L 3 SB 2024/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3.
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 9 SB 248/22
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 2024/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. Die Abweisung einer Klage durch Gerichtsbescheid vor Ablauf einer vom Sozialgericht selbst für die Benennung eines bestimmten Arztes und Einzahlung des Kostenvorschusses nach § 109 Abs. 1 SGG gesetzten Frist stellt einen Verstoß gegen das Recht auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG und damit einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG dar.
2. Der Verzicht auf eine erneute Anhörung zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid begründet zudem einen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs und damit einen weiteren wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG.
3. Wenn ein Gericht eine Klage durch Gerichtsbescheid abweist, ohne dass die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 SGG vorgelegen haben, so stellt dies einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter und damit einen weiteren wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG dar.
4. Eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist gegeben, wenn sie einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen Mitteln erfordert; davon ist bereits auszugehen, wenn weitere Ermittlungen in der Form der Einholung zumindest einer gutachtlichen Stellungnahme geboten ist.

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 03.07.2023 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Berufungsverfahrens – an das Sozialgericht Ulm zurückverwiesen.


Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) streitig.

Der Beklagte hatte bei der 1962 geborenen Klägerin unter Zugrundelegung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme mit Bescheid vom 19.08.2013 den GdB mit 30 ab dem 15.05.2013 festgestellt.

Die Klägerin stellte am 13.01.2021 unter Vorlage ärztlicher Unterlagen einen Erhöhungsantrag. Daraufhin stellte der Beklagte unter Zugrundelegung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme mit Bescheid vom 15.04.2021 den GdB mit 40 ab dem 13.01.2021 fest. Den hiergegen eingelegten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte unter Zugrundelegung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme mit Widerspruchsbescheid vom 04.01.2022 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 12.01.2022 Klage zum Sozialgericht (SG) Ulm erhoben.

Das SG Ulm hat K1, R1, K2 und H1 schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. Die Klägerin hat weitere ärztliche Unterlagen vorgelegt. Der Beklagte hat unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme an einem GdB von 40 festgehalten.

Das SG Ulm hat mit seinem an die Klägerin am 21.04.2023 abgesandten und auf den „14.06.2023“ datierten Schreiben eine Frist zur Stellung eines Antrages nach § 109 SGG bis zum 20.04.2023 gesetzt. Daraufhin hat die Klägerin mit Schreiben vom 21.04.2023 um Klarstellung gebeten, ob hier eventuell das Datum des Schreibens mit dem Datum der Frist vertauscht worden sei. Sodann hat das SG Ulm mit Schreiben vom 21.04.2023 ausgeführt, es handele sich tatsächlich um ein Versehen des Gerichts, bei der Erstellung des „Schreibens vom 20.04.23“ sei das Datum vertauscht worden. Mit Schreiben vom 25.05.2023 hat das SG Ulm ausgeführt, das Gericht habe die Absicht, nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, da die Sache nach vorläufiger Prüfung der Sach- und Rechtslage keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweise und der Sachverhalt geklärt sei. Die Klägerin erhalte Gelegenheit, sich zu der beabsichtigten Verfahrensweise zu äußern. Eine Entscheidung werde nicht vor dem 03.07.2023 ergehen. Daraufhin hat die Klägerin mit Schreiben vom 14.06.2023 gemäß § 109 SGG beantragt, ein weiteres Gutachten einzuholen. Das Gutachten sei auf die Bereiche Rheumatologie und Psychiatrie zu erstrecken. Die Benennung der Gutachter sowie die Kostenerklärung würden nachgereicht. Insoweit werde vorsorglich um Fristverlängerung gebeten. Schon jetzt werde aber mitgeteilt, dass die Deckungszusage einer Rechtsschutzversicherung für dieses weitere Gutachten bestehe. Das SG Ulm hat sodann mit Schreiben vom 15.06.2023 ausgeführt, die mit „Verfügung vom 20.04.2023“ gesetzte Frist werde antragsgemäß bis zum 14.07.2023 verlängert.

Das SG Ulm hat mit Gerichtsbescheid vom 03.07.2023 ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter die Klage abgewiesen. Das Gericht könne vorliegend ohne mündliche Verhandlung nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweise und der Sachverhalt geklärt sei. Die zulässige Klage sei nicht begründet. Der Behinderungszustand habe sich gegenüber dem Bescheid vom 19.08.2013 insoweit verschlechtert, als ein GdB von 40 gegeben sei. Eine Höherbewertung scheide daher aus. Der vom Beklagten vorgelegten versorgungsärztlichen Stellungnahme sei zu folgen. Nachvollziehbar und schlüssig werde darin erläutert, dass eine Höherbewertung der verschiedenen Einzel-GdB-Werte nicht in Betracht komme. Zur Vermeidung von Wiederholungen werde hierauf Bezug genommen. Substantiierte Einwendungen habe die Klägerin hiergegen nicht vorgebracht.

Gegen den ihr am 03.07.2023 zugestellten Gerichtsbescheid des SG Ulm hat die Klägerin am 13.07.2023 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Es werde beantragt, G1 und R2 gemäß § 109 SGG gutachtlich zu hören. Mit der Berufung werde insbesondere die Verletzung rechtlichen Gehörs gerügt. Ihr sei eine Frist zur Stellungnahme und Stellung des Antrags gemäß § 109 SGG bis einschließlich zum 14.07.2023 gesetzt worden. Ohne vorherige Ankündigung sei vor Ablauf der ordnungsgemäß gesetzten Frist zur Stellungnahme der Gerichtsbescheid ergangen. Der Gerichtsbescheid sei auch inhaltlich unrichtig. Der Gesamt-GdB sei mit 40 nicht hinreichend bewertet.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 03.07.2023 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Ulm zurückzuverweisen, hilfsweise den Bescheid des Beklagten vom 15.04.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.01.2022 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, den GdB mit 50 ab dem 13.01.2021 festzustellen, höchst hilfsweise G1 und R2 gemäß § 109 SGG gutachterlich zu hören.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 03.07.2023 zurückzuweisen.

Der Vorwurf der Verletzung rechtlichen Gehörs dürfe zutreffend sein, nachdem zuletzt eine Frist bis zum 14.07.2023 zur Antragstellung nach § 109 SGG eingeräumt worden sei. In der Sache werde die angefochtene Entscheidung nach Aktenlage für zutreffend gehalten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

1. Die nach § 143 und § 144 SGG statthafte sowie nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist zulässig.

2. Die Berufung der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des angegriffenen Gerichtsbescheides des SG Ulm vom 03.07.2023 und einer Zurückverweisung der Sache an das SG Ulm begründet.

2.1 Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und aufgrund dieses Mangels eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

2.2 Das Verfahren vor dem SG Ulm leidet an Verfahrensmängeln im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG.

2.2.1 Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift. Erfasst sind Fehler auf dem Weg zum Urteil, grundsätzlich nicht Fehler der Entscheidung selbst (Adolf in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 159 [Stand: 15.06.2022] Rn. 17; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 144 Rn. 32, § 159 Rn. 3, Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 160 Rn. 16a; Binder in Berchtold, SGG, 6. Auflage 2021, § 159 Rn. 7; vergleiche LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.12.2020 – L 4 R 1223/20, juris Rn. 33). Hierunter fallen unter anderem die Nichtbeachtung oder fehlerhafte Ablehnung eines Antrags nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 109 Rn. 20, § 144 Rn. 32, 34; Roller in Berchtold, SGG, 6. Auflage 2021, § 109 Rn. 34; Wehrhahn in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 144 [Stand: 21.11.2023] Rn. 42; BSG, Urteil vom 20.04.2010 – B 1/3 KR 22/08 R, juris Rn. 26; BSG, Urteil vom 24.06.1969 – 10 RV 282/66, juris Rn. 18, 22; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 17.05.2018 – L 3 R 77/18, juris Rn. 21), die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 62 Rn. 11, § 144 Rn. 34; Littmann in Berchtold, SGG, 6. Auflage 2021, § 62 Rn. 10; Senger in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 62 [Stand: 24.10.2023] Rn. 43) und die Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter (Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 105 [Stand: 15.12.2023], Rn. 13; Roller in Berchtold, SGG, 6. Auflage 2021, § 105 Rn. 22; BSG, Urteil vom 16.03.2006 – B 4 RA 59/04 R, juris Rn. 13, 14).

2.2.2 Das SG Ulm hat das Recht der Klägerin auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG in der bis zum 31.12.2023 geltenden Fassung (a. F.) nicht beachtet.

Nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. muss auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann nach § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG a. F. davon abhängig gemacht werden, dass der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt. Das Gericht kann nach § 109 Abs. 2 SGG a. F. einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist.

§ 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. begründet für die dort näher bezeichneten Berechtigten abweichend von § 103 Satz 2 SGG das antragsabhängige Recht darauf, dass das Gericht einen bestimmten Arzt gutachtlich hört, wenn ein erhebliches und einer medizinischen Beurteilung zugängliches Beweisthema betroffen ist, das Antragsrecht nicht verbraucht ist und kein Fall des § 109 Abs. 2 SGG a. F. vorliegt (BSG, Urteil vom 20.04.2010 – B 1/3 KR 22/08 R, juris Rn. 12).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Die Klägerin ist, da nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können, Menschen mit Behinderungen sind und bei der Klägerin nach den aktenkundigen ärztlichen Unterlagen Behinderungen vorliegen, für die mit Bescheid vom 15.04.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.01.2022 ein GdB von 40 festgestellt worden ist, ein behinderter Mensch und damit Berechtigte im Sinne des § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. Die Klägerin hatte, nachdem das SG Ulm mit dem an sie am 21.04.2023 abgesandten und auf den „14.06.2023“ datierten Schreiben in Verbindung mit seinem Schreiben vom 21.04.2023 eine Frist zur Stellung eines Antrages nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. bis zum 15.06.2023 gesetzt hatte, mit Schreiben vom 14.06.2023 und damit innerhalb der vom SG Ulm gesetzten Frist einen Antrag nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. gestellt.
Bei den geltend gemachten Behinderungen und dem hierfür zu vergebenden GdB handelt es um ein erhebliches und einer medizinischen Beurteilung zugängliches Beweisthema. Das Antragsrecht der Klägerin nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. war auch nicht verbraucht, da bis dahin kein Gutachten nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. eingeholt worden war. Anhaltspunkte dafür, dass der Antrag in der Absicht gestellt worden ist, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist, hat der Senat nicht, so dass auch kein Fall des § 109 Abs. 2 SGG a. F. vorliegt.

Das SG Ulm hat den nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG gestellten Antrag der Klägerin nicht beachtet, indem es die Klage der Klägerin mit dem am 03.07.2023 erlassenen Gerichtsbescheid abgewiesen hat, ohne vorher das beantragte Gutachten eingeholt und die für die Benennung der Gutachter sowie die Einreichung der Kostenübernahmeverpflichtungserklärung gesetzte und mit Schreiben vom 15.06.2023 bis zum 14.07.2023 verlängerte Frist abgewartet zu haben.

2.2.3 Das SG Ulm hat auch das Recht der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt.

Nach Art. 103 Abs. 1 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Nach der speziellen Ausformung durch § 62 Halbsatz 1 SGG ist vor jeder Entscheidung den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren. Zur Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör hat der Gesetzgeber den Grundsatz der mündlichen Verhandlung als eine der Prozessmaximen des sozialgerichtlichen Verfahrens ausgestaltet. Eine Verletzung des Rechts auf Gehör liegt vor, wenn das Sozialgericht ohne ordnungsgemäße Anhörungsmitteilung durch Gerichtsbescheid entscheidet (Roller in Berchtold, SGG, 6. Auflage 2021, § 105 Rn. 22; Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 105 [Stand: 15.12.2023] Rn. 116; vergleiche LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.12.2020 – L 4 R 1223/20, juris Rn. 46, 47).

Das Gericht kann nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind nach § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG vorher zu hören.

Das Gericht muss den Beteiligten mitteilen, dass es eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid in Betracht zieht und dass sich die Beteiligten dazu äußern können. Wesentlich ist, dass die Beteiligten erkennen können, dass das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden möchte, damit sie darauf reagieren können. Wegen des Verbots von Überraschungsentscheidungen muss es auf Tatsachen und Rechtsfragen hinweisen, die bisher im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren nicht erörtert worden sind (Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 105 [Stand: 15.12.2023] Rn. 62-70; Roller in Berchtold, SGG, 6. Auflage 2021, § 105 Rn. 12; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 105 Rn. 10). Eine Anhörungsmitteilung ist in der Regel nur einmal erforderlich. Einer nochmaligen Mitteilung bedarf es aber, wenn sich die Prozesssituation wesentlich geändert hat. Das Gericht muss dann die Anhörungsmitteilung wiederholen und über das unverändert beabsichtigte Verfahren unterrichten (Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 105 [Stand: 15.12.2023] Rn. 81; Roller in Berchtold, SGG, 6. Auflage 2021, § 105 Rn. 11; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 105 Rn. 11).

Das SG Ulm hat die Klägerin nicht ordnungsgemäß zu der Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Die Anhörungsmitteilung des SG Ulm mit Schreiben vom 25.05.2023 hat diesen Anforderungen nicht mehr genügt. Denn zu dem Zeitpunkt der tatsächlichen Entscheidung des SG Ulm durch Gerichtsbescheid vom 03.07.2023 hat eine im Vergleich zu dieser Anhörungsmitteilung wesentlich veränderte Prozesssituation vorgelegen, da die Klägerin nach dieser Anhörungsmitteilung mit Schreiben vom 14.06.2023 einen Antrag nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. gestellt hatte sowie die für die Benennung der Gutachter sowie die Einreichung der Kostenübernahmeverpflichtungserklärung gesetzte und bis zum 14.07.2023 verlängerte Frist noch offen gewesen ist und die Klägerin deshalb nicht hat damit rechnen müssen, dass vor Ablauf dieser Frist durch Gerichtsbescheid entschieden werden könnte. Ihr ist damit der – in der Berufung dann auch tatsächlich vorgebrachte – Einwand abgeschnitten gewesen, dass die Voraussetzungen einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid mangels Sachverhaltsklärung nicht gegeben waren.

2.2.4 Das SG Ulm war bei der Entscheidung über die Klage nicht ordnungsgemäß besetzt.

Nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 SGG in der bis zum 31.12.2023 geltenden Fassung (a. F.) wird jede Kammer des Sozialgerichts in der Besetzung mit einem Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Richtern als Beisitzern tätig. Nach § 12 Abs. 1 Satz 2 SGG a. F. wirken bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung und bei Gerichtsbescheiden die ehrenamtlichen Richter nicht mit.

Das SG Ulm hat nach § 12 Abs. 1 Satz 2 SGG a. F. durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter mittels Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entschieden, obwohl die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 SGG für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht vorgelegen haben.

Die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 SGG für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid haben nicht vorgelegen, da zum einen – wie oben bereits dargelegt – eine ordnungsgemäße Anhörung im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht erfolgt ist. Zum anderen fehlt es entgegen § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG daran, dass der Sachverhalt geklärt ist. Der Sachverhalt ist noch nicht geklärt, da der Beweisantrag der Klägerin auf Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. aus den oben genannten Gründen noch offen ist. Die Klägerin hat im Berufungsverfahren an ihrem Vorbringen ausdrücklich festgehalten und die Gutachter benannt.

Dadurch hat das SG Ulm der Klägerin entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ihren gesetzlichen Richter, nämlich die Kammer nach § 12 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. in der Besetzung mit einem Vorsitzenden und zwei ehrenamtlichen Richtern als Beisitzern, entzogen (Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 105 [Stand: 15.12.2023] Rn. 113; Roller in Berchtold, SGG, 6. Auflage 2021, § 105 Rn. 22). Die vom Gesetz bestimmte Mitwirkung ehrenamtlicher Richter ist ein tragender Grundsatz des sozialgerichtlichen Verfahrens, der in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten ist. Die Kompetenz, hiervon abweichend allein zu entscheiden, setzt voraus, dass die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 SGG erfüllt sind, weil es sich insoweit auch um eine Ausnahme von der Grundregelung des § 124 Abs. 1 SGG handelt, wonach das Gericht aufgrund mündlicher Verhandlung entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist (LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 13.05.2014 – L 3 VE 4/13, juris Rn. 44, 45; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.05.2011 – L 13 SB 49/11, juris Rn. 24; vergleiche LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.12.2020 – L 4 R 1223/20, juris Rn. 53, 54).

2.3 Die Verfahrensmängel sind wesentlich im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG.

Wesentlich ist der Verfahrensmangel, wenn das Urteil oder der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts auf ihm beruhen kann. Bei der Beurteilung ist auf die Rechtsansicht des Sozialgerichts abzustellen. Es liegt also kein Verfahrensfehler vor, wenn das Sozialgericht Ermittlungen unterlassen hat, auf die es nach seiner Rechtsauffassung zum materiellen Recht nicht ankam. Bei Verfahrensfehlern, die absolute Revisionsgründe im Sinne des § 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 547 ZPO sind, beruht das Urteil oder der Gerichtsbescheid stets auf dem Verfahrensmangel (Adolf in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 159 [Stand: 15.06.2022] Rn. 19; Binder in Berchtold, SGG, 6. Auflage 2021, § 159 Rn. 7; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 159 Rn. 3a).

Verstößt das Gericht durch Nichteinholung eines Gutachtens gegen § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F., so ist dies ein wesentlicher Verfahrensmangel (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 109 Rn. 20; Roller in Berchtold, SGG, 6. Auflage 2021, § 109 Rn. 34; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 17.05.2018 – L 3 R 77/18, juris Rn. 25, 26; Bayerisches LSG, Urteil vom 10.08.2017 – L 17 U 400/16, juris Rn. 31). Denn bei Einholung eines Gutachtens gemäß § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. ist nicht auszuschließen, dass das SG Ulm zu einem anderen Ergebnis in seinem mit der Berufung angegriffenen Gerichtsbescheid gekommen wäre. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein anderer Gutachter mit einer überzeugenden Begründung zu der Einschätzung eines höheren GdB gekommen wäre. Der ergangene Gerichtsbescheid des SG Ulm kann daher auf der verfahrensfehlerhaften Nichteinholung des Gutachtens gemäß § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. beruhen (vergleiche LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.12.2020 – L 4 R 1223/20, juris Rn. 57). Nichts anderes, gilt, wenn das Sozialgericht – jedenfalls nachdem zuvor ein Antrag nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. gestellt worden war – den Ablauf der Frist für die Benennung der Gutachter sowie die Einreichung der Kostenübernahmeverpflichtungserklärung nicht abgewartet hat.

Auch der unter Verstoß des § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG begangene Anhörungsmangel und der damit verbundene Verstoß gegen das Recht der Klägerin auf rechtliches Gehör ist wesentlich. Denn wäre die Klägerin ordnungsgemäß angehört worden, hätte sie erfolgreich geltend machen können, dass die Voraussetzungen einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht vorliegen (vergleiche LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.12.2020 – L 4 R 1223/20, juris Rn. 58).

Die fehlerhafte Besetzung der Kammer allein mit dem Vorsitzenden wegen der nicht ordnungsgemäßen Anhörung zum Gerichtsbescheid und des Fehlens der Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 SGG stellen einen absoluten Revisionsgrund im Sinne des § 202 SGG in Verbindung mit § 547 Abs. 1 Nr. 1 ZPO dar. Denn nach § 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 547 Nr. 1 ZPO ist eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war (Groß in Berchtold, SGG, 6. Auflage 2021, § 12 Rn. 15 zur gesetzeswidrigen Besetzung mit ehrenamtlichen Richtern; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 12 Rn. 12; Nguyễn in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 12 [Stand: 15.06.2022] Rn. 84; BSG, Beschluss vom 24.02.2016 – B 13 R 341/15 B, juris, Rn. 6; BSG, Beschluss vom 17.11.2015 – B 1 KR 65/15 B, juris Rn. 8; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 13.05.2014 – L 3 VE 4/13, juris Rn. 44; vergleiche LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.12.2020 – L 4 R 1223/20, juris Rn. 59).

2.4 Aufgrund dieser wesentlichen Verfahrensmängel ist eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG.

Eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme ist gegeben, wenn sie einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen Mitteln erfordert (Bundestags-Drucksache 17/6764, S. 27, zu Art. 8 Nr. 8). Davon ist auszugehen, wenn weitere Ermittlungen in der Form der Einholung zumindest einer gutachtlichen Stellungnahme geboten ist. Denn schon mit der Einholung eines solchen (ergänzenden) Gutachtens ist typischerweise der Einsatz erheblicher sächlicher und mit Blick auf die Auswertung und Bewertung auch erheblicher personeller Mittel verbunden. Zudem kann dies gegebenenfalls auch weitere Ermittlungen nach sich ziehen (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.09.2022 – L 8 R 1633/22, juris Rn. 56; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 12.05.2021 – L 8 R 3419/20, juris Rn. 41; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.07.2020 – L 8 R 736/20, juris Rn. 46; Bayerisches LSG, Urteil vom 05.06.2019 – L 17 U 340/18, juris Rn. 31; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 17.05.2018 – L 3 R 77/18, juris Rn. 27; Bayerisches LSG, Urteil vom 12.10.2017 – L 17 U 208/17, juris Rn. 27; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09.03.2017 – L 13 SB 273/16, juris Rn. 21; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.03.2016 – L 8 R 710/15, juris Rn. 46; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14.01.2016 – L 27 R 824/15, juris Rn. 14; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 27.08.2014 – L 5 U 6/14, juris Rn. 82; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 13.05.2014 – L 3 VE 4/13, juris Rn. 49; vergleiche LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.12.2020 – L 4 R 1223/20, juris Rn. 60; vergleiche auch Binder in Berchtold, SGG, 6. Auflage 2021, § 159 Rn. 7; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 159 Rn. 4; anderer Ansicht: Adolf in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 159 [Stand: 15.06.2022] Rn. 21; vergleiche zu der Frage, ob es sich bei noch einzuholenden medizinischen Gutachten
um „erhebliche“ Ermittlungen im Sinne des § 131 Abs. 5 Satz 1 SGG handelt: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 17.06.2020 L 3 SB 13/20, juris Rn. 38).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Denn auf den aufrecht erhaltenen Antrag der Klägerin nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG a. F. wäre von den nun im Berufungsverfahren von ihr benannten Ärzten mindestens ein Arzt gutachtlich zu hören.

2.5 Der Senat hat das durch § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ihm eröffnete Ermessen dahingehend ausgeübt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und den Rechtsstreit an das SG Ulm zurückzuverweisen.

Ob bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen eine Zurückverweisung erfolgt, steht im Ermessen des Berufungsgerichts. Dieses muss zwischen den Interessen der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung einerseits und dem Verlust einer Instanz andererseits abwägen. Dabei ist auch der Ausnahmecharakter der Vorschrift zu berücksichtigen (Adolf in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Auflage, § 159 [Stand: 15.06.2022] Rn. 24; Binder in Berchtold, SGG, 6. Auflage 2021, § 159 Rn. 8; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 159 Rn. 5, 5a, 5b; vergleiche LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 11.12.2020 – L 4 R 1223/20, juris Rn. 62).

In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer möglichst schnellen Sachentscheidung und dem Grundsatz der Prozessökonomie einerseits sowie dem Verlust einer Instanz andererseits hält es der Senat vorliegend für angezeigt, den Rechtsstreit an das SG Ulm zurückzuverweisen. Dabei berücksichtigt der Senat, dass die Berufung der Klägerin erst seit Juli 2023 in der Berufungsinstanz anhängig ist. Der Klägerin entsteht durch die Zurückverweisung somit kein wesentlicher zeitlicher Nachteil. Auch ist der Rechtsstreit aus den genannten Gründen nicht entscheidungsreif. Zudem kann nicht außer Acht bleiben, dass die Klägerin die Nichtbeachtung ihres Rechts nach § 109 SGG a. F. erstinstanzlich wegen des Verstoßes gegen das Recht auf rechtliches Gehör noch nicht hat rügen können und die Entscheidung durch Gerichtsbescheid zu Recht gerügt hat. Der Verlust einer Instanz würde daher besonders schwer wirken. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin die Zurückverweisung ausdrücklich beantragt und der Beklagte hiergegen keine Einwendungen erhoben hat.

3. Aufgrund des Erfolgs des Hauptantrags ist über die Hilfsanträge nicht mehr zu befinden.

4. Eine Kostenentscheidung war durch den Senat nicht zu treffen. Diese ist – einschließlich der Entscheidung über die Kosten des vorliegenden Berufungsverfahrens – der abschließenden Entscheidung des SG Ulm vorbehalten, da das erstinstanzliche Verfahren fortgesetzt wird (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 159 Rn. 5f).

5. Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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