Es wird festgestellt, dass das Berufungsverfahren L 2 SO 3307/22 auf Grund der vom Klägerbevollmächtigten am 11. Juli 2023 erklärten Berufungsrücknahme beendet ist.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Fortsetzung des Berufungsverfahrens L 2 SO 3307/22 nach erklärter Berufungsrücknahme.
Der 1995 geborene Kläger leidet an einer dauerhaften geistigen Behinderung bei Trisomie 21 (sog. Down-Syndrom). Er ist seit seiner Geburt schwerbehindert. Es wurden ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen „G“, „H“ festgestellt (vgl. Schwerbehindertenausweis, gültig ab 30.10.1995, Bl. 19 VA). Der Kläger ist in einer Werkstatt für behinderte Menschen der Lebenshilfe P1 tätig und bezieht vom Beklagten inzwischen Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Die Mutter des Klägers, W1, ist dessen rechtliche Betreuerin.
Mit seiner vor dem Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg geführten Berufung vom 15.11.2022 im Verfahren L 2 SO 3307/22 wandte sich der Kläger gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts (SG) Karlsruhe vom 14.10.2022, mit dem seine Klage vom 22.07.2021 abgewiesen worden war. In diesem Verfahren (- S 2 SO 2119/21 -) begehrte der Kläger vom Beklagten die Übernahme der Kosten der Unterkunft und Heizung für den Zeitraum vom 01.10.2013 bis 31.08.2021. Das SG führte in der angefochtenen Entscheidung zur Begründung u.a. aus, dass es für den Zeitraum vom 01.10.2013 bis zum 31.08.2015 an einem für die Zulässigkeit der Klage erforderlichen Ausgangsverfahren und Vorverfahren fehle. Die restlichen geltend gemachten Zeiträume seien zum Teil schon Gegenstand anderer Gerichtsverfahren, sodass die Klage diesbezüglich aufgrund doppelter Rechtshängigkeit unzulässig sei. Zu einem anderen Teil seien die angefochtenen Bescheide der Beklagten bereits bestandskräftig. Im Berufungsverfahren machte der Kläger u.a. geltend, dass ihm ein Amtshaftungs- oder sozialrechtlicher Herstellungsanspruch gegen den Beklagten zustehe, da der Beklagte seine Auskunfts- und Beratungspflichten verletzt habe. Er habe dem Beklagten nämlich im Jahr 2013 mitgeteilt, dass der Kläger im Eingangs- und Berufsbildungsbereich der Werkstätten für behinderte Menschen zwischen dem 01.10.2013 und 31.08.2015 nicht grundsicherungsberechtigt sei.
Im Verfahren L 2 SO 3307/22 bestimmte die Berichterstatterin mit Verfügung vom 20.06.2023 einen Termin zur Erörterung des Sachverhaltes auf den 11.07.2023, 09:30 Uhr (Bl. 34 LSG-Akte). Der Klägerseite wurde diese Terminbestimmung gegen Postzustellungsurkunde am 23.06.2023 durch Einlegung in den Briefkasten zugestellt (Bl. 38 f. LSG-Akte). Zum Termin am 11.07.2023 erschien der Vater des Klägers, W2 (im Folgenden Klägervertreter), unter Vorlage einer von der Betreuerin des Klägers an ihn erteilten Vollmacht (Bl. 40 LSG-Akte). Nach Erörterung des Sachverhaltes und einem Hinweis der Berichterstatterin zu den Erfolgsaussichten des Berufungsverfahrens, erklärte der Klägervertreter: „Ich nehme die Berufung im Verfahren L 2 SO 3307/22 zurück“. Ausweislich der Niederschrift (Bl. 43 ff. LSG-Akte) wurde diese Erklärung dem Klägervertreter vorgespielt und von diesem genehmigt.
Mit einem an das LSG Baden-Württemberg gerichteten Schreiben vom 31.07.2023 (vgl. Bl. 52 LSG-Akte) ist für den Kläger erklärt worden, dass die Berufung im Verfahren L 2 SO 3307/22 nicht zurückgenommen werde. Man fechte zudem diese Erklärungen im Protokoll vom 11.07.2023 an. Der Kläger habe seinem Vater zwar eine Vollmacht erteilt, jedoch nur für drei andere an diesem Tag verhandelte Verfahren. Das Verfahren L 2 SO 3307/22 sei seit 23.12.2022 beim LSG in Stuttgart offen und darum habe der Kläger vermutet, das auch über dieses Verfahren gesprochen werde. Keinesfalls habe die Berufung nebenbei und ohne Not zurückgenommen werden sollen. Er habe die ebenfalls geladenen Beschwerden zurückgenommen und im Verfahren L 2 SO 3307/22 die Berufung nur teilweise, nämlich für September 2015 bis November 2021, zurückgenommen. Zudem habe der Klägervertreter die Berufung nur zurückgenommen, da bei ihm der Eindruck entstanden sei, dass die Stimmung zwischen der Berichterstatterin und den Beklagtenvertretern zu gut gewesen sei (vgl. Bl. 52 LSG-Akte).
Nach einem Hinweis des Senatsvorsitzenden hat der Kläger mit Schreiben vom 11.09.2023 erneut mitteilen lassen, dass die Berufung im Verfahren L 2 SO 3307/22 am 11.07.2023 nicht zurückgenommen worden sei. Es ist zudem das Vorbringen vom 31.07.2023 wiederholt worden und ergänzend ausgeführt worden, dass nicht alles protokolliert worden und der Inhalt des Protokolls dem Klägervertreter nicht vorgespielt worden sei.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das Berufungsverfahren, das unter dem Az. L 2 SO 3307/22 geführt worden ist, wieder aufzunehmen.
Der Beklagte beantragt (sinngemäß),
festzustellen, dass das Berufungsverfahren durch die seitens des Klägervertreters am 11. Juli 2023 erklärte Berufungsrücknahme erledigt ist.
Wegen der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie auf die Akten des Verfahrens L 2 SO 3307/22 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Das Begehren des Klägers hat keinen Erfolg. Der Rechtsstreit L 2 SO 3307/22 ist aufgrund der vom Klägervertreter formwirksam und ohne Einschränkungen erklärten Berufungsrücknahme erledigt.
Über die Wirksamkeit der Berufungsrücknahme war in Fortsetzung des Berufungsverfahrens zu entscheiden, indem diese erklärt wurde (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 26.07.1989 - 11 RAr 31/88 - SozR 1500 § 73 Nr. 6). Gemäß § 156 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann die Berufung bis zur Rechtskraft des Urteils oder eines nach § 153 Abs. 4 oder nach § 158 Satz 2 SGG ergangenen Beschlusses zurückgenommen werden. Die Rücknahme bewirkt den Verlust des Rechtsmittels (§ 156 Abs. 3 Satz 1 SGG).
Diese Rechtswirkung ist vorliegend eingetreten. Der Klägervertreter hat im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 11.07.2023 die Berufung wirksam zurückgenommen. Dies ergibt sich bereits aus der Niederschrift über diesen Termin, der insofern Beweiskraft zukommt (vgl. § 122 SGG i.V.m. § 165 Zivilprozessordnung [ZPO]). Die maßgeblichen Protokollierungsvorschriften des § 122 SGG i.V.m. §§ 160 Abs. 3 Nr. 8, 162 Abs. 1 ZPO sind gewahrt worden. Die Berichterstatterin hat die seitens des Klägervertreters erklärte Berufungsrücknahme protokolliert und anschließend vermerkt, dass diese erklärte Berufungsrücknahme laut vorgespielt und vom Klägervertreter genehmigt worden ist.
Auch ist der Kläger ordnungsgemäß nach § 111 Abs. 2 SGG zum Termin am 11.07.2023 geladen worden. Hier ist der Kläger mit Terminbestimmung vom 20.06.2023 (gemeinsam mit drei anderen Verfahren) mittels Postzustellungsurkunde am 23.06.2023 für das Verfahren L 2 SO 3307/22 zum Termin am 11.07.2023 um 9:30 Uhr geladen (Bl. 34, 38 f. LSG-Akte). Der Vortrag des Klägers, das Verfahren sei kurzfristig auf die Tagesordnung genommen worden, ist daher nicht richtig. Dass der Kläger von dieser Ladung Kenntnis erlangt hat, zeigt sich auch schon darin, dass der Klägervertreter ausdrücklich auch für das Verfahren L 2 SO 3307/22 schriftlich durch die Betreuerin des Klägers bevollmächtigt worden war (Bl. 40 LSG-Akte). Zudem erscheint das klägerische Vorbringen hier widersprüchlich, da er einerseits vorgetragen hat, sein Vertreter hätte sich nicht auf das Verfahren L 2 SO 3307/22 vorbereiten können, dann aber die Berufungsrücknahme betreffend den Zeitraum September 2015 bis November 2021 im Verfahren L 2 SO 3307/22 selbst als wirksam erachtet hat (vgl. Schreiben vom 31.07.2023). Die Vertretung des Klägers ist ordnungsgemäß durch seinen Vater erfolgt, den seine rechtliche Betreuerin und Mutter, für alle an diesem Tag verhandelten Verfahren und ausdrücklich auch für das Verfahren L 2 SO 3307/22 schriftlich bevollmächtigt hatte.
Die Berufungsrücknahme ist auch nicht nachträglich durch das Schreiben des Klägers vom 31.07.2023 bzw. 11.09.2023 vernichtet worden.
Als den Rechtsstreit beendende Prozesserklärung kann die vom Kläger zu Protokollvertreter erklärte Berufungsrücknahme weder frei widerrufen noch entsprechend den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften wegen Irrtums oder Drohung (§ 119 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]) angefochten werden (vgl. BSG, Beschluss vom 24.04.2003 - B 11 AL 33/03 B -, juris m.w.N.; Bayerisches LSG, Urteil vom 19.08.2009 - L 2 P 39/08 -, juris, Rn. 19; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 156 Rn. 2a). Zwar können auch Prozesshandlungen grundsätzlich im Verlauf des weiteren Verfahrens widerrufen, ergänzt, geändert oder berichtigt werden; dies gilt jedoch nur, solange der Rechtsstreit anhängig ist (Seiler in Thomas/Putzo, ZPO, 43. Aufl. 2022, Einleitung III, Rn. 21). Unwiderruflich und nicht abänderungsfähig sind darüber hinaus solche Prozesshandlungen, durch die der Prozessgegner eine Rechtsstellung erlangt oder aufgrund der er seine Rechtstellung eingerichtet hat (vgl. Bundesfinanzhof [BVH], Beschluss vom 08.08.1991 - VI B 134/90 -, juriBFH/NV 1992, 49; Bayerisches LSG, Urteil vom 16.10.2001 - L 15 V 37/01 -, juris). Dies ist bei der Berufungsrücknahme der Fall. Unbeachtlich ist daher der Vortrag des Klägers, das Berufungsverfahren nicht vollumfänglich, sondern nur teilweise für einen bestimmten Zeitraum beendet haben zu wollen, da selbst bei Vorliegen eines solchen Irrtums dieser unbeachtlich wäre.
Für die Anfechtung der Rücknahme in entsprechender Anwendung des § 123 BGB liegen weiter keine Anhaltspunkte vor, abgesehen davon, dass auch insoweit die Anfechtung der Berufungsrücknahme ausgeschlossen wäre (vgl. BSG, Beschluss vom 12.08.1961 - 3 RK 13/59 -, juris, Rn. 4). Darüber hinaus hat die Berichterstatterin im Termin am 11.07.2023 dem Klägervertreter einen ausführlichen Hinweis zu den Erfolgsaussichten erteilt. Erst im Anschluss daran ist dann die Berufungsrücknahme erklärt worden.
Auch ein Widerruf der Berufungsrücknahme entsprechend den Regeln über die Wiederaufnahmeklage (vgl. BSG, Urteil vom 24. 04.1980 - 9 RV 16/79 -, juris; Bayerisches LSG, Urteil vom 06.02.2014 - L 15 SB 189/13 -, juris, Rn. 18 - 20) kommt nicht in Betracht, da Wiederaufnahmegründe gemäß § 179 Abs. 1 SGG in Verbindung mit den §§ 579, 580 ZPO nicht gegeben sind.
Eine Nichtigkeitsklage gemäß §§ 179 SGG, 579 ZPO findet statt, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war, ein Richter bei der Entscheidung mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war, wenn bei der Entscheidung ein Richter mitgewirkt hat, obgleich er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt war oder wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, sofern sie nicht die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt hat.
Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Die Behauptung des Klägervertreters, es habe eine „Gute Stimmung“ zwischen der Berichterstatterin und den Beklagtenvertretern geherrscht, wofür schon keinerlei objektive Anhaltspunkte vorliegen, und er habe nur deshalb die Berufung zurückgenommen, begründet keine Nichtigkeitsklage nach § 579 ZPO. Ein nach § 579 Abs. 1 Nr. 3 ZPO wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnter Richter hat im Termin vom 11.07.2023 gerade nicht mitgewirkt. Einen Ablehnungsantrag gegen die Berichterstatterin hat der Kläger bis heute nicht gestellt.
Auch soweit bemängelt wird, der Kläger sei nicht ordnungsgemäß geladen worden, ist hierin kein zulässiger Wiederaufnahmegrund zu sehen. Unabhängig davon, ob bloße Zustellungsmängel den Tatbestand des § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO erfüllen können (vgl. hierzu LSG Hamburg, Urteil vom 08.02.2017 - L 2 AL 18/16 WA -, juris, Rn. 27), ist festzustellen, dass die Ladung zum Termin, wie bereits oben ausgeführt, ordnungsgemäß erfolgt ist.
Daneben findet eine Restitutionsklage gemäß §§ 179 SGG, § 580 ZPO statt bei falschem Eid durch den Prozessgegner, Urkundenfälschung, strafbarem falschem Zeugnis oder strafbarer falscher Sachverständigenaussage, strafbarer Urteilserschleichung durch den Gegner, strafbarer Amtspflichtverletzung durch einen mitwirkenden Richter, Aufhebung eines anderen Urteils, welches Grundlage des angefochtenen Urteils war, Auffinden eines bis dato unbekannten rechtskräftigen Urteils in gleicher Sache bzw. einer anderen Urkunde und der Feststellung einer Verletzung der europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Auch diese Wiederaufnahmegründe liegen offensichtlich nicht vor und sind vom Kläger auch nicht vorgetragen worden.
Nach alledem ist daher festzustellen, dass der Rechtsstreit durch die Berufungsrücknahme am 11.07.2023 beendet worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.