1. Erst wenn sich nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten entscheidungserhebliche Tatsachen nicht mehr feststellen lassen, stellt sich die Frage nach den Folgen der Nichterweislichkeit bzw. der fehlenden Mitwirkung.
2. Eine Behörde kann einen Leistungsantrag eines Versicherten nicht wegen der fehlenden Mitwirkung des behandelnden Arztes ablehnen, sondern hat zunächst die ihm obliegenden Auskunftspflichten - nötigenfalls zur Verwaltungszwang oder ein Vernehmungsersuchen - durchzusetzen.
Es wird festgestellt, dass der Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. April 2019 rechtswidrig war und der Kläger gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Versorgung mit dem beantragten Schrägliegebrett im Sonderbau mit Kippvorrichtung hatte.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten nach Erledigung des Rechtsstreits noch im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage darum, ob der Kläger einen Anspruch auf Versorgung mit einem Schrägliegebrett als Hilfsmittel nach dem Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) gehabt hätte.
Der 2008 geborene Kläger leidet an Muskeldystrophie Duchenne und in deren Folge an einer stark verminderten Muskulatur in allen Extremitäten, insbesondere in seinen Beinen. Entsprechend bestehen bei ihm starke Bewegungsbeeinträchtigungen und war im Alltag auf die Versorgung mit Hilfsmitteln durch die Beklagte angewiesen. Er ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert.
Unter Vorlage eines Kostenvoranschlags vom 16. bzw. 18. April 2018, sowie einer Verordnung des Arztes Dr. C. beantragte er bei der Beklagten die Versorgung mit einem Schrägliegebrett im Sonderbau im Wert von 5.299,31 €.
Mit Schreiben vom 25. April 2018 teilte die Beklagte mit, den Medizinischen Dienst (MD) mit der Begutachtung der medizinischen Notwendigkeit beauftragen zu wollen. In einem noch am selben Tag erstellten formularmäßigen Kurzgutachten stellte der begutachtende Arzt im MD mit, dass die Versorgung nicht nachvollziehbar sei. Ein Heidelberger Stehgerät sei ausreichend und zweckmäßiger.
Gestützt auf die Stellungnahme des MD lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 7. Mai 2018 ab und empfahl die Versorgung mit einem Heidelberger Stehgerät.
Hiergegen legte der Vater des Klägers am 5. Juni 2018 Widerspruch ein. Die Beklagte beauftragte hierauf erneut den MD, der zunächst mit Stellungnahme vom 11. Oktober 2018 weitere medizinische Unterlagen anforderte, insbesondere die Fotodokumentation des Leistungserbringers und aktuelle ärztliche Befunde und eine medizinische Begründung des Antrags durch den verordnenden Arzt.
Die Beklagte schrieb daraufhin den Arzt Dr. C. unter dem 21. November 2018 an und gab die Anforderungen des MD an ihn weiter. Am 13. Dezember 2018 erinnerte die Beklagte den Arzt an die Vorlage der erbetenen Unterlagen unter Fristsetzung bis zum 2. Januar 2019.
Am 3. Januar 2019 informierte die Beklagte den Kläger, dass Dr. C. auch weiter keine Unterlagen vorgelegt habe und kündigte an, dass auch weiter keine Kostenübernahme möglich sei.
Mit Widerspruchsbescheid vom 17. April 2019 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Die vom MD als notwendig angesehenen Unterlagen seien trotz mehrfacher Anforderung weder von dem Behandler noch vom Kläger selbst vorgelegt worden. Daher habe kein abschließendes Gutachten erstellt werden können. Die Nichtvorlage der Unterlagen gehe zulasten des Klägers.
Dagegen hat der Kläger am 15. Mai 2019 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben.
Er behauptet bei Klageerhebung, die Versorgung mit einem Schrägliegebrett sei medizinisch notwendig gewesen.
Nach Einholung von Befundberichten, wegen deren Inhalt auf die Gerichtsakte verwiesen wird, bei den Ärzten Dr. C. und Dr. M., bei der Darmstädter Kinderklinik Prinzessin Margaret und dem Physiotherapeuten G. hat die Beklagte am 9. Juni 2020 mitgeteilt, dass die medizinische Notwendigkeit für ein Schrägliegebrett nun nachvollzogen werden könne und die Vorlage eines Kostenvoranschlags erbeten.
Am 3. Mai 2021 hat der Kläger seine Klage auf Kostenübernahme für erledigt erklärt. Das Schrägliegebett könne aufgrund der Krankheitsprogression nicht mehr zur Anwendung kommen. Die Fortführung des Rechtsstreits als Fortsetzungsfeststellungsklage sei allerdings angezeigt, denn der Kläger habe durch die unterbliebene Versorgung durch die Beklagte einen Gesundheitsschaden erlitten. Es werde deshalb ein Amtshaftungsanspruch in Betracht gezogen. Die Amtspflichtverletzung sei darin zu sehen, dass die Beklagte ihrer Amtsermittlungspflicht nicht hinreichend nachgekommen sei.
Der Kläger beantragt nun,
festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbeschied vom 17. April 2019 rechtswidrig war und der Kläger gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Versorgung mit dem beantragten Schrägliegebrett im Sonderbau mit Kippvorrichtung hatte.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie meint, der Schriftsatz vom 9. Juni 2020 sei nicht als Anerkenntnis zu werten gewesen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Es handelt sich nach der tatsächlichen Erledigung des Rechtsstreits um eine statthafte Fortsetzungsfeststellungsklage. Das hierfür erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse ist gegeben. Der Kläger kann schlüssig darlegen, die Ermittlungsergebnisses dieses Verfahrens im Rahmen eines möglichen Entschädigungsverfahrens aus Amtshaftung verwerten zu können, sowohl der Schaden als auch die mögliche Amtspflichtverletzung sind hierfür schlüssig dargelegt.
Die Klage war auch wirksam erhoben, nachdem der Klägervertreter auf Hinweis des Gerichts am 15. Januar 2024 eine auch von der Mutter des Klägers unterzeichnete Vollmacht vorgelegt hat, wodurch schlüssig die Klageerhebung nur vertreten durch den Vater genehmigt worden ist.
Die Klage ist, umgestellt in eine Fortsetzungsfeststellungsklage, auch begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbeschied vom 17. April 2019 ist rechtswidrig. Der Kläger hatte gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Versorgung mit dem beantragten Schrägliegebrett im Sonderbau mit Kippvorrichtung.
Rechtsgrundlage des Anspruchs des Klägers auf Versorgung mit dem beantragten Schrägliegebrett sind die §§ 27, 33 SGB V. Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind.
Diese Voraussetzungen lagen hier zur Überzeugung der Kammer vor. Die Kammer kann sich insoweit auf den schlüssigen und nachvollziehbaren Befundbericht des Arztes Dr. M. stützen. Die Kammer ist überzeugt davon, dass aufgrund der Komplexität des Krankheitsbildes des Klägers mit einer Mixtur aus Spastik und Muskeldystrophie ein Heidelberger Stehgerät keine ausreichende Versorgung darstellte. Diese Einschätzung wird von der ausführlichen und schlüssigen Darlegung des Physiotherapeuten G. gestützt, der angibt, dass die nur bei einem Schrägliegebrett mögliche stufenförmige Positionsveränderung für den Kläger deutliche Vorteile biete. Die mangelnde Rumpfkontrolle und die nachlassende Haltefunktion des Kopfes erlaubten bei dem Kläger keine Kompromisse, da es aufgrund von falscher Versorgung zu schweren Komplikationen kommen könne. Die Neigungsverstellung eines Heidelberger Stehgeräts sei demgegenüber inadäquat. Dessen Anwendung könne sogar zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands führen. Erforderlich sei das Hilfsmittel vor allem, um die Durchblutung zu verbessern und einer weiteren Demineralisierung der Knochen vorzubeugen.
Zu weiteren Ermittlungen musste sich die Kammer nicht gedrängt sehen, nachdem auch die Beklagte keine inhaltlichen Zweifel mehr an der medizinischen Notwendigkeit des beantragten Hilfsmittels geäußert hatte und einen aktualisierten Kostenvoranschlag angefordert hat.
Die Bescheide der Beklagten waren insoweit zur Überzeugung der Kammer von Anfang an rechtswidrig. Die medizinischen Ermittlungen der Beklagten, zu denen sie aus dem auch im Verwaltungsverfahren geltenden Amtsermittlungsprinzip gem. § 24 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren (SGB X) verpflichtet war, waren ungenügend. Zutreffend ist zwar, dass der MD in seinen medizinischen Ermittlungen unabhängig von der Beklagten ist. Hier hat der medizinische Dienst aber nicht selbst die Ermittlungstiefe bestimmt, sondern ganz im Gegenteil hat der MD zur weiteren Erhellung des medizinischen Sachverhalts zusätzliche Unterlagen angefordert. Diese hätte die Beklagte beschaffen können und müssen, nötigenfalls mittels Durchsetzung der sozialrechtlichen Auskunftspflicht des behandelnden Arztes aus § 100 SGB X durch Verwaltungsakt oder aber durch ein Vernehmungsersuchen an das zuständige Sozialgericht. Die Beklagte hätte insbesondere nicht ohne Abschluss der Amtsermittlung eine abschließende Entscheidung zulasten des Klägers treffen dürfen.
Erst wenn sich nach Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten entscheidungserhebliche Tatsachen nicht mehr feststellen lassen, stellt sich die Frage nach den Folgen der Nichterweislichkeit bzw. der fehlenden Mitwirkung (BeckOGK/Müller, SGG § 103 Rn. 47).
Die Klage hätte deshalb im Zeitpunkt der Erledigung Erfolg gehabt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.