Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts BadenWürttemberg vom 29. September 2020 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 14. Dezember 2016 mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt gefasst wird:
Der Bescheid der Beklagten vom 27. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Oktober 2015 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, das Urothelkarzinom des Klägers als Berufskrankheit nach Nr 1301 der Anlage 1 zur BerufskrankheitenVerordnung festzustellen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in allen Rechtszügen.
G r ü n d e :
I
1
Die Beteiligten streiten über die Feststellung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr 1301 der Anlage 1 zur BerufskrankheitenVerordnung (BKV im Folgenden BK 1301).
2
Der 1956 geborene Kläger war von September 1998 bis Juni 2013 ua als Schweißer in der Herstellung von Großkücheneinrichtungen beschäftigt. Zur Rissprüfung von Schweißnähten verwendete er azofarbstoffhaltige Sprays, die den Wirkstoff oToluidin enthielten. Er rauchte ab dem 22. Lebensjahr und gab dies 1999/2000 auf.
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Im September 2014 wurde bei ihm ein Urothelkarzinom (Harnblasenkrebs) diagnostiziert. Die Beklagte lehnte die Feststellung der BK 1301 ab (Bescheid vom 27.5.2015; Widerspruchsbescheid vom 8.10.2015). Das SG hat die Beklagte verurteilt, beim Kläger das Vorliegen der BK 1301 anzuerkennen (Urteil vom 14.12.2016). Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens hat das LSG die Klage abgewiesen. Der Sachverständige sei für den Senat überzeugend zu der Einschätzung gelangt, dass eine ausreichende Exposition gegenüber oToluidin dann anzunehmen sei, wenn eine Exposition in Höhe des ehemaligen Wertes der Technischen Richtkonzentration (TRKWert) von 500 µg oToluidin/m³ vorliege. Die inhalative und dermale Exposition des Klägers sei danach nicht hinreichend wahrscheinlich Ursache der Erkrankung. Eine schicksalhafte Verursachung sei nicht ausgeschlossen. Der Kläger sei zum Erkrankungszeitpunkt bereits in einem Alter gewesen, das ein erhöhtes Harnblasenkrebsrisiko aufweise. Das Rauchen sei demgegenüber nicht hinreichend wahrscheinlich Ursache der Erkrankung. Der Kläger habe auch nicht unter chronischen Harnwegsinfekten oder Steinleiden gelitten und keine Bestrahlungstherapie im kleinen Becken erhalten. Dennoch sprächen ebenso gute Gründe für eine andere Verursachung wie für die berufliche Einwirkung (Urteil vom 29.9.2020).
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Mit der Revision macht der Kläger ua eine Verletzung materiellen Rechts geltend. Das LSG habe entgegen dem Verordnungswortlaut der BK 1301 einen Grenzwert von 500 µg/m³ zur Voraussetzung für die Annahme einer ausreichenden beruflichen Exposition gemacht.
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Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts BadenWürttemberg vom 29. September 2020 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 14. Dezember 2016 zurückzuweisen.
6
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
7
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
II
8
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Das LSG hat der Berufung der Beklagten gegen das zusprechende Urteil des SG zu Unrecht stattgegeben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Urothelkarzinoms als BK 1301. Der Senat hat lediglich den Tenor des erstinstanzlichen Urteils zur konkreten Erkrankung der BK 1301 klarstellend neu gefasst.
9
Im Revisionsverfahren ist über die zulässig erhobene kombinierte Anfechtungs und Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 und Alt 3 SGG zu entscheiden. Die Anfechtungsklage zielt auf die gerichtliche Aufhebung der Ablehnungsentscheidung der Beklagten mit Bescheid vom 27.5.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.10.2015 (§ 95 SGG) und die Verpflichtungsklage auf die Verurteilung der Beklagten, das Urothelkarzinom als BK 1301 festzustellen (vgl zur Kombination von Anfechtungs und Verpflichtungs oder Feststellungsklage BSG Urteil vom 15.9.2011 B 2 U 22/10 R juris RdNr 10).
10
Die Klage ist begründet. Der Kläger ist infolge seiner Tätigkeit als Schweißer an einem Urothelkarzinom im Sinne der BK 1301 erkrankt.
11
Rechtsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 9 Abs 1 SGB VII iVm der BK 1301. Die BK lautet: Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine. Nach § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet hat (sog ListenBKen) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach ständiger Rechtsprechung ist für die Feststellung einer ListenBK (Versicherungsfall) erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Verrichtung, die Einwirkungen und die Krankheit im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit. Der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden (stRspr; vgl zuletzt BSG Urteil vom 30.3.2023 B 2 U 2/21 R BSGE (vorgesehen) = SozR 45671 Anl 1 Nr 3102 Nr 2, RdNr 12).
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Diese Voraussetzungen für die Anerkennung des Urothelkarzinoms als BK 1301 sind bei dem Kläger nach den für den Senat bindenden (§ 163 SGG) tatsächlichen Feststellungen des LSG erfüllt. Hiernach war er bei seinen Verrichtungen im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit als beschäftigter Schweißer aromatischen Aminen ausgesetzt (hierzu 1.). Er leidet an einer Erkrankung im Sinne der BK 1301 (hierzu 2.). Diese Einwirkungen haben die Krankheit auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wesentlich verursacht (hierzu 3.).
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1. Das LSG hat für den Senat bindend festgestellt, dass der Kläger von 1998 bis Ende Juni 2013 während seiner versicherten Beschäftigung als Schweißer (§ 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII iVm § 7 Abs 1 SGB IV) bei der Rissprüfung von Schweißnähten (im sog RotWeißVerfahren) aufgrund der Verwendung azofarbstoffhaltiger Rissprüfmittel oToluidin inhalativ und dermal ausgesetzt war. oToluidin ist ein genotoxisches, kanzerogenes aromatisches Amin, das von der BK 1301 umfasst ist (vgl Merkblatt zur BK 1301, Bek des BMA vom 12.6.1963, BArbBl Fachteil Arbeitsschutz 1963, 129 und die Wissenschaftliche Stellungnahme zur BK 1301, GMBl 2011, 18; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und BK, 9. Aufl 2017, S 1182; Golka/Schöps, Aromatische Amine [BK 1301] in Letzel/SchmitzSpanke/Lang/Nowak, Krebs und Arbeit, 2021, 184, 193).
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2. Die vom LSG für den Senat bindend festgestellte Erkrankung an einem Urothelkarzinom ist ebenfalls von der BK 1301 umfasst (vgl auch Golka/Schöps, Aromatische Amine [BK 1301] in Letzel/SchmitzSpanke/Lang/Nowak, Krebs und Arbeit, 2021, 184, 197 f; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und BK, 9. Aufl 2017, S 1184).
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3. Die berufsbedingten Einwirkungen waren für die Erkrankung des Klägers kausal. Der Ursachenzusammenhang ergibt sich hier aus der tatsächlich festgestellten Einwirkungskausalität (hierzu 1.) und dem vom LSG festgestellten Ausschluss jeglicher Alternativursache, ohne dass es vorliegend auf die Einhaltung einer bestimmten Mindestexpositionsdosis ankommt.
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Für die Anerkennung einer BK ist neben der Einwirkungskausalität ein Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen und der Erkrankung erforderlich. Bei der BK 1301 bedeutet dies vorliegend, dass das Urothelkarzinom durch aromatische Amine verursacht worden sein muss. Insoweit gilt im BKRecht wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung die Theorie der wesentlichen Bedingung, die zunächst auf der naturwissenschaftlichphilosophischen Bedingungstheorie beruht. Steht hiernach die versicherte Tätigkeit als eine der Ursachen der Erkrankung fest, muss sich auf der zweiten Stufe der Prüfung die Einwirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen als die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr darstellen. Die Wesentlichkeit der Ursache ist zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils begründeten Versicherung rechtlich zu beurteilen (vgl hierzu mwN BSG Urteil vom 16.3.2021 B 2 U 11/19 R SozR 42700 § 9 Nr 30 RdNr 26).
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Bei BKen ohne Einwirkungsdosis kann ein Ursachenzusammenhang aber regelmäßig nicht wegen des Unterschreitens einer normativen Mindestexpositionsdosis verneint werden, wenn eine solche nicht tatsächlich nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand bestimmt werden kann (hierzu a). Vielmehr ist mit dem Vorhandensein der in der BK genannten Listenstoffe am Arbeitsplatz vom Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen auszugehen, wenn andere in Betracht kommende Ursachen für die Erkrankung des Versicherten positiv ausgeschlossen sind (hierzu b). Der Annahme eines Ursachenzusammenhangs im Sinne der naturwissenschaftlichphilosophischen Bedingungstheorie steht dann allerdings entgegen, wenn im Rahmen der Prüfung der arbeitsmedizinischen Voraussetzungen feststeht, dass die Krankheit nicht auf die beruflich bedingte Einwirkung zurückzuführen ist (hierzu c). Andernfalls ist die BK anzuerkennen, wenn die Einwirkung auch rechtlich wesentlich war (hierzu d).
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a) Der Ursachenzusammenhang scheitert bei der BK 1301 nicht an den arbeitstechnischen Voraussetzungen wegen Unterschreitens einer Mindestexpositionsdosis.
19
Der Ursachenzusammenhang im Sinne der naturwissenschaftlichphilosophischen Bedingungstheorie kann bei BKen ohne tatbestandliche Einwirkungsgrößen regelmäßig nicht wegen des Unterschreitens einer normativen Mindestexpositionsdosis verneint werden (hierzu aa). Anders als bei BKen mit tatbestandlichen Einwirkungsgrößen ist bei BKen ohne solche Einwirkungsgrößen ein Rückschluss vom Unterschreiten der Einwirkungsdosis auf das Fehlen des Ursachenzusammenhangs nicht möglich, wenn eine solche nicht tatsächlich durch den wissenschaftlichen Erkenntnisstand bestimmt werden kann (hierzu bb). Der Ursachenzusammenhang scheitert danach bei der BK 1301 nicht an einer zu geringen Einwirkung (hierzu cc).
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aa) Der Verordnungsgeber hat im Rahmen der Anlage 1 zur BKV BKen mit verschiedenen tatbestandlichen Voraussetzungen normiert (hierzu bereits BSG Urteil vom 12.4.2005 B 2 U 6/04 R SozR 42700 § 9 Nr 5 RdNr 14). Insgesamt finden sich nicht oder bezeichnete Krankheiten ebenso wie keine oder konkretisierende Einwirkungen und auch Kombinationen hieraus: Krankheiten ohne Bezeichnung mit konkretisierten Einwirkungen ("durch"; nur beispielhaft alle unter Nr 11 und 12 gelisteten BKen sowie Nr 13011319), bezeichnete Krankheiten ohne konkretisierte Einwirkungen (nur beispielhaft Nr 2101, 2104, 2107), bezeichnete Krankheiten mit konkretisierten Einwirkungen (nur beispielhaft 2102, 2105) und bezeichnete Krankheiten mit näher definierten besonderen Einwirkungen (nur beispielhaft 1320, 1321, 2112). Bei BKen mit näher definierten besonderen Einwirkungen ("harten Kriterien") besteht einerseits bereits bei Nachweis dieser in der Norm selbst genannten Einwirkungsgröße eine Tatsachenvermutung für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der Einwirkung (BSG Urteil vom 30.1.2007 B 2 U 15/05 R SozR 45671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2 RdNr 24). Andererseits ist aber eine Anerkennung der jeweiligen BK ausgeschlossen, wenn die normierte Einwirkungsdosis nicht erreicht wird (BSG Urteil vom 29.11.2011 B 2 U 26/10 R juris RdNr 28). Hingegen sind bei BKen ohne konkretisierte Einwirkungen normative Vorgaben in Form einer Mindestdosis oder Mindestdauer der Einwirkung nicht bestimmt (BSG Urteil vom 30.3.2017 B 2 U 6/15 R BSGE 123, 24 = SozR 45671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1 RdNr 12). Bei solchen BKen ist aufgrund der Einwirkungsintensität weder eine vergleichbare Tatsachenvermutung noch ein entsprechender Ausschluss des Ursachenzusammenhangs möglich.
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bb) Bei BKen ohne vorgegebene Einwirkungsintensität können bei Nachweis der berufsbedingten Einwirkung dieser Stoffe die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht allein wegen unzureichender Einwirkungen verneint werden, wenn eine Mindestexpositionsdosis auch nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht bestimmt werden kann.
22
Bei einer BK ohne ausreichend konkretisierte Einwirkungsdosis sind nach der Senatsrechtsprechung die in der Definition der BK beschriebenen Einwirkungen durch Verwaltung und Gerichte unter Zuhilfenahme des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands zu konkretisieren und festzustellen, bei welcher Dosis sie nicht mehr geeignet sind, die betreffende Krankheit nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu verursachen. Bei der so vorzunehmenden Bestimmung der Mindestbelastungsdosis muss deren Wert so niedrig bemessen werden, dass im Falle seiner Unterschreitung auch in besonders gelagerten Fällen ein rechtlich relevanter Kausalzusammenhang ohne weitere medizinische Prüfung ausgeschlossen ist (so bereits BSG Urteil vom 27.6.2006 B 2 U 20/04 R BSGE 96, 291 = SozR 42700 § 9 Nr 7, RdNr 19). Für BKen, bei denen eine DosisWirkungsBeziehung nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht näher bestimmt werden kann, folgt daraus, dass bei Nachweis berufsbedingter Einwirkungen die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht allein deswegen verneint werden können, weil die Einwirkungsdosis in ihrer Qualität und Quantität nicht ausgereicht haben kann, die Erkrankung zu verursachen. Dies gilt grundsätzlich jedenfalls bei sog stochastischen BKen, denen keine klaren Erkenntnisse über DosisWirkungsBeziehungen zugrunde liegen und deren medizinisches Krankheitsbild typischerweise weit verbreitet ist (zB Krebs) und hinsichtlich der beruflichen Verursachung nicht mittels typischer Marker abgegrenzt werden kann (vgl Bieresborn, NZS 2008, 354, 360 und SGb 2016, 310, 312, 318).
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cc) Bei der BK 1301 ist mangels tatbestandlich vorgegebener Einwirkungsintensität einerseits und wegen unbestimmbarer Mindestexpositionsdosis andererseits ein Rückschluss von der Einwirkungsdosis auf die Verneinung des Ursachenzusammenhangs nicht möglich. Bei der BK 1301 handelt es sich um eine stochastische BK. Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen, bedingt durch aromatische Amine, sind weder klinisch, histologisch noch nach ihrem Verlauf von solchen Erkrankungen anderer Ursachen abzugrenzen (vgl Merkblatt zur BK 1301, Bek des BMA vom 12.6.1993, BArbBl Fachteil Arbeitsschutz 1963, 129; van Horst in Lauterbach, UV, 4. Aufl Stand November 2017, § 9 Anh IV 1301, S 231/1; Engel in Arbeit und Gesundheit, 1937, Heft 29, 321, 327). Konkrete oder zumindest vergleichbare arbeitsplatzbezogene Messwerte sind für den Kläger nicht festgestellt (hierzu aaa). Die BK 1301 benennt weder im Tatbestand Einwirkungsgrößen noch ist eine DosisWirkungsBeziehung durch den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ableitbar (hierzu bbb). Ein Rückgriff auf frühere Grenzwerte oder Studienergebnisse zur Bestimmung einer Mindestdosis ist nicht zulässig (hierzu ccc), sodass der Anerkennung der BK keine zu geringe Einwirkungsdosis entgegengehalten werden kann (hierzu ddd).
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aaa) Zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen hat das LSG für den Senat bindend festgestellt, dass für den Kläger keine Messwerte für seine Tätigkeitsstelle vorliegen und dass seitens des Präventionsdienstes der Beklagten keine kumulative Exposition berechnet wurde. Auch existieren keine allgemeingültigen Messwerte, die Rückschlüsse auf die Intensität der Exposition von oToluidin geben. Damit hat das LSG keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, die Rückschlüsse auf eine konkrete Einwirkungsintensität und zur Bestimmung der arbeitstechnischen Voraussetzungen zulassen.
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bbb) Bei der BK 1301 handelt es sich um eine BK, die im Tatbestand keine Einwirkungsgrößen benennt und bei der DosisWirkungsBeziehungen auch nicht durch den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand belegt sind (so auch die Feststellungen des LSG und des Sachverständigen D; auch Ditchen/Nolde/Rehme/Rose/Seibel/Teich, DGUV Forum 12/2021, 25, 27; vgl auch Weiß/Henry/Brüning, ASUmed 2010, 222 und 231 f). Konkrete und verbindliche Aussagen über aufgenommene Mengen an aromatischen Aminen nach dermaler oder inhalativer Exposition gegenüber Azofarbstoffen oder Bildung im Körper durch reduktive Spaltung sind nach derzeitigem wissenschaftlichen Kenntnisstand nicht möglich (DGUV, BKReport 1/2019 Aromatische Amine Eine Arbeitshilfe in BKenFeststellungsverfahren, Stand November 2019, S 129). Auch das Merkblatt zur BK 1301 aus dem Jahr 1963 (BArbBl 1963, S 129) und idF der wissenschaftlichen Stellungnahme zur BK 1301 des Ärztlichen Sachverständigenbeirats BKen (ÄSVB) aus dem Jahr 2011 (Wissenschaftliche Stellungnahme zu der BK 1301 der Anl 1 zur BKV "Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnblase durch aromatische Amine", GMBl 2011, 18) enthält keine Angaben zu einer erforderlichen Expositionshöhe (zur Bedeutung von Merkblättern bei der Auslegung von BKen vgl BSG Urteil vom 16.3.2021 B 2 U 11/19 R SozR 42700 § 9 Nr 30 RdNr 31 mwN).
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Anhaltspunkte dafür, dass inzwischen neuere wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen, die eine DosisWirkungsBeziehung zulassen, sind nicht ersichtlich (vgl auch DGUV, BKReport 1/2019 Aromatische Amine Eine Arbeitshilfe in BKenFeststellungsverfahren, Stand November 2019, S 128 ff). Insbesondere ergibt sich nichts anderes aus der "BK 1301Matrix" (vgl Weistenhöfer/Golka/Bolm-Audorff/Bolt/Brüning/Hallier/Pallapies/Prager/Schilling/ SchmitzSpanke/Uter/Weiß/Drexler, ASUmed 2022, 177 ff = MedSach 2022, 79 ff). Diese ist als Algorithmus und Entscheidungshilfe für eine Zusammenhangsbegutachtung konzipiert. Als Matrix zur Beurteilung und Bewertung des Ursachenzusammenhangs (Weistenhöfer/Golka/Bolm-Audorff/Bolt/Brüning/Hallier/Pallapies/Prager/Schilling/Schmitz-Spanke/Uter/Weiß/Drexler, ASUmed 2022, 177) befasst sie sich zwar mit der arbeitsmedizinischen Beurteilung, legt aber keine arbeitstechnisch relevanten Expositionen fest (vgl Weistenhöfer/Drexler/Golka, ASUmed 2022, 592). Deren Feststellung ist vielmehr Voraussetzung der dann folgenden Ursachenbeurteilung anhand der Matrix (vgl Weistenhöfer/Golka/Bolm-Audorff/Bolt/Brüning/Hallier/Pallapies/Prager/Schilling/Schmitz-Spanke/Uter/Weiß/Drexler, ASUmed 2022, 177, 178).
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ccc) Ein Mindestexpositionswert oder auch nur eine Grenzwertorientierung ergibt sich auch nicht aus dem vom LSG gezogenen Vergleich der anteiligen Verwendung der Rissprüfungsspraydosen unter Berücksichtigung eines unter 2prozentigen Anteils des Azofarbstoffs auf Basis des kanzerogenen aromatischen Amins oToluidin einerseits und dem früheren TRKWert für oToluidin iHv von 500 µg/m³ bzw den in der vom Sachverständigen D zitierten Studie von Ward et al 1996 beschriebenen oToluidinWerten iHv 412+366 µg/m³ bzw 516+513 µg/m³ andererseits.
28
Das Abstellen auf den TRKWert als Mindestdosis ist grundsätzlich unzulässig. Der Senat hat bereits entschieden, dass auch bei der Einhaltung von Arbeitsplatzgrenzwerten von einer Gefährdung auszugehen sein kann, die einer arbeitsmedizinischen Beurteilung bedarf (vgl BSG Urteil vom 16.3.2021 B 2 U 11/19 R SozR 42700 § 9 Nr 30 RdNr 32; zu den Technischen Regeln für Gefahrstoffe TRGS vgl BSG Urteil vom 30.3.2017 B 2 U 6/15 R BSGE 123, 24 = SozR 45671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, RdNr 21; anders aber als Ausschlusskriterium für die Bestimmung von "extrem" im Sinne der BK 4115 BSG Urteil vom 16.3.2021 B 2 U 7/19 R BSGE 131, 297 = SozR 45671 Anl 1 Nr 4115 Nr 1, RdNr 34). Rückschlüsse vom TRKWert auf eine geeignete Einwirkung sind demnach ebenso wenig möglich wie solche von den Studienergebnissen von Ward et al 1996 (aaO). Der ÄSVB hat mit seiner wissenschaftlichen Stellungnahme zur BK 1301 aus dem Jahr 2011 (GMBl 2011, 18) ua unter Bezugnahme auf die genannte Studie zwar ausdrücklich klargestellt, dass oToluidin anders als im Merkblatt ursprünglich vermerkt genotoxisch ist, dabei aber weder diese noch andere Werte als Grenzwerte bestimmt (anders zB bzgl BK 1320 Bek des BMAS vom 1.7.2016, GMBl 2016, 650 ff oder BK 1321 Bek des BMAS vom 1.7.2016, GMBl 2016, 659 ff).
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ddd) In Ermangelung eines Mindestschwellenwertes kann bei der BK 1301 keine sichere Dosis benannt werden, deren Unterschreiten von vornherein eine Verursachung des im Verordnungstext geforderten Krankheitsbildes durch die versicherte Einwirkung ausschließt (zur BK 1317 vgl BSG Urteil vom 16.3.2021 B 2 U 11/19 R SozR 42700 § 9 Nr 30 RdNr 30 mwN). Das folgt daraus, dass aromatische Amine nicht direkt kanzerogen wirken, sondern erst die aus ihnen im körpereigenen Stoffwechsel entstehenden Metaboliten einen Tumor verursachen können (Golka/Schöps, Aromatische Amine [BK 1301] in Letzel/SchmitzSpanke/Lang/Nowak, Krebs und Arbeit, 2021, 184, 192; vgl auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und BK, 9. Aufl 2017, S 1182 und 1184). Aus diesem Grund ergibt sich ein unterschiedliches Erkrankungsrisiko bei gleicher Exposition (Golka/Schöps, Aromatische Amine [BK 1301] in Letzel/Schmitz-Spanke/Lang/Nowak, Krebs und Arbeit, 2021, 184, 192). Zudem war die Streubreite von Messergebnissen bei nachgestellten Arbeitsplätzen so groß, dass diese Werte allenfalls zur groben Orientierung und nicht als Grundlage für einen Grenzwert geeignet sind. Auch deswegen ist die BK 1301 keine DosisBK geworden (Golka/Schöps, Aromatische Amine [BK 1301] in Letzel/SchmitzSpanke/Lang/Nowak, Krebs und Arbeit, 2021, 184, 193). Der Verordnungsgeber hat danach eine Grenzwertbestimmung bewusst nicht getroffen. Vielmehr hat er mit dem Normtext der BK 1301 deutlich gemacht, dass er aromatische Amine angesichts ihres Gefahrenpotentials ohne jegliche Abgrenzung auch niedrigschwellig als gefährlich einstuft und dieser Versicherungstatbestand entsprechend seinem Schutzzweck weit zu fassen ist (vgl insoweit auch Golka/Schöps, Aromatische Amine [BK 1301] in Letzel/SchmitzSpanke/Lang/Nowak, Krebs und Arbeit, 2021, 184, 199, wonach die Evidenz hinsichtlich der krebsauslösenden Wirkung von aromatischen Aminen im Allgemeinen als hoch anzusehen ist). Grund für die Einführung dieses BKTatbestandes war insoweit allein die Erkenntnis, dass für Erkrankungen der Harnwege aromatische Amine in Betracht kommen können (vgl die Begründung zur Einführung dieser BK als eigene BK 14 durch die Dritte Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf BKen vom 16.12.1936 abgedruckt in Arbeit und Gesundheit, 1937, Heft 29, S 13).
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Auch wenn mit dem vom LSG in Bezug genommenen Sachverständigengutachten von D davon ausgegangen wird, dass die Allgemeinbevölkerung gegenüber aromatischen Aminen ubiquitär exponiert ist, hindert das ubiquitäre Vorkommen nicht zusätzliche berufsbedingte Einwirkungen in einem für die Entstehung von Harnblasenkrebs geeigneten Ausmaß. Mangels näherer DosisBestimmungen durch die BK selbst oder entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen ist vorliegend schon ausreichend, dass sich mit einer Arbeitsplatzexposition überhaupt eine Erhöhung des Erkrankungsrisikos ergibt (vgl zur BK 3101 BSG Urteil vom 2.4.2009 B 2 U 30/07 R BSGE 103, 45 = SozR 45671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4, RdNr 33).
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b) Mit den tatsächlich festgestellten versicherungsbedingten Einwirkungen durch oToluidin ist vom Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen auszugehen, wenn konkurrierende Krankheitsursachen ausgeschlossen werden können (hierzu aa) und ausgeschlossen worden sind (hierzu bb).
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aa) Ist eine Mindestexpositionsdosis weder normativ vorgegeben noch anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes bestimmbar, und sind andere nach aktuellem medizinischwissenschaftlichen Erkenntnisstand in Betracht kommende Ursachen für die Erkrankung des Versicherten positiv ausgeschlossen, ist mit dem Vorhandensein der in der BK genannten Listenstoffe am Arbeitsplatz, hier also von aromatischen Aminen, vom Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen auszugehen (so schon zur BK 1317 andeutend BSG Urteil vom 16.3.2021 B 2 U 11/19 R SozR 42700 § 9 Nr 30 RdNr 30 mwN).
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Der Senat hat allerdings entschieden, dass beim Fehlen konkurrierender Ursachen nicht automatisch ein Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung anzunehmen ist (Urteil vom 7.9.2004 B 2 U 34/03 R juris RdNr 22). Insbesondere genügt nach der Senatsrechtsprechung bei komplexen Krankheitsgeschehen, die mehrere Ursachen haben können, die fehlende Feststellbarkeit von konkurrierenden Ursachen nicht für die Annahme der haftungsbegründenden Kausalität (vgl BSG Urteile vom 9.5.2006 B 2 U 1/05 R BSGE 96, 196 = SozR 42700 § 8 Nr 17, RdNr 20, 39 und vom 2.4.2009 B 2 U 9/08 R BSGE 103, 59 = SozR 42700 § 9 Nr 14, RdNr 26). Indes hat der Senat auch darauf hingewiesen, dass ein klar erkennbarer UrsacheWirkungsZusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung zur Bejahung der Kausalität genügt, wenn keine Anhaltspunkte für eine alternative (innere oder äußere) Krankheitsursache bestehen. Wenn die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer allein wesentlichen außerberuflichen wie zB einer inneren Verursachung zu verneinen ist, kommt danach durchaus der Schluss in Betracht, dass eine vorhandene geeignete berufliche Einwirkung auch ein geeignetes Krankheitsbild verursacht hat (vgl BSG Urteil vom 17.12.2015 B 2 U 11/14 R BSGE 120, 230 = SozR 42700 § 9 Nr 26, RdNr 31 und 34; vgl auch Bieresborn, SGb 2016, 379, 384). Unter Berücksichtigung der Besonderheiten von BKen wie der BK 1301, denen der Verordnungsgeber auch ohne konkrete DosisWirkungsBeziehung ein hohes Gefährdungspotential beimisst, führt der Senat diese Rechtsprechung dahingehend fort, dass eine wesentliche Verursachung durch die berufliche Exposition anzunehmen ist, wenn andere Ursachen für die Erkrankung des Versicherten positiv ausgeschlossen sind. Anderenfalls würde die vom Verordnungsgeber mit der Aufnahme einer Einwirkung in die BKV getroffene Wertentscheidung unterlaufen, dass die Beteiligten von deren generellen Eignung zur Verursachung bestimmter Erkrankungen und von deren Entschädigungswürdigkeit auszugehen haben (vgl Koch in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 2, Unfallversicherungsrecht, 1996, § 36 RdNr 6). Krebserkrankungen liegen regelmäßig multifaktorielle Geschehensabläufe zugrunde, deren Ursachen teils im beruflichen, teils im außerberuflichen Bereich liegen, ohne dass insofern eine wissenschaftlich begründete exakte Bezifferung der jeweiligen Verursachungsbeiträge möglich ist (vgl BSG Urteil vom 30.3.2017 B 2 U 6/15 R BSGE 123, 24 = SozR 45671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, RdNr 26).
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Eine solche Auslegung von BKen ohne vorgegebene Mindestexpositionsdosis entspricht auch § 2 Abs 2 SGB I, wonach bei der Auslegung sozialrechtlicher Vorschriften sicherzustellen ist, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Andernfalls bliebe angesichts vielfältiger, in ihren Wirkungen und Wechselwirkungen nur teilweise bekannter und erforschter gesundheitsschädlicher Umwelteinflüsse, denen jeder in seinem persönlichen Umfeld in mehr oder weniger großem Umfang ausgesetzt ist, der vom Verordnungsgeber bewusst weitgefasste Schutz der BK (hierzu bereits oben unter 3.a.cc.ddd) weitgehend bedeutungslos (vgl zur BK 1103 BSG Urteil vom 30.3.2017 B 2 U 6/15 R BSGE 123, 24 = SozR 45671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, RdNr 26; so auch zur Tatsachenvermutung für die wesentliche Verursachung der in BK 4104 genannten Krebserkrankung durch eine versicherte Asbestfasereinwirkung von mehr als 25 Jahren BSG Urteil vom 30.1.2007 B 2 U 15/05 R SozR 45671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2 RdNr 27).
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Eine Diskrepanz zu BKen mit "harten Kriterien" (hierzu 3.a.aa) ergibt sich mit der Annahme der arbeitstechnischen Voraussetzungen der hier betroffenen BK bei Ausschluss von Konkurrenzursachen nicht. Denn bei solchen BKen mit "harten Kriterien" existiert beim Nachweis der in der Norm selbst genannten Einwirkungsgröße bereits eine Tatsachenvermutung für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Krebserkrankung und der Einwirkung, ohne dass ein Abstellen auf andere konkurrierende Krankheiten für die Begründung der BK erforderlich ist (vgl BSG Urteil vom 30.1.2007 B 2 U 15/05 R SozR 45671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2 RdNr 24 ff, 27). Auch widerspricht die Annahme der arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht dem Grundgedanken der gesetzlichen Unfallversicherung, die als Sonderentschädigungssystem im Rahmen der Sozialversicherung die Haftung des Unternehmers in den Fällen ablösen soll, in denen er wegen der Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs für einen Gesundheitsschaden einstandspflichtig ist (BTDrucks 13/2333 S 19 f; vgl hierzu zB auch Bieresborn, SGb 2016, 379, 384). Die Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs bleibt Maßstab der Beurteilung. Denn erst wenn alle nach aktuellem medizinischwissenschaftlichen Erkenntnisstand in Betracht kommenden Ursachen positiv ausgeschlossen sind, kann im Rahmen der arbeitsmedizinischen Voraussetzungen eine berufsbedingte Verursachung angenommen werden.
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bb) Den Gesamtfeststellungen des LSG lässt sich für den Senat bindend entnehmen, dass andere, nach aktuellem medizinischwissenschaftlichen Erkenntnisstand typische Krankheitsverursachungen (vgl hierzu auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und BK, 9. Aufl 2017, S 1185; Golka/Schöps, Aromatische Amine [BK 1301] in Letzel/Schmitz-Spanke/Lang/Nowak, Krebs und Arbeit, 2021, 184, 185; Weistenhöfer/Golka/Bolm-Audorff/Bolt/Brüning/Hallier/Pallapies/Prager/Schilling/Schmitz-Spanke/Uter/Weiß/Drexler, ASUmed 2022, 177, 182 ff) nicht in Betracht kommen und vom LSG unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Sachverständigen als Ursache ausgeschlossen wurden. Das betrifft namentlich die Einnahme bestimmter Medikamente, die zu einem erhöhten Harnblasenkarzinomerkrankungsrisiko führen, chronische Harnwegsinfekte oder Steinleiden und eine Bestrahlungstherapie im kleinen Becken. Gleiches gilt für das Rauchen (hier 15 Packungsjahre). Das LSG hat insoweit in nicht zu beanstandender Weise das eingeholte Sachverständigengutachten ausgewertet und für den Senat bindend festgestellt, dass der Kläger das Rauchen bereits im Jahr 2000 aufgegeben hat und es so nicht mehr hinreichend wahrscheinliche Ursache der Harnblasenerkrankung ist (zur Abnahme des Harnblasenkarzinomrisikos mit Zunahme der Tabakrauchabstinenz vgl auch Weiß/Henry/Brüning, ASUmed 2010, 222 und 232 f und Weistenhöfer/Golka/Bolm-Audorff/Bolt/Brüning/Hallier/Pallapies/Prager/Schilling/Schmitz-Spanke/Uter/Weiß/Drexler, ASUmed 2022, 177, 182).
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Soweit das LSG zu der Überzeugung gelangt, es sprächen ebenso gute Gründe für eine andere wie für die berufliche Verursachung, kann dies eine überragende Bedeutung der unversicherten außerbetrieblichen Ursache nicht begründen. Vielmehr fußt die Annahme des LSG auf einer fehlerhaften rechtlichen Schlussfolgerung von der Möglichkeit auf die Wahrscheinlichkeit. Denn das LSG konnte weder das konkrete Schicksal benennen noch dieses im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung feststellen. Art, Intensität und Dauer der schicksalhaften Erkrankung konnten nicht als Tatsachen festgestellt werden. Etwaig "gute Gründe" für die Annahme einer unversicherten Alternativursache können insoweit bei der Kausalitätsbeurteilung als bloße Behauptung die überwiegend wahrscheinliche Ursächlichkeit der tatsächlich erfolgten beruflichen Einwirkung nicht zulässig ausschließen.
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Aus dem vom LSG erwähnten altersbedingten Harnblasenrisiko lassen sich Schlüsse zum Nachteil des Klägers nicht ziehen. Das mittlere Erkrankungsalter für das Harnblasenkarzinom in Deutschland liegt bei knapp 75 Jahren. Zwar steigt die Harnblasenkrebsinzidenz in der Allgemeinbevölkerung ab etwa dem 50. Lebensjahr an, doch müssen Harnblasenerkrankungen aufgrund des mittleren Erkrankungsalters von 75 Jahren als vorgezogene und damit berufsbedingte Erkrankung betrachtet werden, wenn sie im Alter von 50 bis 75 Jahren auftreten (vgl Weistenhöfer/Golka/Bolm-Audorff/Bolt/Brüning/Hallier/Pallapies/Prager/Schilling/Schmitz-Spanke/Uter/Weiß/Drexler, ASUmed 2022, 177, 181 f). Der Kläger ist altersuntypisch mit 58 Jahren an dem Harnblasenkarzinom erkrankt.
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c) Die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen der BK 1301 sind ebenfalls gegeben.
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Lässt bei einer BK ohne normativ vorgegebene oder nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand bestimmbare Mindestdosis die Einwirkungsintensität keine negativen Rückschlüsse auf den Ursachenzusammenhang im Sinne der naturwissenschaftlichphilosophischen Bedingungstheorie zu, so steht der Annahme eines solchen Ursachenzusammenhangs gleichwohl die positive Feststellung entgegen, dass die Krankheit nicht auf die beruflich bedingte Einwirkung zurückzuführen ist.
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Zu BKen, für die keine konkrete Erkrankung bezeichnet oder beschrieben ist (offene BK), hat der Senat bereits entschieden, dass für den Ausschluss eines bestimmten Krankheitsbildes aus dem Schutzbereich dieser BK feststehen muss, dass entweder diese Krankheit nach dem Willen des Verordnungsgebers nicht vom Schutzbereich der Norm umfasst sein sollte oder durch die jeweilige Einwirkung nicht verursacht werden kann (BSG Urteil vom 17.12.2015 B 2 U 11/14 R BSGE 120, 230 = SozR 42700 § 9 Nr 26, RdNr 14). Entsprechendes muss für BKen gelten, für die keine Einwirkungsdosis vorgegeben ist, sondern die als stochastische BKen multikausale Erkrankungen wie Krebs erfassen (hierzu 3.a.bb). Um hier einen Ursachenzusammenhang auszuschließen, muss positiv festgestellt werden, dass die Krankheit nicht auf die beruflich bedingte Einwirkung zurückzuführen ist.
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Für die positive Feststellung, dass eine Krankheit nicht auf die beruflich bedingte Einwirkung zurückzuführen ist, genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht jedoch die bloße Möglichkeit. Sie erfordert eine Prüfung des Ursachenzusammenhangs im Sinne der arbeitsmedizinischen Voraussetzungen und hat zwei Aspekte der Anerkennungsvoraussetzungen: Zum einen das Vorliegen der tatbestandlich vorausgesetzten Krankheit (hierzu 2.), zum anderen ein Schadensbild, welches losgelöst von einer Expositionsdosis mit der rechtlichwesentlichen Verursachung dieser Krankheit durch die beruflichen Einwirkungen zumindest in Einklang steht (vgl BSG Urteile vom 23.4.2015 B 2 U 6/13 R SozR 45671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 18 und vom 17.12.2015 B 2 U 11/14 R BSGE 120, 230 = SozR 42700 § 9 Nr 26, RdNr 27). Für die Feststellung fehlender Ursächlichkeit ist daher entscheidend, dass wegen der Art oder der Lokalisation des Karzinoms, wegen des zeitlichen Ablaufs der Erkrankung (Expositionszeit, Latenzzeit und Interimszeit) oder aufgrund sonstiger Umstände im konkreten Einzelfall ein ursächlicher Zusammenhang trotz der beruflichen Einwirkung nicht wahrscheinlich ist (vgl BSG Urteil vom 30.1.2007 B 2 U 15/05 R SozR 45671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2 RdNr 27). Ist ein solches "versicherungsfremdes" Schadensbild nicht feststellbar, ist davon auszugehen, dass die Krankheit auf die beruflich bedingte Einwirkung zurückzuführen ist. So verhält es sich hier.
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Das LSG hat die medizinischen Aspekte, die für die berufliche Genese eines Harnblasenkarzinoms sprechen (vgl hierzu auch Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und BK, 9. Aufl 2017, S 1185; vgl Weistenhöfer/Golka/Bolm-Audorff/Bolt/Brüning/Hallier/Pallapies/Prager/Schilling/Schmitz-Spanke/Uter/Weiß/Drexler, ASUmed 2022, 177, 178 ff), aufgelistet (namentlich: Manifestation des Harnblasenkarzinoms mehr als zehn Jahre nach Erstkontakt und weniger als 25 Jahre nach letztem beruflichen Kontakt, ein vorverlegter Erkrankungszeitpunkt im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sowie rezidivierendes oder multilokuläres Auftreten des Harnblasenkarzinoms) und dann den Anspruch an einer "lediglich sehr geringen Einwirkung" also der Einwirkungsintensität scheitern lassen. Die berufliche Einwirkung "erscheine nicht vergleichbar mit den vollschichtigen Expositionen gegenüber oToluidin in Höhe von etwa 500 µg/m³". Damit hat das LSG seine ablehnende Entscheidung auf die arbeitstechnischen Voraussetzungen gestützt. Dass das Harnblasenkarzinom hingegen aufgrund seines Schadensbildes, also wegen der arbeitsmedizinischen Voraussetzungen, nicht durch die berufliche Einwirkung verursacht worden ist, hat das LSG nicht festgestellt.
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d) Schließlich ist die beruflich bedingte Einwirkung von oToluidin für die Harnblasenerkrankung des Klägers auch rechtlich wesentlich (zur rechtlichen Wesentlichkeit BSG Urteil vom 30.3.2017 B 2 U 6/15 R BSGE 123, 24 = SozR 45671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, RdNr 22 ff mwN). Zwar besteht kein Automatismus dergestalt, dass die Bejahung des naturwissenschaftlichen Kausalitätszusammenhangs zwischen Einwirkung und Erkrankung auch die rechtliche Wesentlichkeit der Ursache zur Folge hätte. Mangels anderweitiger (außerberuflicher) Einwirkungen hat der Senat aber keinerlei Anhalt, die rechtliche Wesentlichkeit in Zweifel zu ziehen.
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4. Ergibt sich der Anspruch des Klägers bereits aus den aufgezeigten Besonderheiten der BK 1301 bei der Bestimmung des Kausalzusammenhangs, kann dahinstehen, ob der Anspruch auch aus der Vermutungsregelung nach § 9 Abs 3 SGB VII folgt.
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5. Hat die Klage danach aus materiellen Gründen Erfolg, ist nicht mehr entscheidend, dass der gegenständliche Ablehnungsbescheid vom 27.5.2015 durch den Rentenausschuss erlassen wurde (vgl zum Kompetenzrahmen des Rentenausschusses zB BSG Urteil vom 30.1.2020 B 2 U 2/18 R BSGE 130, 1 = SozR 42700 § 8 Nr 70, RdNr 13; Ricke, NZS 2022, 132; Spellbrink/Karmanski, SGb 2021, 461, 465 ff) und der Kläger zudem Verfahrensfehler gerügt hat.
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6. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.