkennbar.
Den Beteiligten sind terminvorbereitend am 13. Juli 2023 Erlasse des Ministeriums der Justiz betreffend die Pandemie-Planung des Landes NRW im Zusammenhang mit der COVID 19- Pandemie übersandt worden, wegen deren Einzelheiten auf die zu den Gerichtsakten genommenen Unterlagen Bezug genommen wird.
Der Senat hat die Akten des Ausgangsverfahren beigezogen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind. Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
Der Senat hat den Beteiligten gestattet, sich während der mündlichen Verhandlung nicht im Sitzungssaal, sondern an einem geeigneten anderen Ort aufzuhalten, wohin die Sitzung zeitgleich in Bild und Ton übertragen wird und der eine störungsfreie Durchführung der Verhandlung gewährleistet, und von dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen (Beschluss vom 17. Juli 2023).
Entscheidungsgründe
A. Die Anträge sind wirksam im Rahmen der mündlichen Verhandlung gestellt worden. Dass der Kläger nicht persönlich im Gerichtssaal anwesend war, sondern von einem dritten Ort aus per Video- und Tonübertragung an der Verhandlung teilgenommen hat, ist gemäß § 110a Sozialgerichtsgesetz (SGG) aufgrund des gerichtlichen Beschlusses vom 17. Juli 2023 zulässig gewesen.
B. Streitgegenstand der Entschädigungsklage ist der Anspruch des Klägers auf Entschädigung in Höhe von 1.200,00 Euro wegen unangemessener Dauer des beim SG Düsseldorf geführten Klageverfahrens S 16 AS 517/22 (vormals S 29 AS 2951/19).
C. Für die Entscheidung über diese Klage ist das LSG NRW erstinstanzlich zuständig (§ 201 Abs. 1 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz <GVG> i.V.m. § 202 Satz 2 SGG).
D. Die auf die Zahlung einer angemessenen Entschädigung gerichtete Klage ist zulässig.
I. Die Klage ist als allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG statthaft (hierzu BSG, Urteil vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 11/13 R – BSGE 118, 102 ff., Rn. 15; BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 12/13 R – SozR 4-1720 § 198 Nr. 4, Rn. 20; jeweils m.w.N.).
II. Der Kläger begehrt Entschädigung ausdrücklich allein für Verzögerungen, die bis zur Erledigung der Hauptsache eingetreten sind. Das insofern noch nicht förmlich abgeschlossene Kostenfestsetzungsverfahren ist nicht Gegenstand seines Begehrens. Dies steht der Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs im Rahmen einer Entschädigungsklage nicht entgegen. Denn die sich regelmäßig an die Erledigung der Hauptsachen anschließenden Verfahren nach § 197 SGG stellen eigenständige Gerichtsverfahren im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG dar (BSG, Urteil vom 10. Juli 2014 – B 10 ÜG 8/13 R – SozR 4-1720 § 198 Nr. 2, Rn. 16 ff.).
III. Der Kläger hat die Wartefrist nach § 198 Abs. 5 Satz 1 GVG eingehalten. Hiernach kann die Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach § 198 Abs. 1 GVG frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden (zur Wartefrist als Sachurteilsvoraussetzung: BSG, Urteil vom 5. Mai 2015 – B 10 ÜG 8/14 R – SozR 4-1710 Art. 23 Nr. 4, Rn. 17). Die Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 3 Satz 1 GVG) hat der Kläger am 17. Februar 2022 wirksam (vgl. § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG) erhoben. Ausgehend davon ist die Klageerhebung nach Ablauf der Wartefrist erfolgt (vgl. § 94 Satz 2 SGG), denn der Kläger hat sie erst am 13. Oktober 2022 bei dem Entschädigungsgericht anhängig gemacht.
IV. Die Klagefrist nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG ist gewahrt. Danach muss die Klage spätestens sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung, die das Verfahren beendet, oder einer anderen Erledigung des Verfahrens erhoben werden.
Das Ausgangsverfahren endete am 3. Juni 2022. Zu diesem Zeitpunkt hat der Kläger seine als Klagerücknahme im gerichtskostenfreien Verfahren auszulegende Erledigungserklärung (vgl. Burkiczak in: jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 102 Rn. 34 m.w.N.) zu Protokoll erklärt. Diese Erklärung ist, auch wenn sie nur laut diktiert und nicht nochmals vorgespielt wurde, wirksam (BSG, Beschluss vom 5. Dezember 2022 – B 4 AS 165/22 AR – juris-Rn. 4; Burkiczak, a.a.O., Rn. 17 m.w.N.). Die Klagefrist endete davon ausgehend am 5. Dezember 2022 (§§ 90, 64 SGG). Sie ist durch Klageerhebung am 13. Oktober 2022 gewahrt.
V. Die zwingenden Zulässigkeitsvoraussetzungen gemäß § 92 Abs. 1 Satz 1 SGG sind erfüllt, da die Klage die Beteiligten und den Gegenstand hinreichend präzise benennt (vgl. zu den Zulässigkeitsanforderungen an eine Entschädigungsklage insoweit: BSG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – B 10 ÜG 4/16 R – SozR 4-1500 § 92 Nr. 5, Rn. 12 ff.).
E. Die Klage ist im tenorierten Umfang begründet. Der Kläger hat als Verfahrensbeteiligter des Ausgangsverfahrens im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 6 Nr. 2 GVG aufgrund der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens einen Nachteil erlitten, der nach Maßgabe des § 198 Abs. 2 GVG zu entschädigen ist.
I. Die Dauer des Ausgangsverfahrens war im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG im Umfang von sieben Monaten unangemessen.
1. Den Ausgangspunkt und ersten Schritt der Angemessenheitsprüfung bildet die Bestimmung der in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierten Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens (zur Prüfungssystematik vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R – BSGE 117, 21 ff., Rn. 23 ff.).
a) Das Gerichtsverfahren i.S.d. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG beginnt nach der Legaldefinition des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG mit dessen Einleitung, also dem Moment des Eintritts der Rechtshängigkeit (§ 94 Satz 1 SGG), und endet mit dem rechtskräftigen Abschluss, d.h. bis zum Ablauf einer eventuellen Rechtsmittelfrist (BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 – B 10 ÜG 1/12 KL – BSGE 113, 75 ff., Rn. 24). Kleinste relevante Zeiteinheit ist der Kalendermonat (BSG, Urteil vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 11/13 R – a.a.O., Rn. 4).
b) Nach diesen Maßstäben begann das Ausgangsverfahren mit Einreichung der Klage beim SG Düsseldorf am 18. Juli 2019 und endete im Termin durch Erledigungserklärung des Klägers am 3. Juni 2022. Dieser insgesamt 36 volle Kalendermonate umfassende Zeitraum ist als materiell-rechtlicher Bezugsrahmen der Entschädigungsklage zugrunde zu legen.
2. In einem zweiten Schritt ist der Ablauf des Verfahrens in kalendermonatsgenauer Betrachtung an den von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien zu messen, die unter Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz <GG>) sowie zum Justizgewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) auszulegen und zu vervollständigen sind (BSG, Urteil vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 7/14 R – SozR 4-1720 § 198 Nr. 10, Rn. 27; Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R – a.a.O. -, Rn. 25). Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich infolgedessen gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten sowie Dritter, ergänzend zudem der Prozessleitung des Ausgangsgerichts (BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R – a.a.O. -, Rn. 34 m.w.N.).
a) Die Bedeutung des Verfahrens ergibt sich aus der allgemeinen Tragweite der erstrebten Entscheidung für die materiellen und ideellen Interessen der Beteiligten, sie wird zudem geprägt durch ihr Interesse gerade an einer raschen Entscheidung, weshalb es auch darauf ankommt, ob und wie sich der Zeitablauf nachteilig auf die Verfahrensposition des Beteiligten und das geltend gemachte materielle Recht sowie möglicherweise auf seine weiteren geschützten Interessen auswirkt (BSG, Urteil vom 3. September 2014 – B 10 ÜG 2/13 R – a.a.O., Rn. 29). Dabei kommt es allein auf einen Maßstab objektivierter Betrachtung an (BSG, Urteil vom 7. September 2017 – B 10 ÜG 1/16 R – BSGE 124, 136 ff., Rn. 35 m.w.N.).
Ausgehend davon hat das Verfahren im vorliegenden Fall eine durchschnittliche Bedeutung gehabt. Der Kläger hat ein Auskunftsbegehren geltend gemacht, mit dem er weitergehende datenschutzrechtliche Belange verfolgt hat. Mit Blick auf die Bedeutung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) und der in der DSGVO verbrieften Rechte ist einem derartigen Auskunftsbegehren nicht von vornherein eine u.U. erhebliche Bedeutung für den betroffenen Beteiligten abzusprechen. Andererseits ist über die konkrete Bedeutung der möglicherweise weiteren geschützten Interessen sowie über den Fortgang des Verfahrens nichts mitgeteilt worden.
b) Der Schwierigkeitsgrad des Verfahrens war allenfalls durchschnittlich. Es handelte sich um eine Klage auf Auskunft nach § 83 SGB X i.V.m. Art. 15 DSGVO. Bei übergreifender Betrachtung weist es keine Besonderheiten auf, die es schwieriger als ähnliche Fälle dieser Art machen würden. Insbesondere waren keine Ermittlungen durchzuführen.
c) Eine dem Kläger zuzurechnende Verzögerung des Ausgangsverfahrens ist nicht ersichtlich.
d) Mit Blick auf die Prozessleitung des SG lassen sich im Ausgangsverfahren insgesamt 24 Monate an gerichtlicher Inaktivität feststellen <aa)>. Davon sind jedoch insgesamt fünf Monate dem Beklagten für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nicht zuzurechnen <bb)>. Weitere Zeiträume sind nicht abzusetzen <cc)>.
aa) Bei der Feststellung der insgesamt 24 Monate inaktiver Zeiten ist wiederum als kleinste relevante Zeiteinheit ein Kalendermonat zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 11/13 R – a.a.O., Rn. 34).
Zutreffend geht der Kläger davon aus, dass das Verfahren in den Monaten April 2020 bis Februar 2022 durchgängig seitens des SG nicht betrieben worden ist (23 Monate). Erst im März 2022 hat durch Ladung zur mündlichen Verhandlung am 25. März 2022 eine weitere Verfahrensförderung stattgefunden. Hinzu kommt zwischen der am 12. April 2022 erfolgten Ladung zum Erörterungstermin am 3. Juni 2022, in dem sich das Verfahren erledigt hat, ein „inaktiver Zeitraum“ im Mai 2022.
bb) Von diesen inaktiven Zeiten sind die Monate April 2020 sowie Dezember 2020 bis März 2021 (insgesamt fünf Monate) aufgrund der COVID-19-Pandemie dem Beklagten für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nicht zuzurechnen.
(1) Dass Umstände außerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs, die zu Verfahrensverzögerungen führen, keinen Entschädigungsanspruch auslösen, ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte und der Teleologie des § 198 GVG. Die Gesetzesmaterialien führen insoweit aus, der für einen Entschädigungsanspruch maßgebliche Tatbestand sei die Verletzung des Anspruchs eines Verfahrensbeteiligten aus Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 20 Abs. 3 GG und aus Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Entscheidung seines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit (BT-Drs. 17/3802, S. 18). Gegenüber diesen Rechten, die sich nicht an das zur Entscheidung berufene Gericht, sondern maßgeblich an die staatlich verfasste Gemeinschaft richten, könne sich der Staat nicht rechtfertigend auf Umstände innerhalb seines Verantwortungsbereichs berufen. Vielmehr müsse er alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren in angemessener Zeit beendet werden könnten (BT-Drs. 17/3802, S. 19). Im Umkehrschluss folgt daraus, dass zur Verfahrensverzögerung führende Umstände, die der Staat auch nicht bei Ergreifen aller „notwendigen Maßnahmen“ vermeiden kann, seine Entschädigungspflicht nicht begründen können (Bundesfinanzhof <BFH>, Urteil vom 27. Oktober 2021 – X K 5/20 – BFHE 274, 485 ff., Rn. 33 ff.; BSG, Urteil vom 24. März 2022 – B 10 ÜG 2/20 R – Rn. 42; ständige Rechtsprechung des BVerfG zum Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG, statt aller: BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 10. Januar 2023 – 1 BvR 1346/22 u.a. – NVwZ 2023, 991 f., Rn. 12 m.w.N.; vgl. auch EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 – 8453/04 – NVwZ 2010, 1015 ff., Rn. 53, wo insoweit von „höherer Gewalt“ gesprochen wird).
(2) Der am 11. März 2020 von der Weltgesundheitsorganisation zur weltweiten Pandemie erklärte Ausbruch der bis dahin unbekannten Infektionskrankheit COVID-19 begründete jedenfalls in den Monaten März und April 2020 insgesamt sowie hinsichtlich des Sitzungsbetriebes auch in den Monaten Dezember 2020 bis März 2021 Umstände in diesem Sinne, die einerseits zu Verfahrensverzögerungen führten und andererseits auch durch Ergreifen aller notwendigen staatlichen Maßnahmen zur Vermeidung solcher Verzögerungen nicht vollständig vermieden werden konnten.
(a) In Deutschland wurden – im Anschluss an einen lokal noch beherrschbaren Ausbruch bei einem in Bayern ansässigen Automobilzulieferer – die ersten Fälle von COVID-19-Infektionen Ende Februar in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen festgestellt (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Europa#Deutschland). Das die Infektion auslösende SARS-CoV-2-Virus zeichnet sich durch eine besonders effektive Vermehrung im Rachenraum aus, die zu einer hohen Ansteckungsfähigkeit führt (vgl. Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2020, S. 18 f. m.w.N.). Die Erkrankten mussten in einer nicht unerheblichen Anzahl von Fällen stationär und auch intensivmedizinisch behandelt werden; die Krankheit kann trotz Behandlung zum Tode, aber auch zu langfristigen Leiden führen, wobei das Ausmaß ihrer Pathogenität jedenfalls in der Anfangszeit unbekannt war (BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 – 1 BvR 781/21 u.a. – BVerfGE 159, 223 ff., Rn. 126 – „Bundesnotbremse I“; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 – 1 BvR 971/21 u.a. – BVerfGE 159, 355 ff., Rn. 155 – „Bundesnotbremse II“).
(b) Sämtliche deutschen Landesgesetzgeber haben bereits im März 2020 auf diese Entwicklung mit umfangreichen Kontaktbeschränkungen reagiert (vgl. zur Entwicklung Kersten/Rixen, a.a.O., S. 21 f. m.w.N.). In NRW wurde gemäß §§ 3, 10 Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-Cov-2 (CoronaSchVO) vom 22. März 2020 (GV.NRW. S. 2126 ff.) der Betrieb von Freizeit-, Kultur-, Sport- und Vergnügungsstätten sowie von gastronomischen Einrichtungen vollständig untersagt. Veranstaltungen und Versammlungen waren, soweit sie nicht der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der Daseinsfür- und-vorsorge dienten, untersagt (§ 11 Abs. 1 CoronaSchVO). Soweit für die tägliche Versorgung erforderliche Betriebe z.B. des Lebensmittelhandels fortgeführt werden durften, durfte die Anzahl von gleichzeitig im Geschäftslokal anwesenden Kunden eine Person pro zehn Quadratmeter der für Kunden zugänglichen Lokalfläche nicht übersteigen (§ 5 Abs. 1 Satz 2 CoronaSchVO). Zusammenkünfte und Ansammlungen in der Öffentlichkeit von mehr als zwei Personen waren grundsätzlich untersagt (§ 12 Abs. 1 Satz 1 CoronaSchVO). Davon ausgenommen waren nach § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 CoronaSchVO nur „zwingend notwendige Zusammenkünfte aus […] beruflichen und dienstlichen […] Gründen“. Angesichts der im Herbst 2020 erneut steigenden Infektionszahlen und namentlich in Sorge vor einer Überlastung des Gesundheitswesens sah die CoronaSchVO vom 30. November 2020 vergleichbare Maßnahmen, insbesondere strenge Kontaktbeschränkungen und die Verpflichtung zum Tragen von Masken im öffentlichen Raum vor, die in z.T. verschärfter Form den gesamten Winter 2020/2021 über andauerten (sog. zweiter Lockdown).
Rechtsschutzanträge gegen die genannten Maßnahmen sind im Wesentlichen erfolglos geblieben, weil sie ausgehend von der staatlichen Schutzpflicht für menschliches Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) als gerechtfertigt angesehen wurden (vgl. für das Land NRW etwa OVG NRW, Beschluss vom 6. April 2020 - 13 B 398/20.NE - NWVBl 2020, 251 ff.; Beschluss vom 15. Januar 2021 – 13 B 1899/20.NE – juris; Beschluss vom 2. Februar 2021 – 13 B 1661/20.NE – juris; Beschluss vom 12. Februar 2021 – 13 B 1750/20.NE – juris). Das BVerfG führte mit Beschluss vom 10. April 2020 (1 BvQ 31/20 – juris, Rn. 13) aus, ohne entsprechende Kontaktbeschränkungen würde sich (im konkreten Fall bezogen auf die Durchführung von Gottesdiensten) „die Gefahr der Ansteckung mit dem Corona-Virus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen nach der maßgeblichen Risikoeinschätzung des Robert-Koch-Instituts vom 26. März 2020 […] erheblich erhöhen“ (vgl. weiter BVerfG, Beschluss vom 1. Mai 2020 – 1 BvQ 42/20 – juris zur Zulässigkeit von Einschränkungen gegenüber psychisch Erkrankten; Beschluss vom 11. November 2020 – 1 BvR 2530/20 – juris betreffend die Beschränkung des Betriebs gastronomischer Betriebe sowie die zitierten Hauptsacheentscheidungen des BVerfG zur „Bundesnotbremse“ in der ersten Jahreshälfte 2021).
(c) Die genannten normativen Maßnahmen betrafen – schon mit Blick auf die durch Art. 97 Abs. 1 GG im Interesse einer geordneten Rechtspflege geschützte richterliche Unabhängigkeit – nicht unmittelbar die richterliche Tätigkeit, beeinflussten aber insbesondere den Aspekt der Erreichbarkeit eines Gerichts für Beschäftigte und Verfahrensbeteiligte. Die Arbeitssituation der Rechtsprechung lässt sich daher nicht normativ, sondern im Rahmen der generellen Tatsachenfeststellung durch den Senat anhand der Erlasslage des Ministeriums der Justiz des Landes NRW für seinen Geschäftsbereich beschreiben, die den Beteiligten des vorliegenden Verfahrens vorbereitend mit der Gelegenheit zur Stellungnahme mitgeteilt worden ist. Der Aussagewert der zitierten Erlasse besteht darin, dass sie das Verständnis des Ministeriums in seiner Schutzpflicht als Dienstherr der Beschäftigten ebenso wie gegenüber den Verfahrensbeteiligten angesichts der durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten Bedrohungen zentraler Schutzgüter widerspiegeln.
(aa) Mit Erlass vom 17. März 2020 (6274-Z.6, gültig bis zum 19. April 2020) empfahl das Ministerium, der „Dienstbetrieb sollte in allen Dienstzweigen auf das zwingend erforderliche Maß beschränkt werden. Sitzungen sollten nur dann durchgeführt werden, wenn sie keinen Aufschub dulden. […] Die Anwesenheit in den Dienstgebäuden kann auf das zwingend erforderliche Maß reduziert werden. […] Im Übrigen bleibt es bei der Möglichkeit, Verhandlungstermine aufzuheben und neu zu terminieren. Vorbehaltlich der richterlichen Unabhängigkeit empfehle ich, hiervon großzügig Gebrauch zu machen.“
Mit Erlass vom 23. April (6274-Z.6) führte das Ministerium aus, die zwischenzeitlich in Kraft getretenen Bestimmungen erlaubten es der Justiz, „schrittweise in einen geordneten Dienstbetrieb zurückzukehren“. Die Gestaltung des Sitzungsbetriebes obliege in erster Linie den Richterinnen und Richtern im Lichte ihrer richterlichen Unabhängigkeit und der Wahrnehmung der Sitzungspolizei.
(bb) Während das Ministerium der Justiz noch mit Erlass vom 30. Oktober 2020 (6274-Z.6) eine Reduzierung auf unaufschiebbare Sitzungen wie beim Erlass vom 17. März 2020 nicht für erforderlich gehalten hatte, heißt es sodann im Erlass vom 15. Dezember 2020, der einen Geltungszeitraum vom 16. Dezember 2020 bis zum 10. Januar für sich beanspruchte, unter Ziff. 1: „Ich halte es für angezeigt, im o.g. Zeitraum den Sitzungsbetrieb in den Gerichten zu beschränken – unbeschadet der richterlichen Unabhängigkeit […]. Sitzungen im Präsenzbetrieb sollten nur dann durchgeführt werden, wenn sie keinen Aufschub dulden. Nicht betroffen von dieser Einschränkung sind Sitzungen, die vollständig im Wege der Videotechnik durchgeführt sowie Verfahren und Anträge, die im schriftlichen Verfahren erledigt werden können.“ Der Geltungszeitraum wurde durch die Erlasse vom 8. und 22. Januar, 12. Februar, 5. und 26. März 2021 grundsätzlich bis zum 18. April 2021 verlängert, wobei mit Erlass vom 5. März 2021 bei einer Inzidenz stabil unter 50 Präsenzverhandlungen wieder als vertretbar angesehen wurden.
(cc) Diese Empfehlungslage entspricht der dem Entschädigungssenat offenkundigen und daher keines weiteren Beweises bedürfenden (§ 291 ZPO) tatsächlichen richterlichen und gerichtlichen Arbeitsmöglichkeiten unter den Bedingungen der Pandemie. Danach waren die ersten Wochen der Pandemie durch die Notwendigkeit einer weitestgehenden Kontaktvermeidung bereits unter den Gerichtsangehörigen, gleichzeitig aber das Bemühen gekennzeichnet, durch die Erstellung von Hygiene- und Schutzkonzepten, aber auch bauliche Veränderungen vor allem in den Gerichtssälen schnellstmöglich die Voraussetzungen für eine geordnete Rechtspflege unter Einschluss des Sitzungsbetriebes wiederherzustellen. Parallel dazu wurden die Möglichkeiten für die Durchführung von Sitzungen im Wege der Bild-Ton-Übertragung (§ 110a Abs. 1 Satz 2 SGG), also unter Vermeidung der notwendigen Anwesenheit von Beteiligten im Gerichtssaal, vorangetrieben.
(d) Ausgehend davon geht der erkennende Senat für die im vorliegenden Verfahren betroffenen Zeiträume davon aus, dass die durch die COVID-19-Pandemie ausgelösten in dieser Form und diesem Ausmaß vollständig neuartigen Bedrohungen in den Monaten März und April 2020 zu einer Einschränkung des gesamten Justizbetriebes geführt haben, die nicht in den staatlichen Verantwortungsbereich fällt (ebenso, allerdings unter Einschluss des Monats Mai: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. Januar 2023 – L 37 SF 298/21 EK AS – juris, Rn. 35 ff.; Urteil vom 20. Januar 2023 – L 37 SF 71/22 EK SO – juris, Rn. 34 ff.). In diesem Zeitraum sind Verzögerungen jeglicher Art, unabhängig davon, ob sie den Sitzungs oder den sonstigen Geschäftsbetrieb betreffen, nicht der staatlichen Verantwortungssphäre zuzuordnen.
Ab Mai 2020 waren die Voraussetzungen für eine schrittweise Rückkehr zu einem geordneten Dienstbetrieb wieder erfüllt. Verzögerungen außerhalb des Sitzungsbetriebes liegen ab diesem Zeitpunkt grundsätzlich im staatlichen Verantwortungsbereich, auch wenn sie im Einzelfall pandemiebedingt sind (z.B. wegen Erkrankung der zuständigen Kammervorsitzenden an COVID-19). Die Entscheidung über Ob und Wie der Durchführung von Sitzungen hat ab diesem Zeitpunkt – wie schon zuvor – allein im Verantwortungsbereich der Richterinnen und Richter gelegen. In den Monaten Dezember 2020 bis März 2021 war die Infektionslage dabei allerdings so angespannt, dass der Verzicht auf die Durchführung von Sitzungen grundsätzlich nicht als Verzögerung dem Beklagten zuzurechnen ist. Insofern beurteilt der erkennende Senat die Sachlage anders als das LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 20. Januar 2023 – L 37 SF 83/22 EK R – juris, Rn. 57), das ausgeführt hat, die Aufrechterhaltung des Sitzungsbetriebs sei in diesem Zeitpunkt trotz der weiterhin geltenden Einschränkungen infolge der Pandemie dem Verantwortungs- und Einflussbereich des Staates zuzuordnen, dem es oblegen habe, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Gewährung von Rechtsschutz in angemessener Zeit sicherzustellen. Letzteres ist zwar grundsätzlich zutreffend. Auch bestmögliche Infektionsschutzmaßnahmen haben es in dem betreffenden Zeitraum aber nicht verhindern können, dass es im Falle von Präsenzsitzungen zum Kontakt einer Mehrzahl von Personen auf vergleichsweise engem Raum im Sitzungssaal sowie vorgelagert im Rahmen der Sicherheitskontrolle und damit zu potenziell stark gesteigerten Infektionsrisiken kam. Diesen Risiken entspricht der Appell des Ministeriums der Justiz, im übergeordneten Interesse des Schutzes von Leben und Gesundheit der Beteiligten nur unaufschiebbare Sitzungen durchzuführen. Die damit – zu Recht – im Verantwortungsbereich der einzelnen Richterinnen und Richter liegende Entscheidung, ob eingedenk der erheblichen Gefährdungslage eine Sitzung im Einzelfall „unaufschiebbar“ war, unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit der Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG zu bewerten, verbietet sich aus Sicht des erkennenden Entschädigungssenates.
(3) Bezogen auf den vorliegenden Fall ergibt sich damit Folgendes:
(a) Die im Monat April 2020 eingetretene Inaktivität ist dem Beklagten nicht zuzurechnen. Hierfür spricht aus den dargelegten Gründen eine tatsächliche Vermutung, auch ohne dass es insoweit einer Dokumentation in den Gerichtsakten oder anderweitig bedurfte.
(b) Entsprechendes gilt für die Monate Dezember 2020 bis März 2021, weil der nach aller Wahrscheinlichkeit zu erwartende nächste Schritt gerichtlicher Aktivität die Durchführung einer Sitzung gewesen wäre.
(aa) Hiervon ist im vorliegenden Fall deshalb auszugehen, weil die Sache unmittelbar im Anschluss an den im Februar 2022 endenden Inaktivitätszeitraum zur Sitzung geladen worden ist. Daher besteht die tatsächliche Vermutung, dass die Nichtdurchführung dieser Sitzung im Zeitraum von Dezember 2020 bis März 2021 zumindest (mit-)ursächlich auf der Wahrnehmung richterlicher Verantwortung für den Infektionsschutz und die Eindämmung der Pandemie beruhte und daher dem Beklagten nicht als Verfahrensverzögerung zuzurechnen ist.
(bb) Dem steht nicht entgegen, dass das SG von den gesetzlich bestehenden Möglichkeiten einer Verfahrensbeendigung ohne mündliche Verhandlung keinen Gebrauch gemacht hat.
Insofern hängt zunächst die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) vom Einverständnis der Beteiligten ab, das weder seitens des Klägers noch des Beklagten des Ausgangsverfahrens vorlag. Eine Verpflichtung des Ausgangsgerichts, im Rahmen der Prozessförderung auf die Erteilung eines entsprechenden Einverständnisses hinzuwirken, besteht nicht.
Die Entscheidung durch Gerichtsbescheid (§ 105 SGG) ist an die Voraussetzung geknüpft, dass die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist vom Ausgangsgericht ggf. in eigener Verantwortung zu prüfen und entzieht sich grundsätzlich einer Beurteilung durch das Entschädigungsgericht.
Die Entscheidung über die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Wege der Bild-Ton-Übertragung an einen dritten Ort (§ 110a Abs. 1 SGG) liegt im Ermessen des Ausgangsgerichts („kann“), das vom Entschädigungsgericht grundsätzlich nicht überprüft werden kann.
Anhaltspunkte, dass die entsprechenden Entscheidungsspielräume vom Ausgangsgericht im genannten Zeitraum missbräuchlich gehandhabt worden sein könnten, sind nicht im Ansatz erkennbar.
(cc) Die tatsächliche Vermutung ist im vorliegenden Fall nicht erschüttert.
Hierfür reicht es nicht allein aus, dass der Inaktivitätszeitraum insgesamt (deutlich) über den Monat März 2021, nämlich bis zum Februar 2022, hinausreicht. Denn hieraus lassen sich keine Rückschlüsse auf möglicherweise nicht pandemiebedingte Inaktivitätsgründe für den Zeitraum Dezember 2020 bis März 2021 ziehen.
Nichts anderes folgt aus dem Umstand, dass Gründe für eine Nichtterminierung der Streitsache in den Monaten Dezember 2020 bis März 2021 in der Akte nicht dokumentiert sind. Insofern kann der Senat dahinstehen lassen, ob eine solche Dokumentation geboten wäre, wenn die Beteiligten von sich aus ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt oder eine Videositzung beantragt hätten (vgl. § 110a Abs. 1 Satz 1 SGG: „auf Antrag“). Denn im vorliegenden Fall ist weder das eine noch das andere erfolgt.
cc) Entgegen der Auffassung des Beklagten sind weitere Zeiten nicht deshalb abzuziehen, weil während der Anhängigkeit des Verfahrens ein Kammerwechsel stattgefunden hat. Nach den unter bb) dargelegten Grundsätzen kommt es darauf an, ob die jeweilige Verfahrensverzögerung außerhalb des staatlichen Verantwortungs- und Einflussbereichs liegt. Das ist bei einem Kammerwechsel jedoch nicht der Fall. Die damit verbundenen Verfahrensverlängerungen sind vielmehr der zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit zuzurechnen (vgl. dazu unter 3. sowie BSG, Urteil vom 24. März 2022 – B 10 ÜG 2/20 R – a.a.O., Rn. 47 m.w.N.).
3. Bei der in einem dritten Schritt vorzunehmenden abschließenden Gesamtbetrachtung und -würdigung aller für die Entscheidung erheblichen Umstände sind von den 19 festgestellten Monaten der Inaktivität zwölf Monate als Vorbereitungs- und Bedenkzeit für das SG abzusetzen <a)>. Eine Verkürzung oder Verlängerung dieses Zeitraums kommt nicht in Betracht <b)>.
a) Vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalles ist den Ausgangsgerichten eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zwölf Monaten je Instanz zuzubilligen, die für sich genommen noch nicht zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führt und nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte begründet und gerechtfertigt werden muss. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung und ist vom BSG nach nochmaliger ausführlicher Prüfung jüngst bestätigt worden (BSG, Urteil vom 24. März 2022 – B 10 ÜG 2/20 R – zur Veröffentlichung in BSGE 134, 18 ff. vorgesehen, Rn. 33 ff. mit ausführlichen Nachweisen zur Entwicklung und Herleitung dieser Rechtsprechung). Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Auch die Beteiligten gehen hier von aus.
b) Besondere Umstände des Einzelfalles, die eine Abweichung von dem Orientierungswert von zwölf Monaten nach unten rechtfertigen, sind insbesondere mit Blick auf die durchschnittliche Bedeutung und den allenfalls durchschnittlichen Schwierigkeitsgrad des Verfahrens weder ersichtlich noch vorgetragen. Auch eine Verlängerung des Zeitraums kommt nicht in Betracht. Insoweit kann dahingestellt bleiben, inwieweit der Umstand, dass der die Entschädigung geltend machende Beteiligte zeitgleich noch andere Verfahren betrieben hat, eine verlängerte Bearbeitungs- oder Bedenkzeit des Ausgangsgerichts rechtfertigen kann. Jedenfalls kommt es insoweit stets auf die konkreten Umstände des jeweiligen Falles an. Insoweit hat der Beklagte indessen nichts vorgetragen, sondern sich lediglich darauf beschränkt mitzuteilen, es seien noch weitere sog. Parallelverfahren anhängig gewesen. Das reicht für eine Verlängerung der zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit nicht aus.
II. Der Kläger hat infolge der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens einen Nachteil erlitten, der im tenorierten Umfang zu entschädigen ist.
1. Nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG wird ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lang gedauert hat. Dabei handelt es sich um eine gesetzliche Tatsachenvermutung im Sinne von § 292 Satz 1 ZPO (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2020 – B 10 ÜG 1/19 R – SozR 4-1720 § 198 Nr. 20, Rn. 52 m.w.N.). Umstände, die diese Vermutung widerlegen, sind nicht erkennbar und von dem Beklagten auch nicht vorgetragen worden.
2. Eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG, insbesondere durch die bloße Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ist im vorliegenden Fall nicht im Sinne von § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG ausreichend. Das gilt auch eingedenk des Umstandes, dass es sich „lediglich“ um ein Auskunftsverfahren gehandelt hat. Denn mit Blick auf die sich im Anschluss an die Erteilung einer derartigen Auskunft potenziell anschließenden weiteren Schritte der Rechtsverfolgung besteht auch an der zeitlich angemessenen Bearbeitung solcher Klagen ein Interesse, dessen Verletzung gemäß der Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG grundsätzlich in Geld zu entschädigen ist. Besondere Umstände des Einzelfalles, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich oder dargelegt worden.
3. Der Nachteil, den der Kläger infolge der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens erlitten hat, ist gemäß § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG für jeden Monat der unangemessenen Verzögerung mit 100,00 Euro, im vorliegenden Fall mithin mit 700,00 Euro zu entschädigen. Eine Abweichung von diesem Betrag wegen Unbilligkeit gemäß § 198 Abs 2 Satz 4 GVG kommt nicht in Betracht. Voraussetzung hierfür wäre ein atypischer Sonderfall, der sich durch eine oder mehrere entschädigungsrelevante Besonderheiten in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht von anderen Fällen abhebt (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 2015 – B 10 ÜG 11/13 R – a.a.O., Rn. 37 ff.; Urteil vom 7. September 2017 – B 10 ÜG 1/16 R – a.a.O., Rn. 51; jeweils m.w.N.). Hierfür fehlen indessen zureichende Anhaltspunkte.
F. Der Zinsanspruch folgt aus einer entsprechenden Anwendung der §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ab dem Tag nach Zustellung an den Beklagten am 17. November 2022 (§ 187 Abs. 1 BGB analog; vgl. BSG, Urteil vom 9 April 2019 – B 1 KR 5/19 R – BSGE 128, 65 ff., Rn. 39; insoweit im Ergebnis abweichend BSG, Urteil vom 24. März 2022 – B 10 ÜG 2/20 R – a.a.O., Rn. 53), also seit dem 18. November 2022.
G. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung, die Entscheidung über den Streitwert aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 52 Abs. 1 und 3 Gerichtskostengesetz.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Grundsätzlich klärungsbedürftig für das sozialgerichtliche Verfahren ist die Frage der Berücksichtigung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie bei der Angemessenheit der Verfahrensdauer im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG. Hierzu liegt bislang Rechtsprechung des BSG nicht vor.