L 4 AS 844/20

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 127 AS 783/18 WA
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 4 AS 844/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Zu den Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft. 

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. Mai 2020 wird zurückgewiesen.

 

Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin werden auch für das Beru­fungsverfahren von dem Beklagten erstattet.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt für die Monate April 2014 und Juni bis August 2014 laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozial­gesetzbuches (SGB II), hilfsweise Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII).

 

Die  1990 geborene Klägerin hat die bulgarische Staatsangehörigkeit. Sie war in den streitigen Monaten die damals noch unverheiratete Lebensgefährtin des  1978 geborenen E H. Dieser hat aus einer früheren Be­ziehung die am 2. Februar 2003 geborene Tochter S M. Die Klägerin und Herr H sind die Eltern des am 11. Februar 2009 in Bulgarien geborenen Sohnes E und des am 2. Januar 2014 in Deutschland geborenen Sohnes E. Herr H und die Klägerin heirateten am 11. November 2014.

 

Die Klägerin und Herr H reisten mit den Kindern S und E nach eigenen Angaben am 6. Juli 2010 nach Deutschland ein. Sie meldeten sich in B am selben Tage polizeilich an.

 

Seit dem 5. April 2014 wohnte die Familie zur Untermiete in einer Mietwohnung mit einer Wohnfläche von 52,31 Quadratmetern, die über eine dezentrale Warmwasser­versorgung verfügte. Die polizeiliche Anmeldung erfolgte ebenfalls zum 5. April 2014. Nach dem Untermietvertrag war eine Bruttowarmmiete von 349,00 EUR zu zahlen (nach dem Hauptmietvertrag: 250,00 EUR Grundmiete, 72,00 EUR Betriebskosten, 27,00 EUR Heizkosten). Tatsächlich überwies die Klägerin der Hausverwaltung ab Mai 2014 monatlich 415,20 EUR.

Herr H meldete am 20. Juli 2010 ein Gewerbe für Abriss und Bauhilfsarbeiten an, wobei er Rechnungen für die Monate September bis November 2011, Mai bis Juni 2012 sowie Januar bis November 2013 ausstellte. Er meldete sein Gewerbe am 17. April 2014 wieder ab. Seit dem 17. März 2014 war er als Bauhelfer beschäftigt. Er erzielte für März 2014 brutto 277,50 EUR und netto 186,51 EUR, für April 2014 brutto 549,45 EUR und netto 369,26 EUR sowie für Mai 2014 brutto 552,87 EUR und netto 533,95 EUR. Das Entgelt wurde jeweils im Folgemonat ausgezahlt. Das Arbeitsver­hältnis wurde von dem Arbeitgeber zum 30. Mai 2014 gekündigt. Am 10. Juli 2014 nahm Herr H eine neue Beschäftigung als Bauhelfer auf. Er erzielte für den Monat Juli 2014 brutto 460,65 EUR und netto 330,73 EUR sowie für den Monat August 2014 brutto 460,65 EUR und netto 354,94 EUR.

 

Die Klägerin meldete am 17. April 2012 ein Gebäudereinigungsgewerbe an und am 22. Juli 2013 wieder ab. Im Zuge ihrer Tätigkeit stellte sie Rechnungen für die Monate August, September, November und Dezember 2012 sowie April bis Juli 2013 aus.

 

Auf das Girokonto der Klägerin erfolgte im Mai 2014 eine an Herrn H gerich­tete Kindergeldzahlung in Höhe von 3.158,00 EUR. Darüber hinaus erhielt er ab Juni 2014 laufendes Kindergeld in Höhe von insgesamt 558,00 EUR, und zwar jeweils 184,00 EUR für S und E sowie 190,00 EUR für E. Zudem bezog die Klägerin in den streitigen Monaten laufendes Elterngeld in Höhe von 300,00 EUR.

 

Herrn H Tochter S besuchte in den streitigen Monaten die Grund­schule.

 

Die Klägerin und Herr H beantragten am 10. Dezember 2013 erstmals bei dem Beklagten laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Der Be­klagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 18. Dezember 2013 ab, und zwar mit der Begründung, dass lediglich ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche be­stehe und dass Bulgaren eine Arbeitserlaubnis für die Ausübung einer unselbständi­gen Erwerbstätigkeit benötigten. Als eine solche sei die Tätigkeit des Herrn H anzusehen.

 

Am 15. April 2014 beantragten die Klägerin und ihr damaliger Lebensgefährte erneut Leistungen bei dem Beklagten. Der Beklagte gewährte Herrn H und den Kin­dern mit Bescheid vom 21. August 2014 Leistungen für den Monat April 2014 in einer Gesamthöhe von 1.262,97 EUR. In der Begründung hieß es unter anderem, dass die Klägerin kraft Gesetzes von den Leistungen ausgeschlossen sei, weil sie nicht über ein Aufenthaltsrecht verfüge. Die Miete werde erst hinsichtlich der Zeit ab dem 5. April 2014 berücksichtigt, weil der Untermietvertrag erst ab diesem Datum beginne. Mit wei­terem Bescheid vom 21. August 2014 lehnte der Beklagte den Leistungsantrag hin­sichtlich des Monats Mai 2014 wegen fehlender Hilfebedürftigkeit ab. Der Beklagte bewilligte mit einem dritten Bescheid vom 21. August 2014 vorläufig Leistungen für die Zeit vom 1. Juni 2014 bis zum 30. September 2014.

 

Nach Vorlage diverser Unterlagen bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 1. Okto­ber 2014 Herrn H und den Kindern laufende Leistungen für die Zeit vom 1. April 2014 bis zum 31. Mai 2014, und zwar für den Monat April 2014 insgesamt 1.260,75 EUR und für den Monat Mai 2014 insgesamt 641,10 EUR. Mit weite­rem Bescheid vom 1. Oktober 2014 lehnte der Beklagte den Leistungsantrag hinsicht­lich des Monats Juni 2014 endgültig ab. Mit drittem Bescheid vom 1. Oktober 2014 ge­währte der Beklagte endgültig Leistungen für die Zeit vom 1. Juli 2014 bis zum 31. August 2014, insgesamt 108,27 EUR für den Monat Juli 2014 und 84,06 EUR für den Monat August 2014. In den Begründungen hieß es erneut, dass die Klägerin kraft Ge­setzes von den Leistungen ausgeschlossen sei, weil sie nicht über ein Aufenthaltsrecht verfüge. Hinsichtlich des Monats Juni 2014 sei die übrige Bedarfsgemeinschaft nicht hilfebedürftig. Die Kindergeldnachzahlung sei auf sechs Monate zu verteilen und als Einkommen abzüglich der gesetzlichen Freibeträge anzurechnen.

 

Den hiergegen eingelegten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Wider­spruchsbescheid vom 19. November 2014 unter Beibehaltung seiner Rechtsauffas­sung zurück.

 

Mit zwei Änderungsbescheiden vom 3. Dezember 2014 bewilligte der Beklagte Herrn H und den Kinder für den Monat Juni 2014 laufende Leistungen in Höhe von insgesamt 475,82 EUR und erhöhte deren Leistungen für den Monat Juli 2014 auf insgesamt 634,60 EUR und für den Monat August 2014 auf 610,39 EUR.

 

Die Klägerin hat ihr Begehren mit ihrer am 5. Dezember 2014 bei dem Sozialgericht Berlin eingegangenen Klage weiterverfolgt. Sie sei nicht von den begehrten Leistun­gen ausgeschlossen, weil ihr damaliger Lebensgefährte als Arbeitnehmer und somit auch die Kinder nicht ausgeschlossen gewesen seien. Sie könne sich insoweit auf den grund- und menschenrechtlichen Schutz der Familie berufen.  

 

Das Sozialgericht hat der Klage mit Urteil vom 12. Mai 2020 stattgegeben, indem es den Beklagte unter Änderung der angefochtenen Bescheide dem Grunde nach verur­teilt hat, der Klägerin laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Monate April 2014 und Juni bis August 2014 zu gewähren. Zur Begründung führte das Sozialgericht aus, die Klägerin habe in den streitigen Monaten die allgemeinen Leis­tungsvoraussetzungen erfüllt. Insbesondere sei sie hilfebedürftig gewesen. Das im Mai 2014 nachgezahlte Kindergeld habe nach der damaligen Rechtslage im Zuflussmonat als Einkommen angerechnet werden müssen. Die Klägerin sei auch nicht kraft Geset­zes von den Leistungen ausgeschlossen. Sie könne sich auf ein anderes Aufenthalts­recht als eines zur Arbeitsuche berufen. Zwar habe sie nicht über ein fortdauerndes Aufenthaltsrecht als selbständige Erwerbstätige verfügt, weil sie ihr Gewerbe bereits am 22. Juli 2013 abgemeldet und später nicht wieder aufgenommen habe. Ihr habe jedoch ein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige ihrer Kinder zugestanden, die sich wegen des Aufenthaltsrechts des Kindesvaters in Deutschland haben aufhalten dür­fen. Insoweit sei sie nach dem europarechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz wie ein ausländischer Elternteil eines minderjährigen Deutschen zu behandeln.

 

Der Beklagte hat gegen das Urteil am 4. Juni 2020 Berufung eingelegt. Die Kinder der Klägerin und des damaligen Lebenspartners seien keine Deutschen. Die Klägerin könne auch aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz kein Aufenthaltsrecht herleiten. Dieser gelte lediglich unter dem Vorbehalt besonderer Bestimmungen und könne auf die besonderen Regelungen zum Aufenthaltsrecht keine Anwendung finden, da die europarechtlichen Vorschriften zum Aufenthaltsrecht sonst obsolet wären.

 

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. Mai 2020 aufzuheben und die gegen ihn gerichtete Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise den Beigeladenen zu verurteilen, ihr für die Monate April 2014 und Juni bis August 2014 Leistungen der Hilfe zum Le­bensunterhalt zu zahlen.

 

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

 

Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Be­teiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie auf die Verwal­tungsvorgänge des Beklagten, die vorgelegen haben und Grundlage der Entscheidung gewe­sen sind. 

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das Sozialgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Diese ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungs­klage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zuläs­sig. Der Klagegegenstand umfasst die Bescheide des Beklagten vom 1. Oktober 2014 jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2014 und der Änderungsbescheide vom 3. Dezember 2014, soweit damit der Leistungsantrag der Klägerin hinsichtlich der Monate April 2014 und Juni bis August 2014 abgelehnt wurde.

 

Der Klage bezüglich des Monats April 2014 steht nicht bereits die Bindungswirkung des den Leistungsantrag der Klägerin ablehnenden Bescheides vom 21. August 2014 entgegen (§ 77 SGG). Die Wirksamkeit dieses Bescheides entfiel durch den an­gefochtenen Bescheid vom 1. Oktober 2014 hinsichtlich des Monats April 2014. Der neue Bescheid ersetzte den alten Bescheid und eröffnet den Rechtsweg neu, was die entsprechende Rechtsbehelfsbelehrung belegt. Zum Erlass einer solchen die Altent­scheidung wiederholenden und ersetzenden Neuentscheidung (Zweitbescheid) war die Beklagte ohne Weiteres befugt (Bundessozialgericht, Urteil vom 7. April 2016, B 5 R 26/15 R, Rn. 21; Urteil vom 24. Februar 2011, B 14 AS 81/09 R, Rn. 15; Bundesver­waltungsgericht, Urteil vom 27. Februar 1963, V C 105.61, Rn. 28). Gegen die An­nahme einer lediglich wiederholenden Verfügung, die wegen fehlender Rechtsfolgen­setzung keine Regelung und damit kein Verwaltungsakt im Sinne des § 31 Satz 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) ist, spricht bereits, dass sich der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid an keiner Stelle auf die Bestandskraft seiner früheren Entscheidung berufen hat (Bundessozialgericht, Urteil vom 11. März 2009, B 6 KA 15/08 R, Rn. 10; Urteil vom 14. September 1989, 4 REg 7/88, Rn. 15; Bundes­verwaltungsgericht, Urteil vom 10. Oktober 1961, VI C 123.59, Rn. 13).

 

Die Klage ist auch begründet. Die in den angefochtenen Bescheiden enthaltenen Leis­tungsablehnungen hinsichtlich der Klägerin sind rechtswidrig. Die Klägerin hat ei­nen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Monate April 2014 und Juni bis August 2014. Die Anspruchsgrundlage findet sich in den §§ 7 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 1 SGB II in der damals geltenden Fassung vom 13. Mai 2011 (BGBl. I S. 850). Die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II waren in den streitigen Monaten erfüllt. Die Klägerin hatte die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht, war sowohl erwerbsfähig als auch hilfebedürftig und hatte ihren gewöhn­lichen Aufenthalt in Deutschland. 

 

Das Sozialgericht ist zutreffend von der Hilfebedürftigkeit der Klägerin ausgegangen. Das zu berücksichtigende Einkommen reichte nicht zur Deckung ihres Bedarfes aus.

Die im Mai 2014 erfolgte Kindergeldzahlung war nicht in der Folgezeit zu berücksich­tigen. Kindergeldzahlungen in Zeiträumen vor dem 1. August 2016 sind laufende Ein­nahmen, die gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB II nur im Monat des Zuflusses zu berück­sichtigen sind (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. Mai 2019, L 18 AS 2347/18, Rn. 20; Urteil vom 14. Mai 2020, L 32 AS 945/18, Rn. 60; Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 6. Dezember 2022, L 4 AS 939/20, Rn. 55; Landesso­zialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 27. Juni 2016, L 1 AS 4849/15, Rn. 37 ff., Landessozialgericht Hamburg, Urteil vom 25. Oktober 2019, L 4 AS 173/18, Rn. 19; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 9. November 2015, L 19 AS 924/15, Rn. 30). Dieser Auffassung steht nicht entgegen, dass der Gesetzgeber erst­malig zum 1. August 2016 in § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II bestimmt hat, dass zu den einmaligen Einnahmen auch als Nachzahlungen zufließende Einnahmen gehören, die nicht für den Monat des Zuflusses erbracht werden. In Rechtsstreitigkeiten über abge­schlossene Bewilligungsabschnitte ist das damals geltende Recht anzuwenden (Bun­dessozialgericht, Urteil vom 20. Februar 2014, B 14 AS 65/12 R, Rn. 9), so dass eine Neuregelung keine rückwirkende Anwendung, wenn es – wie hier – an einer speziellen Übergangsvorschrift mangelt. Der insofern maßgebliche § 80 SGB II ordnet nicht an, dass § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II schon für Zeiten vor seinem Inkrafttreten gelten soll (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. Mai 2020, L 32 AS 945/18, Rn. 54 ff.; Landessozialgericht Hamburg, Urteil vom 25. Oktober 2019, L 4 AS 173/18, Rn. 18).

 

Die Klägerin war nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der bis zum 28. De­zember 2016 geltenden Fassung (a. F.) von den Leistungen ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich al­lein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen ausgenom­men.

 

Die Klägerin verfügte jedenfalls über ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbür­gern (FreizügG/EU) in der vom 29. Januar 2013 bis zum 8. Dezember 2014 geltenden Fassung vom 21. Januar 2013 (BGBl. I S. 86). Danach sind Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen, unions­rechtlich freizügigkeitsberechtigt.

 

Die Klägerin kann sich nicht auf ein fortdauerndes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehme­rin nach § 2 Abs. 3  Satz 1 Nr. 2 oder Satz 2 FreizügG/EU berufen. Danach bleibt das Aufenthaltsrecht für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige bei unfreiwilliger durch die zustän­dige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbstän­digen Tä­tigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit unberührt. Zudem bleibt das Auf­enthaltsrecht bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Ar­beitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung während der Dauer von sechs Monaten unberührt. Jedenfalls fehlt es hier an der Bestätigung der zustän­digen Agentur für Ar­beit  über die unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Diese ist für das fort­dauernde Aufenthalts­recht grundsätzlich konstitutiv (Bundessozialgericht, Urteil vom 9. März 2022, B 7/14 AS 79/20 R, Rn. 27; Urteil vom 13. Juli 2017, B 4 AS 17/16 R, Rn. 34). Das Erfordernis gilt auch für Selbständige. Denn für die Frage des Freizügig­keitsrechts ist es ohne Belang, ob ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates eine wirtschaftliche Tätigkeit als Arbeitnehmer oder als Selbständiger ausübt (Gerichtshof der Europäi­schen Union, Urteil vom 5. Februar 1991, C-363/89, Rn. 24). Zudem müssen sich alle nicht mehr er­werbstätigen Unionsbürger dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellen (Ge­richtshof der Europäischen Union, Urteil vom 13. September 2018, C-618/16, Rn. 38). Im Übrigen ist auch kein Grund für eine Besserstellung von Selbstän­digen ersichtlich.

 

Eine Fortdauer des Aufenthaltsrechts als Selbständige kommt hier auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Schwangerschaft in Betracht. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union behält zwar eine Frau, die eine selbständige Tätigkeit wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt aufgibt, ihre Eigenschaft als Selbständige, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes diese Tätigkeit wieder aufnimmt oder eine andere selbständige Tätigkeit oder Beschäftigung findet (Urteil vom 19. September 2019, C-544/18, Rn. 39). Diese Voraussetzungen sind hier jedoch nicht erfüllt, da die Klägerin ihre selbständige Tätigkeit nicht im Spätstadium der Schwangerschaft aufgab, sondern schon am 22. Juli 2013. Zudem ist hat sie in ange­messenem Zeitraum nach der Geburt des Kindes keine Tätigkeit aufgenommen.

 

Die Klägerin hatte auch kein Aufenthaltsrecht als nicht erwerbstätige Unionsbürgerin aus § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU in Verbindung mit § 4 FreizügG/EU. Danach haben nicht erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Das war bei der Klägerin nicht der Fall.

 

Die Klägerin hatte auch kein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU in Verbindung mit § 3 Abs. 1 FreizügG/EU. Danach haben Fami­lienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürger das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Für Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU genann­ten Unionsbürger gilt dies nach Maßgabe des § 4 FreizügG/EU. Die Klägerin war als unverheiratete Partnerin des Herrn H keine Familienangehörige (Bundesso­zialgericht, Urteil vom 30. Januar 2013, B 4 AS 54/12 R, Rn. 33; Hailbronner, Auslän­derrecht, Stand: Juni 2023, § 2 FreizügG/EU, Rn. 85).

 

Offen bleiben kann hier die bisher ungeklärte Rechtsfrage (vgl. Bundesverfassungs­gericht, Beschluss vom 8. Juli 2020, 1 BvR 932/20, Rn. 15; Beschluss vom 4. Oktober 2019, 1 BvR 1710/18, Rn.13), ob ein Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 Satz 11 Frei­zügG/EU in der vom 1. September 2011 bis zum 23. November 2020 geltenden Fas­sung (a. F.) vom 12. April 2011 (BGBl. I S. 610) in Verbindung mit einer analogen Anwendung des für den Familiennachzug zu Deutschen geltenden § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) und mit dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Art. 18 Abs. 1 AEUV angenommen werden kann (verneinend: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. April 2022, L 18 AS 312/22 B ER, Rn. 8 ff.; Beschluss vom 17. März 2022, L 18 AS 232/22 B ER, Rn. 10 ff.; Urteil vom 9. Juni 2021, L 34 AS 850/17, Rn. 51 ff.; Beschluss vom 22. Mai 2017, L 31 AS 1000/17 B ER, Rn. 2 ff.; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16. November 2021, L 2 AS 438/21 B ER, Rn. 46 ff.; Hessisches Lan­dessozialgericht, Beschluss vom 24. Mai 2023, L 7 AS 26/23 B ER, Rn. 36; Beschluss vom 29. Juli 2021, L 6 AS 209/21 B ER, Rn. 140 ff.; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. Juli 2017, L 21 AS 782/17 B ER, Rn. 44 ff.; bejahend: Landessozialgericht Berlin-Branden­burg, Urteil vom 16. Mai 2023, L 1 AS 35/21, Rn. 47; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Juni 2023, L 7 AS 586/23 B ER, Rn. 19; Beschluss vom 30. Oktober 2018, L 19 AS 1472/18 B ER, Rn. 28 ff.; Landessozialgericht Baden-Würt­temberg, Urteil vom 25. Januar 2023, L 3 AS 3922/20, Rn. 83; Landessozialgericht Saarland, Urteil vom 7. September 2021, L 4 AS 23/20 WA, Rn. 35). 

 

Die Klägerin hatte jedenfalls ein Aufenthaltsrecht zur Wahrung der familiären Lebens­gemeinschaft mit ihren Kindern gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU a. F. in Ver­bindung mit § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Insoweit ist unschädlich, dass eine solcher Aufenthaltstitel nicht erteilt worden ist. Erforderlich ist nur eine fiktive Prüfung, ob ne­ben einem Aufenthaltsrecht allein zum Zwecke der Arbeitsuche auch andere Aufent­haltszwecke den Aufenthalt des Unionsbürgers im Inland rechtfertigen konnten (Bun­dessozialgericht, Urteil vom 30. Januar 2013, B 4 AS 54/12 R, Rn. 24).

 

Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU findet auf Unionsbürger und ihre Familienan­gehörigen, die – wie die Klägerin – nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU das Recht auf Ein­reise und Aufenthalt haben, unter anderem § 36 AufenthG entsprechende Anwen­dung. Nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann sonstigen Familienangehörigen eines Aus­länders zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.

 

Die Regelung des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist im Zusammenhang mit § 27 Abs. 1 AufenthG auszulegen. Danach wird die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wah­rung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familien­ange­hörige (Familiennachzug) zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 des Grund­gesetzes (GG) erteilt und verlängert. Die Regelung des § 27 AufenthG stellt selbst keine Ermächtigungsgrundlage für die Erteilung eines Auf­enthaltstitels dar. Sie trifft lediglich ergänzende und ausgestaltende Regelungen, für eine Erteilung nach den §§ 28, 29, 32, 36 AufenthG (Kluth, in Ehlers/Fehling/Pünder, Besonderes Verwaltungsrecht Band 3, 4. Auflage 2020, Der Aufenthalt aus familiären Gründen nach §§ 27 ff., Rn. 219).

 

Der persönliche Anwendungsbereich des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist hier bezüg­lich der Klägerin eröffnet. Der Begriff der sonstigen Familienangehörigen umfasst auch unverheiratete Elternteile, da diese keinem der sonst in Betracht kommenden Tatbe­stände des Familiennachzuges zuzuordnen sind (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30. Juli 2013, 1 C 15.12, Rn. 14; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Dezember 2018, 3 B 8.18, Rn. 23; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2023, § 36 AufenthG Rn. 10; Dienelt, in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 36 AufenthG Rn. 23; Oberhäuser, in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Auflage 2023, § 36 AufenthG Rn. 15).

 

Eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist hier eben­falls zu bejahen. Der Nachzug nach dieser Vorschrift ist auf seltene Ausnahmefälle beschränkt, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familien­einheit im Lichte des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG und des Art. 8 EMRK grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre. Eine außergewöhnliche Härte in diesem Sinne setzt grundsätzlich voraus, dass der schutz­bedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann, wobei gegebe­nenfalls unionsrechtliche Maßstäbe Berücksichtigung finden müssen. Ob dies der Fall ist, kann nur unter Berücksichtigung aller im Einzelfall relevanten, auf die Notwendig­keit der Herstellung oder Erhaltung der Familiengemeinschaft bezogenen konkreten Umstände beantwortet werden (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 8. Dezember 2022, 1 C 8.21, Rn. 23; Urteil vom 30. Juli 2013, 1 C 15/12Rn. 12; Urteil vom 18. April 2013, 10 C 9.12, Rn. 23).  

 

Zwar gewährt Art. 6 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Das Grundgesetz überantwortet die Entscheidung, in welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen Fremden der Zu­gang zum Bundesgebiet ermöglicht werden soll, weitgehend der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, wonach der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Aus­länders an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtge­mäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG da­rauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über die Auf­enthaltsberechtigung seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Perso­nen angemessen berücksichtigen. Art. 6 GG entfaltet ausländerrechtliche Schutzwir­kungen nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätz­lich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist. Der Schutz des Art. 6 GG gilt zwar zunächst und zuvorderst der Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Be­steht eine solche zwischen dem Ausländer und seinem Kind und kann sie nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange zurück. Bei der Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich aber eine schematische Einordnung als entwe­der aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemein­schaft oder Beistandsgemeinschaft oder aber bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen, zumal auch der persönliche Kontakt mit dem Kind in Ausübung eines Umgangsrechts unabhängig vom Sorgerecht Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit verbundenen Elternverantwortung ist und daher unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG steht. Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Per­sonen erbracht werden könnte. Es ist auch in Rechnung zu stellen, dass der spezifi­sche Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter entbehrlich wird. Eine verantwortungsvoll gelebte und dem Schutzzweck des Art. 6 GG entsprechende Eltern-Kind-Gemeinschaft lässt sich nicht allein quantitativ etwa nach Daten und Uhrzeiten des persönlichen Kontakts oder genauem Inhalt der einzelnen Betreuungshandlungen bestimmen. Die Entwicklung eines Kindes wird nicht nur durch quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geis­tige und emotionale Auseinandersetzung geprägt. Bei aufenthaltsrechtlichen Entschei­dungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönli­che Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vo­rübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass selbst der persönliche Kontakt des Kindes zu einem getrenntlebenden Elternteil und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient und das Kind beide Eltern braucht (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 8. Dezember 2005, 2 BvR 1001/04, Rn. 17 ff.).

 

Nach diesen Maßgaben ist hier festzustellen, dass die Verweigerung eines Aufent­haltsrechts der Klägerin zur Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit ihren Kindern unter Berücksichtigung des Art. 6 Abs. 1 GG unvertretbar gewesen wäre. Zwi­schen den Familienmitgliedern bestand durchgehend eine tatsächliche Verbunden­heit, die durch das Zusammenleben in einer Wohnung zum Ausdruck kam. Die Söhne der Klägerin – insbeson­dere der erst am 2. Januar 2014 in Deutschland geborene Sohn Erkan, der in den strei­tigen Monaten April 2014 und Juni bis August 2014 noch ein Säugling war – konnten in dieser Zeit kein eigenständi­ges Leben führen, sondern waren unabweisbar auf die Hilfe ihrer Mutter angewiesen.

 

Diese Hilfe konnte auch in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden. Sowohl der Kindesvater als auch die Kinder hatten ein Aufenthaltsrecht in Deutsch­land. Der Kindesvater hatte in den Zeiten seiner Beschäftigung vom 17. März 2014 bis zum 30. Mai 2014 sowie ab dem 10. Juli 2014 ein Aufenthaltsrecht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 Frei­zügG/EU a. F. als Arbeitnehmer. Dieses Aufenthaltsrecht setzt eine wirt­schaftli­che Tä­tigkeit voraus, die nur vorliegt, wenn es sich um eine tatsächliche und echte, also nicht völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit handelt (Gerichts­hof der Europäi­schen Union, Urteil vom 1. Februar 2017, C-392/15, Rn. 100; Urteil vom 20. November 2001, C-268/99, Rn. 33), was hier nach einer Gesamtbetrachtung aller Um­stände (tat­sächliche Entlohnung, Zeitumfang, Urlaubsanspruch, Lohnfortzahlung im Krankheits­fall) der Fall war (vgl. Bundessozialgericht, Urteil  vom 29. März 2022, B 4 AS 2/21 R, Rn. 19). In der Zeit seiner Arbeitslosigkeit vom 31. Mai 2014 bis zum 9. Juli 2014 hatte der Kindesvater neben dem bestehenden Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU a. F. zwar kein fortdauerndes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer aus § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU. Danach bleibt das Aufenthalts­recht für Ar­beitnehmer und selbständig Erwerbstätige bei unfreiwilliger durch die zu­stän­dige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbstän­digen Tä­tigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit unberührt. Insoweit fehlt es hier jedenfalls an der Bestätigung der zustän­digen Agentur für Ar­beit  über die unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Der Kindes­vater hatte jedoch in der Zeit der Arbeitslosigkeit ein abgeleitetes Aufent­haltsrecht aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 wegen des Schulbesuches der am 2. Feb­ruar 2003 geborene Tochter S. Danach können die Kinder eines Staatsangehö­rigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitglied­staats beschäf­tigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitglied­staats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufs­ausbildung teil­nehmen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäi­schen Union räumt Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 dem Kind im Zusam­menhang mit dessen Anspruch auf Zugang zum Unterricht ein eigenständiges Aufent­haltsrecht ein, das nicht davon abhängig ist, dass der Elternteil oder die Eltern, die die elterliche Sorge für sie wahrnehmen, weiterhin Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemit­gliedstaat sind. Ebenso wenig hat der Umstand, dass der betreffende Elternteil nicht mehr Wanderar­beitnehmer ist, Auswirkungen auf dessen Aufenthaltsrecht nach Art. 10 der Verord­nung (EU) Nr. 492/2011, das demjenigen des Kindes entspricht, für das er die elterli­che Sorge tatsächlich wahrnimmt (Urteil vom 6. Oktober 2020, C-181/19, Rn. 37; Urteil vom 23. Februar 2010, C-480/08, Rn. 37, 46, 50; Urteil vom 17. September 2002, C-413/99, Rn. 63, 70, 75). Die Söhne der Klägerin hatten in den streitigen Monaten ein von dem Kindes­vater abgeleitetes Aufenthaltsrecht als Fami­lienangehörige aus § 2 Abs. 2 Nr. 6 Frei­zügG/EU in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU.

 

Eine Rückkehr in die Heimat war hier rechtlich unzumutbar. Der Gerichtshof der Euro­päischen Union hat entschieden, dass dem Aufenthaltsrecht eines Elternteils mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats, der für einen minder­jährigen Unionsbürger tatsächlich sorgt, jede praktische Wirksamkeit genommen würde, wenn ihm nicht erlaubt würde, sich mit diesem Bürger im Aufnahmemitglied­staat aufzuhalten, da der Genuss des Aufenthaltsrechts durch ein Kleinkind voraus­setzt, dass sich die für das Kind tatsächlich sorgende Person bei diesem aufhalten darf und dass es ihr demgemäß ermöglicht wird, während dieses Aufenthalts mit dem Kind zusammen im Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen (Urteil vom 8. November 2012, C-40/11, Rn. 69; Urteil vom 19. Oktober 2004, C-200/02, Rn. 45). Zudem wäre auch das Aufenthaltsrecht der Söhne in seiner praktischen Wirksamkeit eingeschränkt worden, wenn sie faktisch ge­zwungen gewesen wären, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit der Klägerin zu verlassen (vgl. allgemein zur Auslegung der Unionsbürgerrichtlinie: Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 11. April 2019, C-483/17, Rn. 38; Urteil vom 5. Juni 2018, C-673/16, Rn. 39; Urteil vom 25. Juli 2008, C-127/08, Rn. 84; Urteil vom 11. Dezember 2007, C-291/05, Rn. 43).

 

Hier ist auch eine Ausnahme von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zu bejahen, wonach die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraussetzt, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Nach dem Konzept des Gesetzgebers gehört die Sicherung des Lebens­unterhalts zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltsti­tels. Ein Ausnahmefall liegt bei besonderen atypischen Umständen vor, die so bedeut­sam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel be­seitigen, aber auch dann, wenn die Erteilung des Aufenthaltstitels aus Gründen höher­rangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK geboten ist, zum Beispiel weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist. Ob ein Ausnah­mefall vorliegt, unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29. November 2012, 10 C 4.12, Rn. 36; Urteil vom 30. April 2009, 1 C 3.08, Rn. 14). Ein solcher Ausnahmefall ist gegeben, wenn – wie hier – eine außergewöhn­lichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG zu bejahen ist, weil die Fortführung der Familieneinheit im Ausland unzumutbar und deshalb eine Verletzung des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK an­zunehmen ist (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30. Juli 2013, 1 C 15.12, Rn. 22).

 

Der Klägerin und ihrer Familie stand auch ausreichender Wohnraum im Sinne von § 2 Abs. 4 AufenthG zur Verfügung (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Das Wohnraumerforder­nis muss auch beim Familiennachzug nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erfüllt sein. Als ausreichender Wohnraum wird nach § 2 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht mehr gefor­dert, als für die Unterbringung eines Wohnungssuchenden in einer öffentlich geförder­ten Sozialmietwohnung genügt. Der Wohnraum ist nach § 2 Abs. 4 Satz 2 AufenthG nicht ausreichend, wenn er den auch für Deutsche geltenden Rechtsvorschriften hin­sichtlich Beschaffenheit und Belegung nicht genügt (Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Dezember 2018, 3 B 8.18, Rn. 27). Das Mindestmaß ergibt sich in einigen Bundesländern aus landesrechtlichen Vorschriften der Wohnungsauf­sichtsgesetze, die Wohnungsmissstände, unter anderem die Überbelegung von Wohnraum, verhindern beziehungsweise ihnen vorbeugen sollen. So bestimmt bei­spielsweise § 7 Abs. 1 des Wohnungsaufsichtsgesetzes Berlin vom 3. April 1990 (GVBl. S. 1081), dass Wohnungen nur überlassen oder benutzt werden dürfen, wenn für jede Person eine Wohnfläche von mindestens 9 Quadratmetern, für jedes Kind bis zu sechs Jahren eine Wohnfläche von mindestens 6 Quadratmetern vorhanden ist (Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. August 2005, 7 B 24.05, Rn. 44). Da § 2 Abs. 4 AufenthG einen gerichtlich nur eingeschränkt überprüf­baren Beurteilungsspielraum einräumt, ist letztlich entscheidend darauf abzustellen, in welcher Weise die jeweilige Verwaltungspraxis diesen Spielraum ausschöpft. Nach Nr. 2.4.2 der vom Bundesministerium des Inneren erlassenen Allgemeinen Verwal­tungsvorschrift zum AufenthG vom 26. Oktober 2009 (GMBl. S. 178) ist ausreichender Wohnraum unbeschadet landesrechtlicher Regelungen stets vorhanden, wenn für je­des Familienmitglied über sechs Jahren 12 Quadratmetern und für jedes Familienmit­glied unter sechs Jahren 10 Quadratmetern Wohnfläche zur Verfügung stehen und Nebenräume (Küche, Bad, WC) in angemessenem Umfang mitbenutzt werden kön­nen. Eine Unterschreitung dieser Wohnungsgröße um etwa 10 Prozent ist unschädlich (Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20. November 2014, 2 B 13.12, Rn. 34-35; Urteil vom 25. März 2010, 3 B 9.08, Rn. 27). Die Wohnung der Klä­gerin und ihrer Familie genügte mit 52,31 Quadratmetern diesen Anforderungen. Bei Berücksichtigung von jeweils 12 Quadratmetern für die Klägerin, Herrn H  und dessen am 2. Februar 2003 geborene Tochter S sowie von jeweils 10 Quadrat­metern für die am 11. Februar 2009 beziehungsweise am 2. Januar 2014 geborenen Söhne E und E ergeben sich zunächst 56 Quadratmeter, woraus sich nach Abzug von 10 Prozent eine Mindestgröße von 50,4 Quadratmeter errechnet, die die Wohnfläche der vorhandenen Unterkunft unterschreitet.

 

Die Erteilung eines Aufenthaltstitels steht gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG grund­sätzlich im Ermessen der Ausländerbehörde. Ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaub­nis zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich, so ist deren Versa­gung im Rahmen des durch § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG eröffneten Ermessens nur durch gegenläufige Belange von überwiegendem Gewicht zu rechtfertigen. Fehlt es an derartigen Belangen, so ist das Ermessen der Ausländerbehörde auf Null reduziert und diese zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis verpflichtet (Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Dezember 2014, 18 A 1689/13, Rn. 26). Das ist hier aus den oben genannten Gründen der Fall (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 1. Juni 2023, L 32 AS 2002/19, Rn. 38; Oberverwaltungsge­richt Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3. Mai 2019, 11 N 89.18, Rn. 12).

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision ist nicht zuzulassen, da Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.

 

Rechtskraft
Aus
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