L 11 KR 510/22

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 9 KR 1076/21
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KR 510/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

 

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichtes Münster vom 15.06.2022 geändert und die Klage abgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme für eine durchgeführte Hodenprothesenimplantation in Höhe von 758,61 €.

 

Der 0000 geborene und bei der Beklagten versicherte Kläger erkrankte im Jahr 2018 an einem Hodenkarzinom, aufgrund dessen der linke Hoden komplett entfernt werden musste. Nach Abschluss der onkologischen Nachsorge stellte er am 31. Mai 2021 bei der Beklagten einen Antrag auf Übernahme der Kosten für die Implantation einer Hodenprothese. Dem Antrag war ein Arztbrief der Abteilung für Klinische und Operative Andrologie des Uniklinikums N. (UKM), Frau D., vom 26. Mai 2021 sowie eine Kostenaufstellung über die geplante Maßnahme beigefügt. In dem aus Anlass einer Kontrolluntersuchung des Klägers erstellten Arztbrief wird über den unauffälligen Verlauf der onkologischen Nachsorge berichtet sowie über eine – aus Sicht der Ärzte – glaubwürdig berichtete starke psychische Belastung des Klägers durch den fehlenden Hoden und die dadurch verbundene Veränderung des Körperschemas. Die behandelnden Ärzte berichten über die erfolgte ausführliche Beratung über die Möglichkeit einer Hodenprothesenimplantation und verwiesen auf die aus ihrer Sicht gegebene OP-Indikation.

 

Mit Bescheid vom 8. Juni 2021 lehnte die Beklagte die begehrte Kostenübernahme ab. Aus den Unterlagen ergebe sich nicht, dass die Implantation einer Hodenprothese medizinisch notwendig sei, so dass die Kostenübernahme des geplanten ambulanten Eingriffs nicht möglich sei.

 

Unter dem 25. Juni 2021 (Eingang bei der Beklagten am 5. Juli 2021) erhob der Kläger dagegen Widerspruch. Er berief sich zur Begründung auf eine Entscheidung des Sozialgerichts München in einem aus seiner Sicht gleichgelagerten Fall (Verweis auf Sozialgericht <SG> München, Urteil vom 22. Januar 2020 – S 54 KR 1172/19 – juris). Er sehe hier eine Ungleichbehandlung zwischen Mann und Frau, wenn bei der Frau im Rahmen einer Brustkrebsbehandlung ein operativer Wiederaufbau der Brust übernommen werde, bei einem Mann eine Hodenprothese im Rahmen der onkologischen Behandlung jedoch nicht möglich sei.

 

Nach einem Beratungsgespräch am 21. April 2021, einer Überweisung des behandelnden Urologen vom 9. Juli 2021 und einer OP-Vorbesprechung am 21. Juli 2021 erfolgte am 3. August 2021 ambulant im UKM die Durchführung der Hodenprothesenimplantation. Dafür hatte der Kläger zuvor am 21. Juli 2021 u.a. die sog. „Kostenübernahme Einlage Hodenprothese – OP“ unterzeichnet, in der es wörtlich wie folgt heißt:

 

„Ich wünsche die Durchführung einer ambulanten Einlage einer Hodenprothese, ohne unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zu einer ablatio testis.

 

Diese Leistung ist regelmäßig keine Leistung einer gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) oder eines sonstigen Kostenträgers und wird folglich regelhaft nicht von diesen übernommen. Unter bestimmten Bedingungen kann eine Kostenübernahme indes möglich sein. <…>.

 

Über die o.g. Behandlung sowie die Kosten der Behandlung und die Modalitäten der Abrechnung wurde ich umfassend aufgeklärt.“

 

Die Beklagte wies im weiteren Verlauf den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 22. September 2021 als unbegründet zurück. Auf die Begründung wird Bezug genommen.

 

Mit der am 8. Oktober 2021 zum SG Münster erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiterverfolgt und – unter Vorlage der Rechnung vom 18. November 2021, am 22. November 2021 beglichen – die Erstattung der Kosten für die durchgeführte Operation begehrt. Nach dieser sei es zu einer deutlichen Verbesserung seines psychischen Allgemeinzustandes gekommen. Anders als in dem von der Beklagten im Widerspruchsbescheid angeführten Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) gehe es in seinem Falle nicht um die Änderung eines aus medizinischen Gesichtspunkten nicht behandlungsbedürftigen natürlichen Zustandes, sondern um die möglichst weitgehende Wiederherstellung der körperlichen Integrität nach einem medizinisch notwendigen Eingriff mit Entfernung eines Körperteils. In diesem Sinne habe auch das BSG in seinem Urteil deutlich gemacht, dass Bestandteil des medizinischen Eingriffs die Heilung der erkrankten Körperteile unter Wahrung der körperlichen Integrität im Sinne einer Wiederherstellung des Körperteils als Teil der einheitlichen ärztlichen Heilbehandlung mit körpereigenem oder körperfremden Material sei.

 

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 2021 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Kosten der Hodenprothesenimplantation in Höhe von 758,61 € zu erstatten.

 

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

 

Sie ist bei ihrer im Verwaltungsverfahren vertretenen Auffassung verblieben. Sie schulde die begehrte Hodenprothesenimplantation bereits nicht als Sachleistung, da diese mangels Aufnahme in den Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) nicht als vertragsärztliche Leistung erbracht werden könne. Der entsprechende Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) 5-628.4 sei nicht in Anhang 2 des EBM gelistet. Zudem habe das BSG mit Urteil vom 9. Juni 1998 – B 1 KR 18/96 R – die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für eine Hodenprothese verneint. Auch in dem entschiedenen Fall sei – wie im Falle des Klägers – die Behandlung mit einer psychischen Erkrankung begründet worden. Zu der gleichen Entscheidung sei das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) in seinem Beschluss vom 20. November 2014 – L 1 KR 539/14 – gekommen.

 

Das SG hat der Klage mit Urteil vom 15. Juni 2022 stattgegeben. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

 

Gegen das der Beklagten am 11. Juli 2022 zugestellte Urteil hat sich diese mit ihrer am 28. Juli 2022 eingelegten Berufung gewandt. Zur Begründung wiederholt sie ihren erstinstanzlichen Vortrag. Vertiefend verweist sie darauf, dass die durchgeführte Leistung mangels Aufnahme in den EBM eine neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode darstelle. Für den operativen Brustaufbau bei einer Frau gebe es entsprechende Abrechnungsziffern. Die behandelnde Klinik habe zudem im Rahmen des eingeholten Befundberichtes bestätigt, dass die Implantation ausschließlich aufgrund des psychischen Leidensdruck des Klägers erfolgt sei. Im Übrigen fehle es an einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zu der operativen Hodenentfernung, welchen die im Befundbericht zitierte S3-Leitlinie fordere.

 

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichtes Münster vom 15. Juni 2022 zu ändern und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er erachtet die erstinstanzliche Entscheidung als zutreffend. Auf Anfrage hat er mitgeteilt, dass er sich nicht in psychiatrischer bzw. psychotherapeutischer Behandlung befunden habe. In Bezug auf die zeitliche Abfolge werde darauf verwiesen, dass der Einsatz der Implantate aus seiner Sicht erst erfolgen sollte, nachdem weitere Operationen (z.B. aufgrund von Rezidiven) nicht mehr erforderlich wurden.

 

Der Senat hat von dem Kläger die Behandlungsvertragsunterlagen beigezogen und einen Befundbericht der behandelnden Chefärztin D. eingeholt, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird. Die Beklagte hat auf Nachfrage mitgeteilt, dass der Kläger keine Wahlerklärung nach § 13 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) abgegeben habe.

 

Der Senat hat den Beteiligten nach vorheriger Anhörung von Amts wegen gestattet, sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen über den von der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen zur Verfügung gestellten Virtuellen Meetingraum (VMR) vorzunehmen (Beschluss vom 30. August 2023), wovon die Beklagte Gebrauch gemacht hat.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streitakten und der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

A. Die Anträge im Berufungsverfahren sind wirksam im Rahmen der mündlichen Verhandlung gestellt. Soweit die Beklagte nicht persönlich im Gerichtssaal vertreten gewesen ist, sondern von ihrem Behördensitz aus per Video- und Tonübertragung an der Verhandlung teilgenommen hat, war dies gemäß § 110a Sozialgerichtsgesetz (SGG) aufgrund des gerichtlichen Beschlusses vom 30. August 2023 zulässig.

 

B. Die am 28. Juli 2022 schriftlich eingelegte und auch im Übrigen den förmlichen Anforderungen des § 65d SGG genügende Berufung der Beklagten gegen das ihr am 11. Juli 2022 zugestellte Urteil des SG Münster vom 15. Juni 2022 ist zulässig, insbesondere gemäß §§ 143, 144 SGG ohne gerichtliche Zulassung statthaft sowie im Weiteren form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 Abs. 1, Abs. 3; § 64 Abs. 1, Abs. 2; § 63 SGG).

 

C. Die Berufung der Beklagten ist begründet, denn die zugrundeliegende Klage ist zulässig, aber unbegründet (dazu unter I. und II).

 

I. Die Klage ist zunächst zulässig erhoben.

 

1. Für das auf Kostenerstattung für die selbstbeschaffte Hodenprothesenimplantation linksseitig wegen rechtswidriger Ablehnung des Versorgungsanspruchs gerichtete Begehren ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft (BSG, Urteil vom 24. April 2018 – B 1 KR 10/17 R – juris; BSG, Urteil vom 27. Oktober 2020 – B 1 KR 3/20 RBSGE 131, 94).

 

2. Die Klage ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere fristgerecht am 8. Oktober 2021 binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2021 erhoben worden (§ 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2; § 90; § 78 Abs. 1 Satz 1; § 85 Abs. 3 Satz 1 SGG).

 

3. Der Kläger hat die erhobene Leistungsklage auch in ausreichender Weise beziffert und den Anspruch mittels vorgelegter Rechnung und Überweisung substantiiert (BSG, Urteil vom 28. Januar 1999 – B 3 KR 4/98 RSozR 3-2500 § 37 Nr. 1; BSG, Urteil vom 20. April 2010 – B 1/3 KR 22/08 R – juris, Rn. 27; BSG, Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 2/21 R – juris, Rn. 7; Helbig in: jurisPK-SGB V, 4. Auflage, § 13 Rn. 199).

 

II. Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide mangels bestehendem Anspruch auf Kostenerstattung für die ambulant durchgeführte Hodenimplantation linksseitig nicht in seinen Rechten verletzt (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Ihm steht ein Kostenerstattungsanspruch weder aus § 13 Abs. 2 SGB V (dazu unter 1.) noch aus § 13 Abs. 3 SGB V (dazu unter 2.) oder aus § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V (dazu unter 3.) zu.

 

1. Der Kläger kann zunächst einen Anspruch auf Kostenerstattung nicht aus § 13 Abs. 2 SGB V herleiten, denn ausweislich der unbestrittenen Auskunft der Beklagten hat er eine dafür erforderliche Wahlerklärung nicht abgegeben.

 

2. Der Kläger kann auch keine Erstattung der bezifferten Aufwendungen nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V beanspruchen. Nach dieser Vorschrift hat eine Krankenkasse, die eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, dem Versicherten die dadurch entstandenen Kosten für die selbstbeschaffte Leistung, soweit die Leistung notwendig war, zu erstatten.

 

In diesem Zusammenhang bedarf es zunächst keiner Entscheidung darüber, ob der Kläger den Beschaffungsweg eingehalten hat. Ebenfalls kann offenbleiben, ob die Leistung unaufschiebbar i.S.d. § 13 Abs. 3 Satz 1 Variante 1 SGB V gewesen ist, denn es fehlt jedenfalls an einem für beide Alternativen erforderlichen Sachleistungsanspruch (vgl. Helbig in: jurisPK-SGB V, 4. Auflage, § 13 Rn. 52). Der Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (BSG, Urteil vom 11. Juli 2017 – B 1 KR 30/16 RBSGE 124, 1; BSG, Urteil vom 17. Dezember 2019 – B 1 KR 18/19 R – juris, Rn. 8; BSG, Urteil vom 24. April 2018 – B 1 KR 10/17 R – juris, Rn. 10; BSG, Urteil vom 8. September 2015 – B 1 KR 14/14 R – juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 21. Februar 2006 – B 1 KR 22/05 R – juris, Rn. 9).

 

Ein solcher Anspruch folgt nicht aus § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V <dazu unter a)>. Auch ergeben sich keine Ansprüche aus § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V i.V.m. § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V, als Seltenheitsfall oder im Rahmen des Systemversagens <dazu unter b)>.

 

a) Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.

 

aa) Die (physische) Krankheit führt vorliegend bei dem Kläger nicht zu einem Anspruch <dazu unter (1)>. Eine Entstellung liegt nicht vor <dazu unter (2)>. Ein Krankheitsrisiko, welches gleichzustellen wäre, ist ebenfalls nicht anzunehmen <dazu unter (3)>. Eine psychische Beeinträchtigung hat der Senat zugunsten des Klägers zwar bejahen können, ohne dass dies im Fall des Klägers zu einem Anspruch geführt hat <dazu unter (4)>.

 

(1) Krankheit im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der die Notwendigkeit ärztlicher Heilbehandlung oder – zugleich oder allein – Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (BSG, Urteil vom 19. Februar 2003 – B 1 KR 1/02 R – juris; Fahlbusch in: jurisPK-SGB V, 4. Auflage, § 27 Rn. 23). Als regelwidrig ist ein Körper- oder Geisteszustand anzusehen, der von der durch das Leitbild eines gesunden Menschen geprägten Norm abweicht (BSG, Urteil vom 28. September 2010 – B 1 KR 5/10 R – juris). Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist dabei, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird und diese Funktionsbeeinträchtigung durch die notwendige Krankenbehandlung erkannt, geheilt, gelindert oder ihre Verschlimmerung verhütet wird (BSG, Urteil vom 4. März 2014 – B 1 KR 69/12 R – juris, Rn 9 m.w.N.; BSG, Urteil vom 8. März 2016 – B 1 KR 35/15 R – jeweils juris) oder dass er an einer Abweichung leidet, die entstellend wirkt (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 4. September 2019 – L 16 KR 73/19 – juris, Rn. 25; Bayerisches LSG, Urteil vom 4. Juni 2020 – L 20 KR 419/19 – juris, R. 36).

 

(a) Unter Berücksichtigung der dem Senat vorliegenden Patientenakte des Klägers ist davon auszugehen, dass dieser durch die Entfernung seines Hodens in seiner Zeugungsfähigkeit beeinträchtigt worden ist. Die Krankenbehandlung hat jedoch dazu zu dienen, gerade die konkrete körperliche Beeinträchtigung zu beseitigen oder jedenfalls zu mildern. Dies vermag die Implantation einer Prothese vorliegend jedoch nicht zu leisten (BSG, Urteil vom 9. Juni 1998 – B 1 KR 18/96 RBSGE 82, 158, Rn. 27; LSG NRW, Beschluss vom 20. November 2014 – L 1 KR 539/14; SG München, Urteil vom 22. Januar 2020 – S 54 KR 1172/19 – juris, Rn. 18).

 

(b) Ein Anspruch kommt auch nicht unter Berücksichtigung des Aspekts in Betracht, dass aufgrund einer vorangegangenen Behandlung möglichst eine Wiederherstellung der körperlichen Integrität geschuldet ist.

 

Eine gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V geschuldete Krankenbehandlung (hier: onkologische Behandlung des Karzinoms) kann beinhalten, dass die körperliche Integrität des Versicherten bei einem medizinisch notwendigen Eingriff möglichst wiederhergestellt wird, sei es mit körpereigenem oder mit körperfremdem Material (BSG, Urteil vom 8. März 2016 – B 1 KR 35/15 R – SozR 4-2500 § 27 Nr. 28, Rn. 18; BSG, Urteil vom 27. August 2019 – B 1 KR 37/18 R – BSGE 129, 52, Rn. 9; SG München, Urteil vom 22. Januar 2020 – a.a.O., Rn. 21 m.w.N.).

 

Zur Krankenbehandlung im Rahmen des SGB V zählen jedoch auch in diesem Fall nicht alle medizinisch möglichen Maßnahmen. Vielmehr müssen sie wiederum notwendig sein. Das bedeutet im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, dass die Maßnahmen dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und dem Qualitätsgebot (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) entsprechen müssen. Das SGB V sieht die Orientierung an wissenschaftlichen Erkenntnissen vor, legt den Beurteilungen über die Notwendigkeit mithin das Primat der Evidenz zugrunde. Hierbei besteht eine Ausrichtung an wissenschaftlichen Studien, die sogenannten Evidenzstufen zugeordnet werden (Fahlbusch in: jurisPK-SGB V, 4. Auflage, § 27 Rn. 64, 66 m.w.N.).

 

Eingedenk dessen kann zur Bestimmung der medizinisch möglichen, notwendigen und indizierten Maßnahmen und zur Beurteilung der Frage, ob dazu vorliegend auch die Rekonstruktion der Körperform gehört, die 2021 geltende S3-Leitlinie „Diagnostik, Therapie und Nachsorge der Keimzelltumoren des Hodens“ (Langversion 1.1 – Februar 2020 AWMF-Registernummer: 043/049OL<S3-Leitlinie>) herangezogen werden. Es handelt sich hierbei um eine systematisch entwickelte Hilfe für Ärzte, die zwar für Verwaltung und Gerichte nicht rechtlich bindend ist, aber auch für diese eine wichtige Entscheidungshilfe darstellt (so BayLSG, Urteil vom 4. Juni 2020 – a.a.O., Rn. 49ff., 53f. mit Verweis auf Hessisches LSG, Urteil vom 5. Juli 2016 – L 1 KR 116/15 und BayLSG, Urteil vom 4. Dezember 2018 – L 20 KR 191/16 – jeweils juris; Hanten, jurisPR-MedizinR 11/2020 Anm. 2; Senat, Urteil vom 2. Februar 2022 – L 11 KR 26/21 – juris). Aus dieser S3-Leitlinie folgt zu der fraglichen Implantation (Hervorhebung diesseits):

 

6.1.4. Operative Diagnostik/inguinale Exploration des Hodens (inkl. Organerhalt <S. 39>)

<…>. Bei Verdacht auf einen KZT erfolgt die (inguinale) operative Freilegung des Hodens. Bezüglich der korrekten operativen Vorgehensweise existiert keine hinreichende Evidenz bezüglich einzelner notwendiger oder prognoseverändernder Operationsschritte. Der Eingriff erfolgt somit nach der gängigen chirurgischen Praxis. Liegt klinisch keine eindeutig maligne Raumforderung des Hodens vor, erfolgen im Rahmen der operativen Hodenfreilegung eine diagnostische Tumorbiopsie des Hodens oder bei kleinen Befunden eine komplette Enukleation mit intraoperativer histologischer Schnellschnittuntersuchung. Bei Bestätigung der Diagnose eines malignen KZT erfolgt die Entfernung des Hodens und seiner Anhangsgebilde einschließlich des Samenstrangs (inguinale Ablatio testis) [EAU 2018b].

 

Falls der Patient im Rahmen der präoperativen Beratung für den Fall einer Ablatio testis ein Hodenimplantat wünscht, wird diese über den operativen Zugangsweg im Skrotum platziert und fixiert. <…>.“

 

„8.1. Inguinale Freilegung (S. 54)

<…>. Die Implantation eines Silikon-Implantates im Rahmen der Ablatio testis sollte mit dem Patienten besprochen und angeboten werden. Sie geht nicht mit einem erhöhten Infektionsrisiko einher. Die chirurgische Komplikationsrate liegt bei etwa 7% [Herrinton et al. 2003]. Die Zufriedenheitsraten (ermittelt mit strukturierten Patienteninterviews) liegen bei diesen Patienten weit über 80% [Dieckmann et al. 2015; Robinson et al. 2016]. Mehrere systematische Übersichtsarbeiten konnten keine gesicherte Evidenz für vermehrte systemische oder chronische Erkrankungen als Folge von Brust-Silikonimplantaten erbringen [Balk et al. 2016; Lipworth et al. 2004]. Zwar liegen keine gezielten Langzeituntersuchungen bei Patienten mit Testikular-Implantaten vor, jedoch erscheint aufgrund der identischen chemisch-technischen Beschaffenheit von Brust- und Testikular-Implantaten ein Analogieschluss gerechtfertigt.“

 

Eingedenk dessen könnte zwar einiges dafür sprechen, dass im maßgeblichen Zeitpunkt die Implantation eines Hodenimplantats nach Entfernung eines Hodens grundsätzlich zum anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse gehört hat. Diese Frage kann der Senat jedoch in dem vorliegend zu entscheidenden Fall offenlassen, denn jedenfalls fehlt es an einem nach den medizinischen Grundsätzen notwendigen intraoperativen Zusammenhang. Wie sich aus der S3-Leitlinie unzweifelhaft ergibt, sind ablatio testis und Implantation in einem unmittelbaren operativen und daher zeitlichen Zusammenhang durchzuführen. Nach der S3-Leitlinie erfolgt eine Implantation „im Rahmen“ der ablatio testis (Ziff. 8.1 der S3-Leitlinie) und wird das Implantat „über den operativen Zugangsweg im Skrotum platziert und fixiert“ (Ziff. 6.1.4 der S3-Leitlinie). Durch diese Vorgehendweise wird eine weitere belastende Operation des Patienten vermieden. Die ablatio testis fand bei dem Kläger hingegen bereits im Jahr 2018 statt, während die Implantation erst am 3. August 2021 durchgeführt worden ist.

 

(aa) Der S3-Leitlinie sind zudem keine Anhaltspunkte dahingehend zu entnehmen, dass einer demgegenüber zeitlich verzögerten Implantation eine medizinische Rechtfertigung gegenübersteht. Eine solche folgt insbesondere auch nicht im Hinblick auf mögliche weitere (onkologische) Behandlungsschritte nach einer Hodenentfernung.

 

Nicht anders wird die medizinische Sachlage durch die behandelnden Ärzte des Klägers interpretiert. Zunächst deutet, ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse um einen abstrakten Maßstab handelt, in dem durch den Senat eingeholten Befundbericht der behandelnden Chefärztin – D. – vom 12. Januar 2023 kein Aspekt auf eine bei dem Kläger vorliegende, konkrete medizinische Notwendigkeit, die Implantation im Rahmen einer zweiten Operation und nicht zeitgleich mit der ablatio testis durchzuführen. Stattdessen berichtet D. – wie bereits in der Patientenakte dokumentiert – von der klägerischen Schilderung einer (nunmehrigen) starken psychischen Belastung aufgrund des fehlenden Hodens und der damit verbundenen Veränderung des Körperschemas.

 

Ferner zeigt auch die generelle Gestaltung der Vertragsunterlagen des UKM zu dieser Operationsvariante, dass die nicht im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zur Entfernung stehende Implantations-Operation als Ausnamefall angesehen wird. Anders lassen sich die insoweit deutlichen Hinweise nicht interpretieren. So wird in den Vertragsunterlagen (z.B. „Kostenübernahme Einlage Hodenprothesen-OP“, „Kostenübernahme Einlage Hodenprothese post-OP“) ausdrücklich darauf verwiesen, dass „die Durchführung einer ambulanten Einlage einer Hodenprothese <…> ohne unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zu einer ablatio testis erfolgt“ ist.

 

(bb) Es liegt auch kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz <GG>) vor. Dabei trägt maßgeblich der hier angestrengte Vergleich mit Versicherten, die sich – insbesondere im Rahmen einer Therapie von Brustkrebs – aus kurativen Gründen einer Mastektomie unterziehen mussten und im Nachgang einen Anspruch auf eine Brustrekonstruktion haben, nicht.

 

Der Gleichheitssatz ist nur dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (vgl. BVerfGE 133, 1 Rn. 44 m.w.N.).

 

Zwar können beide Konstellationen gemein haben, dass sowohl dem hier erfolgten Einsatz einer Hodenprothese wie auch im Fall der Brustrekonstruktion nach jeweiliger onkologischer Behandlung eine (kurative) Entfernung des Organs vorangegangen ist. Jedoch rechtfertigen die deutlichen, den einschlägigen S3-Leitlinien zu entnehmenden Unterschiede in der medizinischen Beurteilung beider Sachverhalte, die speziell auch die rekonstruktiven Behandlungsvarianten betreffen, dass eine unterschiedliche rechtliche Bewertung an den – hier relevanten – Zeitpunkt der Durchführung der Rekonstruktion geknüpft wird. Nach den oben bereits dargestellten Ausführungen der einschlägigen S3-Leitlinie im Fall der ablatio testis erfolgt bei entsprechendem Patientenwunsch die Hodenrekonstruktion stets mittels nicht körpereigenem Implantat und nach dem medizinischen Standard während der Entfernungs-OP. Im Gegensatz dazu zeigt die Interdisziplinäre S3-Leitlinie für Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms (Hier: Langversion 4.4 – Juni 2021 AWMF-Registernummer: 032-045OL <S3-Leitlinie Mammakarzinom>), dass im Rahmen der Brustrekonstruktion diverse medizinische Optionen verfolgt werden können, die sich in Art und Zeitpunkt unterscheiden und u.a. in Abhängigkeit zu weiteren Therapieerfordernissen (z.B. Erfordernis einer Strahlentherapie), körperlichen Anforderungen (z.B. keine Gewebedefekte) und dem noch bestehenden Krebsrisiko zu sehen sind. Mithin wird gerade dem zeitlichen Aspekt der Brustrekonstruktion in der S3-Leitlinie Mammakarzinom in unterschiedlicher Weise Rechnung getragen. Während z.B. bei einer prophylaktischen Mastektomie im „Kapitel 3.3. Frauen mit erhöhtem Risiko für Brustkrebs“ (S3-Leitlinie Mammakarzinom, S. 65 <Hervorhebung jeweils diesseits>) noch die Sofortrekonstruktion empfohlen wird:

 

Vor jeder prophylaktischen Operation ist eine umfassende Aufklärung mit Risikokalkulation erforderlich, die das betroffene Gen und falls zutreffend das Alter bei Ersterkrankung und die Prognose nach Ersterkrankung berücksichtigt [158, 160]. Bei der präoperativen Beratung sollten auch die Möglichkeiten zur Sofortrekonstruktion (Expander, Implantate, gestielte und freie Lappenplastiken) umfassend diskutiert werden.

 

heißt es unter „4. Lokoregional begrenzte Primärerkrankung - 4.1. Generelle diagnostische und therapeutische Konzepte“ (S3-Leitlinie Mammakarzinom S. 69):

 

„Hier können die Ausdehnung der Operation unter Einbeziehung der onkologischen Sicherheitsabstände, evtl. notwendige onkoplastische Operationen zur Rekonstruktion des operativen Defektes und die Wünsche der Patientin zu einem operativen Gesamtkonzept zusammengeführt werden.“

 

Nach der evidenzbasierten Empfehlung 4.49 in „Kapitel 4.4.4. Plastisch rekonstruktive Eingriffe“ (S3-Leitlinie Mammakarzinom S. 100f) kann die Brustrekonstruktion sofort oder später erfolgen. Dazu wird erläutert (S3-Leitlinie Mammakarzinom S. 101 <Hervorhebung diesseits>):

 

Die Brustrekonstruktion scheint keinen Einfluss auf den onkologischen Krankheitsverlauf oder die Erkennung von Lokalrezidiven zu haben [389, 392, 393]. Die Datenlage ist jedoch aufgrund fehlender randomisierter Studien nicht ausreichend. Die Entscheidung, ob die Brustrekonstruktion sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt, ist abhängig von der individuellen Situation der Patientin und ihren Wünschen [394]. Eine Sofortrekonstruktion kann für die Patientin mit geringerer psychischer Belastung verbunden sein. Manche Frauen wünschen sich allerdings nach der Diagnosestellung und Primärtherapie des Mammakarzinoms einen zeitlichen Abstand, um sich mit den Möglichkeiten plastischer Operationen in Ruhe auseinandersetzen zu können. Die Möglichkeiten der Brustrekonstruktion umfassen Implantate, Eigengewebe oder die Kombination von beiden. Welches Verfahren für die einzelne Patientin infrage kommt, hängt neben der persönlichen Vorstellung der Patientin auch ab von den körperlichen Gegebenheiten (Größe der Brust, Eigengewebe vorhanden) und ob eine Strahlentherapie geplant oder früher erfolgt ist. <…>.“

 

Im Rahmen des Schaubildes unter 11.1.1. „Möglichkeiten und Indikationen der plastischen Rekonstruktion“ (S3-Leitlinie Mammakarzinom S. 358) werden dann ausgehend vom Zeitpunkt der Rekonstruktion und der weitergehenden Therapieschritte nochmals die verschiedenen Arten der Rekonstruktion mit körpereigenem oder fremden Gewebe dargestellt. Der Senat nimmt auf den Inhalt Bezug, der den Beteiligten vorab zur Kenntnis gebracht worden ist.

 

(2) Auf eine behandlungsbedürftige Entstellung hat sich der Kläger nicht berufen. Für den Senat sind auch keine Anhaltpunkte für eine entsprechende Annahme ersichtlich (vgl. zur Entstellungsrechtsprechung: BSG, Urteil vom 8. März 2016 – B 1 KR 35/15 R – SozR 4-2500 § 27 Nr. 28, Rn. 13; BSG, Urteil vom 28. Februar 2008 – B 1 KR 19/07 RBSGE 100, 119, Rn. 13; BSG, Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 3/21 R – BSGE 134, 13, Rn. 16 bis 18).

 

(3) Auch ein i.S.d § 27 Abs. 1 SGB V berücksichtigungsfähiges – physisches – Krankheitsrisiko liegt nicht vor.

 

Das BSG hat in eng begrenzten weiteren Konstellationen, namentlich im Falle eines bloßen Krankheitsverdachts oder Krankheitsrisikos, das Vorliegen einer Krankheit im Rechtsinn auch ohne Funktionsbeeinträchtigung bejaht (BayLSG, Urteil vom 4. Juni 2020 – L 20 KR 419/19 – juris, Rn. 36 mit Verweis auf Hauck, NJW 2016, 2695). Der Krankheitsbegriff ist nicht statisch, sondern dynamisch (Bundestags-Drucksache <BT-Drs.> 11/2237, S. 170, BayLSG, Urteil vom 4. Juni 2020 - a.a.O., Rn. 37ff.). Dies betrifft maßgeblich Fallgestaltungen, in denen bei einer bestehenden Grunderkrankung Behandlungsbedürftigkeit in Bezug auf das Risiko einer Verschlimmerung oder weiteren Folgeerkrankungen anzunehmen ist (vgl. BSG, Urteile vom 18. November 1969 - 3 RK 75/66 - BSGE 30, 151; BSG, Urteil vom 20. Oktober 1972 – 3 RK 93/71 - BSGE 35, 10; BSG, Urteil vom 16. November 1999 –  B 1 KR 9/97 RBSGE 85, 132; BSG, Urteil vom 19. Februar 2003 - B 1 KR 1/02 R - BSGE 90, 289; BSG, Urteil vom 17. Februar 2010 - B 1 KR 10/09 R - SozR 4-2500 § 27 Nr. 18, Rn. 16; Senat, Urteil vom 2. Februar 2022 – L 11 KR 26/21 – juris, Rn. 60).

 

Ausweislich des eingeholten Befundberichtes von D. war die Prothese nicht zur Vermeidung einer Verschlimmerung der (onkologischen) Grunderkrankung bzw. des Eintritts möglicher Folgewirkungen erforderlich.

 

(4) Eine psychische Indikation kann die Implantation ebenfalls nicht rechtfertigen (vgl. auch BSG, Urteil vom 9. Juni 1998 a.a.O., Rn. 27; LSG NRW, Beschluss vom 20. November 2014 – a.a.O.; SG München, Urteil vom 22. Januar 2020 – a.a.O., Rn. 20; Fahlbusch in: jurisPK-SGB V, 4. Auflage, § 27 Rn. 62).

 

(a) Dabei kann der Senat eine psychische Belastung des Klägers als wahr unterstellen. So folgt jedenfalls aus dem eingeholten Befundbericht von D. die Diagnose E43.8 „Sonstige Reaktionen auf schwere Belastung“.

 

(b) Der durchgeführte chirurgische Eingriff war jedoch nicht notwendig i.S.d. § 27 Abs. 1 SGB V, um diese psychische Erkrankung zu heilen oder zu lindern.

 

Neben dem regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand ist zusätzlich die Behandlungsbedürftigkeit als zweites Definitionsmerkmal des Krankheitsbegriffs erforderlich. Krankenbehandlung ist notwendig, wenn der regelwidrige Körper- oder Geisteszustand die körperlichen oder geistigen Funktionen in so erheblichem Maße beeinträchtigt, dass ihre vollständige oder teilweise Wiederherstellung der ärztlichen Behandlung bedarf. Die Notwendigkeit einer Krankenbehandlung besteht nur dann, wenn die Krankheit überhaupt einer Behandlung zugänglich, also behandlungsfähig ist. D.h. es müssen therapeutische Methoden zur Behandlung der Krankheit zur Verfügung stehen (Senat, Urteil vom 2. Februar 2022 – a.a.O.).

 

(aa) Dabei muss die Krankenkasse den Versicherten grundsätzlich jedoch nicht mit jeglichem Mittel versorgen, das seiner Gesundheit förderlich ist oder für sich in Anspruch nimmt, auf die Krankheit einzuwirken; vielmehr mutet das Gesetz dem Versicherten zu, teilweise selbst für seine Gesundheit zu sorgen (§ 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 2 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB V). Die höchstrichterliche Rechtsprechung verneint mithin im Grundsatz eine Behandlungsbedürftigkeit psychischer Krankheiten mittels angestrebter körperlicher Eingriffe, wenn diese Maßnahmen nicht durch körperliche Fehlfunktionen oder durch Entstellung, also nicht durch einen regelwidrigen Körperzustand veranlasst werden (BSG, Urteil vom 11. September 2012 – B 1 KR 3/12 R – juris, Rn. 16f.). In Bezug auf Operationen am – krankenversicherungsrechtlich betrachtet – gesunden Körper, die psychische Leiden beeinflussen sollen, lässt sich damit grundsätzlich eine Behandlungsbedürftigkeit nicht begründen (BSGE 100, 119, Rn. 18 m.w.N., BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 20, Rn. 13 ff.). Psychische Erkrankungen – außerhalb des Transsexualismus (BSG, Urteil vom 4. März 2014 – B 1 KR 69/12 RNZS 2014, 457) – vermitteln demnach nur einen Anspruch auf Behandlungsmaßnahmen mit den Mitteln der Psychiatrie oder Psychotherapie (BSG, Urteil vom 28. Februar 2008 – B 1 KR 19/07 RNZS 2009, 95; BSG, Urteil vom 28. September 2010 – B 1 KR 5/10 R – SozR 4-2500 § 27 Nr. 20; Prange, NZS 2019, 870). Allein das subjektive Empfinden eines (psychisch erkrankten) Versicherten, dass eine regelwidrige physische Fehlfunktion vorliegt, die aber objektiv keinen solchen Krankheitswert begründet, vermag insofern die Regelwidrigkeit und die daraus abgeleitete Behandlungsbedürftigkeit seines Zustandes nicht zu bestimmen (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 – B 1 KR 3/03 R – juris). Maßgeblich sind vielmehr objektive Kriterien, nämlich der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse. Die insofern zusätzlich zu fordernde Rechtfertigung für einen operativen Eingriff am gesunden Körper zur Behebung von psychischen Störungen hat das BSG vor allem wegen der Schwierigkeiten einer Vorhersage der psychischen Wirkungen von körperlichen Veränderungen und der deshalb grundsätzlich unsicheren Erfolgsprognose in ständiger Rechtsprechung verneint (z.B. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 - a.a.O.; BSG, Urteil vom 28. Februar 2008 – a.a.O.; BSG, Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 3/21 R – BSGE 134, 13; Senat, Urteil vom 2. Februar 2022 – a.a.O., Rn. 79-81).

 

(bb) Eingedenk dieser Grundsätze, der durchgeführten medizinischen Ermittlungen und des Vortrages der Beteiligten sind keine Anhaltspunkte für eine Abweichung von dem Grundsatz erkennbar, wonach die wissenschaftliche Bewertung nicht von einer generellen psychotherapeutischen Eignung chirurgischer Eingriffe ausgeht. Insbesondere ist nicht ersichtlich und wurde auch nicht vorgetragen, dass nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse im Falle einer psychischen Erkrankung – hier E43.8 „Sonstige Reaktionen auf schwere Belastung“ – generell und zweifellos ein chirurgischer Eingriff als medizinisch indiziert angesehen wird (vgl. zu anderen psych. Erkrankungen und operativen Eingriffen: BSG, Urteil vom 28. September 2010 – a.a.O., Rn. 14; BSG, Urteil vom 28. Februar 2008 – a.a.O., Rn. 18).

 

b) Ein Sachleistungsanspruch folgt auch nicht aus § 27 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V vor. Ein grundrechtsorientierter Leistungsanspruch unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V kommt für den Kläger nicht in Betracht, denn die bei ihm vorliegende Erkrankung lässt ihn nicht zu einem "Versicherten mit einer lebendbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung" im Sinne von § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V werden (BSG, Urteil vom 4. März 2014 – B 1 KR 6/13 R – SozR 4-2500 § 28 Nr. 7, Rn. 16). Ferner ergeben sich weder Anhaltspunkte für einen Seltenheitsfall noch für ein Systemversagen. Gegenteiliges wurde auch nicht vorgetragen.

 

3. Der Kläger hat zudem keinen Anspruch aus § 13 Abs. 3a SGB V.

 

Nach § 13 Abs. 3a SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistung zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MDK, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden (Satz 1). Wenn die Krankenkasse eine gutachterliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu informieren (Satz 2). Kann die Beklagte Fristen u.a. nach Satz 1 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit (Satz 5). Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (Satz 6). Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet (Satz 7).

 

Die Beklagte hat über den Leistungsantrag fristgerecht entschieden. Die vorliegend mangels Gutachteneinholung allein maßgebliche Frist von drei Wochen hat sie nicht überschritten. Die Bescheidungsfrist begann an dem Tag nach wirksamer Antragstellung bei der Beklagten (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB>). Vorliegend datiert der Antrag auf den 31. Mai 2021, den die Beklagte am gleichen Tag erhalten hat. Die demnach am 1. Juni 2021 begonnene und am 21. Juni 2021 abgelaufene Drei-Wochen-Frist nach § 13 Abs. 3a Satz 1 Fall 1 SGB V (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB) war im Zeitpunkt der Bescheidung des Antrags – dem Tag der Bekanntgabe des Bescheides vom 8. Juni 2021 – am 11. Juni 2021 noch nicht verstrichen.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.

 

Gründe gemäß § 160 Abs. 2 SGG für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Senat hat sich im Rahmen der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BSG bewegt.

 

 

Rechtskraft
Aus
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