S 18 KA 96/23

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 18 KA 96/23
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung tritt durch die vom Arzt angegebenen Abrechnungsdiagnosen keine Präklusion des weiteren Tatsachenvortrages ein. Es sind vielmehr sämtliche – im Verwaltungsverfahren vorgelegte – Behandlungsunterlagen zu prüfen (Anschluss an SG Marburg, Urteil vom 19.06.2019, S 17 KA 409/17).

Ergibt sich aus der im Verwaltungsverfahren vorgelegten Behandlungsdokumentation eindeutig die Wirtschaftlichkeit der zulassungskonformen Verordnung, kann nur wegen einer ungenauen Codierung weder ein Regress noch eine schriftliche Beratung wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise verhängt werden.
 


Der Beschluss des Beklagten vom 14.03.2023 wird aufgehoben.

Der Beklagte hat die Gerichtskosten sowie die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer schriftlichen Beratung aufgrund der Verordnung von Tecfidera in den Quartalen I/18 bis III/18.

Der Kläger war in der Zeit vom 01.10.1993 bis zum 30.09.2020 in einer Einzelpraxis als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in A-Stadt niedergelassen und nahm in dieser Zeit an der vertragsärztlichen Versorgung teil.

Mit Schreiben vom 28.11.2019 beantragte die Audi BKK gegenüber der Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen in Hessen (im Folgenden nur Prüfungsstelle) die Festsetzung eines Regresses in Höhe von 4.697,06 € für das Quartal I/18 aufgrund der Verordnung von Tecfidera für den Patienten D. K., geb. 1997.

Die Prüfungsstelle leitete den Antrag an den Kläger weiter, der hierzu Stellung bezog und auf die der Krankenkassen vorliegenden Diagnosen verwies. Diese seien Periphere Fazialisparese rechts vom idiopathischen Typ (G51.0G), Augenbewegungsstörung (H51.8G), Koordinationsstörung links (R27.8G), Hypertonie (I10.90G) und Encephalomyelitis disseminata (G35.9). 

Im Januar 2018 sei bei dem Patienten der Verdacht auf eine entzündliche ZNS-Erkrankung (Enzephalomyelitis) bei Diplopie und Augenbewegungsstörung gestellt worden. Am 03.02.2018 seien die vollständigen Liquorbefunde eingegangen. Bei positiven oligoklonalen Banden sei in Zusammenschau der Gesamtbefundlage eine Encephalomyelitis disseminata bestätigt worden. Eine entsprechende Schubprophylaxe mit Tecfidera sei nach Aufklärung des Patienten begonnen worden. Bei guter Verträglichkeit und Wirksamkeit habe die Therapie beibehalten werden können. Auch durch den Verlauf sei die Diagnose der schubförmigen Multiplen Sklerose und die Indikation zur Schubprophylaxe mit Tecfidera seit 03/2918 erneut bestätigt worden. Lediglich bei der Dokumentation der Diagnosen sei versäumt worden, direkt die Verdachtsdiagnose in eine gesicherte Diagnose umzuwandeln.

Die Krankenkasse hielt an ihrem Antrag fest, da die Praxis im Verordnungsquartal keine der zugelassenen Diagnosen auf der Arztrechnung abgegeben hätte.

Mit Bescheid vom 08.12.2020 (Bl. 33 bis 37 der Verwaltungsakte) setzte die Prüfungsstelle betreffend den Verordnungen von Tecfidera in den Quartalen I/18, II/18 und III/18 eine schriftliche Beratung fest. Zur Begründung verwies sie auf die Zulassung des Präparats Tecfidera (Wirkstoff: Dimethyl fumarat), die für die Behandlung von erwachsenen Patienten mit schubförmig remittierender Multipler Sklerose bestehe.

Nach Durchsicht der vorliegenden Behandlungsausweisen sei bei dem Patienten D. K. (geb. 1997) in den Quartalen I/18 bis III/18 die folgende Diagnose nachweislich dokumentiert worden: 
-    Sonstige näher bezeichnete Störungen der Blickbewegungen
-    Sonstige und nicht näher bezeichnete Koordinationsstörungen
-    Enzephalitis, Myelitis und Encephalomyelitis, nicht näher bezeichnet
-    Sonstige näher bezeichnete zerebrovaskuläre Krankheiten
-    Essentielle Hypertonie, n. näher bezeichnet, ohne Angabe einer hypertensiven Krise

Sie habe aus den Behandlungsausweisen des Patienten damit keine zulassungskonformen Diagnosen entnehmen können. In der Stellungnahme vom 21.01.2020 habe der Kläger aber nachvollziehbar mitgeteilt, dass der antragsgegenständliche Patient unter einer schubförmig remitierenden Multiplen Sklerose leide. Aufgrund der Stellungnahme und dem eingereichten Auszug aus der Patientenakte erkenne sie die Therapie als leitliniengerecht an. Sie stelle fest, dass für die Multiple Sklerose eigene ICD-Codes existieren würden, welche die geforderten Diagnosen eindeutiger darstellen würden. Sie verweise auf die bestehenden Dokumentationspflichten und vertrete die Auffassung, dass der Kläger die Diagnose „Multiple Sklerose“ nicht in ausreichendem Maße gegenüber der Krankenkasse dokumentiert habe. Sie erachte jedoch eine schriftliche Beratung im Sinne des § 13 hessische Prüfvereinbarung als ausreichend, um eine korrekte Verordnung sicherzustellen. Nach Inkrafttreten des Bescheides werde sie zukünftig bei fehlender Dokumentation der zulässigen Diagnosen, einen entsprechenden Regress des Gesamtbetrages vornehmen.

Der Kläger legte gegen den Bescheid Widerspruch ein. Anwaltlich vertreten begründete er diesen mit Schreiben vom 18.01.2021 und wies darauf hin, dass sich weder aus § 57 Abs. 1 BMV-Ä noch aus § 10 AM-RL oder aus § 10 (Muster-) Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte die von der Prüfungsstelle geforderte Begründungstiefe für die von geforderten ICD-Codes ergeben würde. Notwendig sei alleine, dass der Arzt die Behandlungsmaßnahmen ausreichend dokumentiere, was er hier getan hätte. Die Prüfungsstelle gebe in dem Bescheid keine Rechtsgrundlage an, wonach er in der von ihr geforderten Begründungstiefe die ICD-Codes angeben müsse. Es fehle schlicht eine Ermächtigungsgrundlage für den belastenden Bescheid, der deshalb aufzuheben sei.

Der Beklagte entschied über den Widerspruch in seiner Sitzung am 09.11.2022 und wies diesen mit Beschluss vom 14.03.2023 zurück (Bl. 59 bis 65 der Verwaltungsakte). Zur Begründung verwies er – wie schon die Prüfungsstelle – auf die Zulassung des Präparats und die nachgewiesenen Diagnosen. Er weise darauf hin, dass den angegebenen Diagnosen eine zulassungskonforme Indikation für Tecfidera nicht zu entnehmen sei. Für die Kodierung der multiplen Sklerose würden eigene ICD-10-Codes vorliegen, die zu verwenden seien. Die Dokumentation innerhalb der Praxis sei ordnungsgemäß erfolgt, jedoch habe die Dokumentation, dass der antragsgegenständliche Patient unter einer multiplen Sklerose leide, gegenüber der Krankenkasse und der Kassenärztlichen Vereinigung nicht stattgefunden.

Anschließend hat der Kläger anwaltlich vertreten am 22.03.2023 Klage erhoben.

Das Gericht hat mit Beschluss vom 24.03.2023 die Kassenärztliche Vereinigung Hessen, die sechs Verbände der Krankenkassen in Hessen sowie die antragstellende Krankenkasse zum Verfahren beigeladen.

In seiner Klagebegründung bemängelt der Kläger, dass in keinem der beiden Bescheide angegeben worden sei, warum im konkreten Einzelfall hier ein Regress bzw. anstatt eines Regresses eine Beratung, die nichts anderes als die Vorstufe eines Regresses sei, festgesetzt werde. 

Aus den Vorschriften der Beklagten ergebe sich eine Pflicht zur Begründung, auch die Pflicht zur Begründung mit ICD-Codes, es ergebe sich aber nicht die Begründungstiefe, die im Einzelnen angewendet werden müsse. Der Arzt müsse lediglich die Behandlungsmaßnahmen ordnungsgemäß – eben mit ICD-Codes – dokumentieren. Dies habe er auch getan. Die Prüfungsstelle gebe nicht einmal an, welche ICD-Codes hätten verwendet werden müssen. Die Bescheide seien schon deshalb rechtswidrig, weil eben keine konkrete Begründung abgegeben worden sei, aus der man habe ableiten können, wie im vorliegenden Fall zu codieren gewesen wäre, welche Fehler er gemacht habe bei der Codierung und aus welchen Vorschriften sich die konkrete Codierung ergeben würde.

Er weise auch darauf hin, dass die von ihm gewählte Codierung derjenigen entsprechen würde, die jahrzehntelang akzeptiert worden sei.

Der Kläger beantragt,
den Beschluss des Beklagten vom 14.03.2023 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt.

Der Beklagte hat zur Begründung auf die angegriffenen Bescheide verwiesen. Ergänzend trägt er vor, der Kläger habe es versäumt, die für die Verordnung des Tecfidera notwendige Erkrankung „schubförmig remittierende Multiple Sklerose“ in den Behandlungsscheinen unter Anführung der entsprechenden ICD-10-Codierung G35.1 „Multiple Sklerose mit vorherrschend schubförmigen Verlauf“ zu dokumentieren und zu übermitteln. Demzufolge liege ein Verstoß gegen die dem Kläger obliegende Dokumentationspflicht vor. Die Tatsache, dass der Beklagte nicht die konkrete ICD-10 Codierung G35.1 angegeben habe, führe nicht zu einem Begründungsmangel des Bescheides.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.


Entscheidungsgründe

Die Kammer hat in der Besetzung mit einer ehrenamtlichen Richterin aus den Kreisen der Vertragsärzte und einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). 

Sie konnte dies trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beigeladenen zu 1) bis 8) tun, weil diese ordnungsgemäß geladen worden sind.

Die Klage ist gemäß § 54 Abs. 1 Var. 1 SGG als isolierte Anfechtungsklage zulässig. 

Die Klage ist daneben auch begründet. Der Beschluss des Beklagten vom 14.03.2023 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die von dem Beklagten festgesetzte schriftliche Beratung ist aufzuheben.

Gegenstand des Verfahrens ist nur der Bescheid des Beklagten, nicht auch der der Prüfungsstelle. In Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Dieser wird mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Sein Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt der Prüfungsstelle, der abweichend von § 95 SGG im Fall der Klageerhebung nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird (stRspr des BSG, vgl. BSGE 78, 278, 280).

Im System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nimmt der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Arzt - Vertragsarzt - die Stellung eines Leistungserbringers ein. Er versorgt die Mitglieder der Krankenkassen mit ärztlichen Behandlungsleistungen, unterfällt damit auch und gerade dem Gebot, sämtliche Leistungen im Rahmen des Wirtschaftlichen zu erbringen. Leistungen, die für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, darf er nach dem hier anzuwendenden Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch, gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) nicht erbringen.

Die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung sind nach geltender Rechtslage berechtigt, Arzneikostenregresse wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise festzusetzen. Rechtsgrundlage für die Festsetzung von Verordnungsregressen ist § 106 Abs. 2, Abs. 3 SGB V. Danach wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung unter anderem durch die arztbezogene Prüfung ärztlicher verordneter Leistungen nach § 106b SGB V geprüft. Gemäß § 106 Abs. 1 Satz 2 vereinbaren die Landesverbände der Krankenkassen und die Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen Inhalt und Durchführung der Beratungen und Prüfungen nach Absatz 2 sowie die Voraussetzungen für Einzelfallprüfungen. Dies geschieht im Wesentlichen durch die Prüfvereinbarung, hier in der Fassung mit Wirkung vom 01.01.2017. Nach der hier maßgeblichen prüft die Prüfungsstelle auf Antrag, ob der Arzt im Einzelfall mit seinen Arzneiverordnungen oder Verordnungen über Heilmittel gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen hat (§ 13 Abs. 1 PV). Anträge müssen innerhalb von 12 Monaten nach Ablauf des Verordnungsquartals vorliegen (§ 13 Abs. 2 PV).

Prüfgegenstand ist die arznei- bzw. verordnungsbezogene Überprüfung der Verordnungsweise nach den gesetzlichen Bestimmungen bzw. nach den Arzneimittel-Richtlinien oder Heil-Richtlinien, insbesondere hinsichtlich

- Preiswürdigkeit der verordneten Arzneimittel/Heilmittel unter Berücksichtigung des therapeutischen Nutzens
- Mehrfachverordnungen für pharmakologisch oder therapeutisch gleichsinnig wirkende Arzneimittel
 - Verordnung von Arzneimitteln und Arzneimittelgruppen mit umstrittener Wirksamkeit
 - Mehrfachverordnung bei med. therap. gleichsinnig wirkenden Heilmitteln und deren Zielsetzung
- Verordnungsmengen, Verordnungsabständen, Verordnungsumfang
- Durchführung bzw. Veranlassung der weiterführenden Diagnostik
- Beachtung der Vorschriften innerhalb/außerhalb des Regelfalls
 - Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots hinsichtlich der Verordnung von Hausbesuchen
- Wirtschaftlichkeit der Verordnungen im Einzelfall (§ 13 Abs. 4 PV).

Soweit die Prüfungsstelle im Einzelfall eine Unwirtschaftlichkeit festgestellt hat, setzt sie den vom Arzt erstatteten Regressbetrag fest. Erscheint eine gezielte schriftliche oder persönliche Beratung ausreichend, ist diese nur zulässig, wenn innerhalb von 24 Monaten vor dem Quartal, für das der Prüfantrag gestellt wurde, keine derartige Maßnahme verfügt wurde (§ 13 Abs. 5 PV).

Versicherte können nach allgemeinen Grundsätzen Versorgung mit verschreibungspflichtigen Fertigarzneimitteln wie Tecfidera zur Krankenbehandlung regelmäßig nur bei indikationsbezogener Zulassung beanspruchen (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Fall 1 i. V. m § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V).

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst u.a. die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Fall 1 SGB V). Versicherte können Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zu Lasten der GKV nur beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 3, § 12 Abs. 1 SGB V) dagegen nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BSGE 96, 153 - D-Ribose; BSGE 97, 112 - Ilomedin; BSG, Urteil vom 27.03.2007 - B 1 KR 30/06 R - Cannabinol; BSGE 111, 168 – Avastin).

Die hier verordneten Präparate Tecfidera 120 mg und Tecfidera 240mg waren zum Zeitpunkt der Verordnung ausschließlich für die Behandlung von erwachsenen Patienten mit schubförmig remittierender Multipler Sklerose zugelassen.

Zur Überzeugung der Kammer erfolgten die streitgegenständlichen Verordnungen im Rahmen der Zulassung. Bereits die Prüfungsstelle räumt in ihrem Bescheid vom 08.12.2020 ein, dass sich aus der Stellungnahme des Klägers und der vorgelegten Patientenakte ergibt, dass der Patient D. K. unter einer schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose leidet. Ähnlich die Ausführungen im Bescheid des Beklagten vom 14.03.2023, wonach die Dokumentation innerhalb der Praxis ordnungsgemäß erfolgt sei.

Es ist zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass der Patient D. K. unter einer schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose litt und die Verordnung von Tecfidera zu deren Behandlung erfolgte.

Beanstandet wird von dem Beklagte alleine, dass die Dokumentation gegenüber der Krankenkasse und der Kassenärztlichen Vereinigung nicht ausreichend gewesen sei. Dabei übernimmt er die Argumentation der Prüfungsstelle, die in ihrem Bescheid vom 08.12.2020 einzig das Fehlen der zulassungskonformen Diagnosen auf den Behandlungsscheinen monierte.

In den Behandlungsausweisen dokumentierte der Kläger die folgenden Diagnosen:

-    H51.8 G: Sonstige näher bezeichnete Störungen der Blickbewegungen
-    R27.8 G: Sonstige und nicht näher bezeichnete Koordinationsstörungen
-    G04.9 V: Enzephalitis, Myelitis und Encephalomyelitis, nicht näher bezeichnet
-    I67.88 V: Sonstige näher bezeichnete zerebrovaskuläre Krankheiten
-    I10.90 G: Essentielle Hypertonie, n. näher bezeichnet, ohne Angabe einer hypertensiven Krise

Dem Beklagten ist zuzugestehen, dass sich den Behandlungsscheinen nicht die Diagnose der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose entnehmen lässt. Laut der einschlägigen ICD-10-Codierung hätte hierfür G35.1 (Multiple Sklerose mit vorherrschend schubförmigen Verlauf) verwendet werden müssen.

Das Fehlen der ordnungsgemäßen Codierung führt aber nicht dazu, dass hier von einer unwirtschaftlichen Behandlung im Sinne von § 13 PrüfV auszugehen ist. Denn die Verordnung von Tecfidera erfolgte vorliegend innerhalb der Zulassung.

Zur Überzeugung der Kammer liegt kein Verstoß gegen die ärztlichen Dokumentationspflichten vor, da sich den vom Kläger erstellten Behandlungsdokumenten ohne Probleme die Diagnose der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose entnehmen lässt. 

Die allgemeine medizinische Dokumentationspflicht ist eine dem Arzt dem Patienten gegenüber obliegende Pflicht. Sie bestimmt sich nach rein medizinischen Notwendigkeiten, die ihrerseits sachverständiger Überprüfung zugänglich sind. Auf die Dokumentation können sich sowohl Patient als auch Behandler zu ihren Gunsten berufen: was nicht dokumentiert ist, aber hätte dokumentiert werden müssen, gilt als nicht geschehen; umgekehrt ist einer zeitnahen und vollständigen, äußerlich unverdächtigen ärztlichen Dokumentation grundsätzlich Glauben zu schenken.

Der durch das Patientenrechtegesetz eingeführte § 630f BGB verpflichtet den Behandelnden, zum Zweck der Dokumentation in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Behandlung eine Patientenakte in Papierform oder elektronisch zu führen.

(vgl. ausführlicher zu den vorstehenden Ausführungen, SG Marburg, Urteil vom 13.09.2017, S 12 KA 349/16, Rn. 50, 51 Juris m. w. N.).

Entsprechend sieht § 23 Nr. 4 hessisches Heilberufsgesetz und § 10 Berufsordnung der hessischen Ärztekammer (vom 26.03.2019, zuletzt geändert am 30.11.2021, zitiert nach www.laekh.de) eine Dokumentationspflicht vor. Die berufsrechtliche Norm statuiert eine Pflicht zur ausführlichen und sorgfältigen Dokumentation der ärztlichen Behandlung. Sie obliegt demjenigen Arzt, der die Behandlung des Patienten verantwortlich übernommen hat. Jeder Arzt, der eine dokumentationspflichtige Maßnahme durchführt, trägt demnach auch die Verantwortung für deren Dokumentation. Zweck der Dokumentationspflicht ist die Therapiesicherung, daneben auch die Beweissicherung und Rechenschaftslegung. Die Dokumentation soll insb. eine sachgerechte (Weiter-) Behandlung des Patienten gewährleisten, indem sie jeden mit- und nachbehandelnden Arzt in die Lage versetzt, sich über durchgeführte Maßnahmen und die angewandte Therapie kundig zu machen. Dies gilt in besonderer Weise für Berichte über durchgeführte Operationen, die wichtige Informationen über das gebotene postoperative Vorgehen vermitteln. In zeitlicher Hinsicht hat die Dokumentation in unmittelbarem Zusammenhang mit der Behandlung oder dem Eingriff zu erfolgen, jedenfalls aber in einem Zeitraum, in dem dem Arzt die Einzelheiten der Behandlung noch präsent sind (vgl. LandesberufsG für Heilberufe Münster, Urteil vom 25.11.2015 - 6t A 2679/13.T - Juris Rn. 39 ff.). Eine inhaltlich unrichtige Darstellung der ärztlichen Maßnahmen verletzt die Dokumentationspflicht. Die Aufzeichnungen haben Urkundencharakter und müssen oftmals noch nach Jahren nachvollziehbar und beweiskräftig sein (vgl. Berufsgericht für Heilberufe Berlin, Urteil vom 25.06.2014 - 90 K 2.12 T - Juris Rn. 20). Eine Dokumentation ist berufsrechtlich unzureichend, wenn sie ohne Erläuterungen des Arztes aus sich heraus für einen anderen Arzt nicht verständlich ist (vgl. VG Berlin, Urteil vom 23.05.2012 - 90 K 1.10 T - Juris Rn. 41).

Das Vertragsarztrecht baut auf den allgemeinen Dokumentationspflichten auf und begründet weitere Dokumentationspflichten. Insofern kann insbesondere das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot (§§ 2 Abs. 1 Satz 1, 12 Abs. 1, 70 Abs. 1 Satz 2, 92. Abs. 1 Satz 1, 106 SGB V) und die Sicherung der Qualität der Leistungserbringung (§§ 2 Abs. 1 Satz 3, 135 SGB V ff.) Grundlage weitergehender Dokumentationspflichten sein (SG Marburg, S 12 KA 349/16, a.a.O.). Allgemein bestimmt § 294 SGB V als Pflichten der Leistungserbringer: „Die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und die übrigen Leistungserbringer sind verpflichtet, die für die Erfüllung der Aufgaben der Krankenkassen sowie der Kassenärztlichen Vereinigungen notwendigen Angaben, die aus der Erbringung, der Verordnung sowie der Abgabe von Versicherungsleistungen entstehen, aufzuzeichnen und gemäß den nachstehenden Vorschriften den Krankenkassen, den Kassenärztlichen Vereinigungen oder den mit der Datenverarbeitung beauftragten Stellen mitzuteilen.“

Nach § 295 Abs. 1 SGB V gilt für die Abrechnung ärztlicher Leistungen eine Verpflichtung der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen, an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen aufzuzeichnen und zu übermitteln, u. a.
2. in den Abrechnungsunterlagen für die vertragsärztlichen Leistungen die von ihnen erbrachten Leistungen einschließlich des Tages der Behandlung, bei ärztlicher Behandlung mit Diagnosen, bei zahnärztlicher Behandlung mit Zahnbezug und Befunden,
3. in den Abrechnungsunterlagen sowie auf den Vordrucken für die vertragsärztliche Versorgung ihre Arztnummer, in Überweisungsfällen die Arztnummer des überweisenden Arztes und bei der Abrechnung von Leistungen nach § 73 Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 die Arztnummer des Arztes, bei dem der Termin vermittelt wurde, sowie die Angaben nach § 291a Absatz 2 Nummer 1 bis 10 maschinenlesbar.

§ 295 Abs. 3 SGB V ermächtigt die Bundesmantelvertragsparteien und den Bewertungsausschuss zu weitergehenden Regelungen. Danach vereinbaren die Vertragsparteien der Verträge nach § 82 Abs. 1 und § 87 Abs. 1 als Bestandteil dieser Verträge das Nähere über
1. Form und Inhalt der Abrechnungsunterlagen für die vertragsärztlichen Leistungen,
2. Form und Inhalt der im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung erforderlichen Vordrucke,
3. die Erfüllung der Pflichten der Vertragsärzte nach Absatz 1,
4. die Erfüllung der Pflichten der Kassenärztlichen Vereinigungen nach Absatz 2, insbesondere auch Form, Frist und Umfang der Weiterleitung der Abrechnungsunterlagen an die Krankenkassen oder deren Verbände,
5. Einzelheiten der Datenübermittlung einschließlich einer einheitlichen Datensatzstruktur und der Aufbereitung von Abrechnungsunterlagen nach den §§ 296 und 297.

Nach § 57 Abs. 1 Bundesmantelvertrag (BMV-Ä) hat der Vertragsarzt die Befunde, die Behandlungsmaßnahmen sowie die veranlassten Leistungen einschließlich des Tages der Behandlung in geeigneter Weise zu dokumentieren. 

§ 10 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie / AM-RL) wiederum lautet:
Abs. 1: Arzneimittel oder Arzneimittelgruppen, deren Verordnung nach dieser Richtlinie eingeschränkt oder ausgeschlossen ist (§ 16 und § 17), sind in der Übersicht über die Verordnungseinschränkungen und -ausschlüsse nach § 16 Absatz 3 zusammengestellt (Anlage III der Richtlinie). Soweit die Verordnung von Arzneimitteln oder bei Arzneimittelgruppen die Verordnung für einzelne Arzneimittel aufgrund der jeweils genannten Ausnahmetatbestände zulässig ist, ist die Therapieentscheidung nach den Vorgaben der Übersicht nach § 16 Absatz 3 zu dokumentieren. Soweit die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt ein Arzneimittel nach § 16 Absatz 5 ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen verordnet, ist die Begründung für diese Therapieentscheidung in der Patientenakte zu dokumentieren.
Abs. 2: Die Dokumentation erfolgt im Sinne von § 10 (Muster-) Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte. Im Regelfall genügt die Angabe der Indikation und gegebenenfalls die Benennung der Ausschlusskriterien für die Anwendung wirtschaftlicher Therapiealternativen, soweit sich aus den Bestimmungen der Richtlinie nichts anderes ergibt.

§ 10 Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä) enthält die folgenden Anforderungen:
(1) Ärztinnen und Ärzte haben über die in Ausübung ihres Berufes gemachten Feststellungen und getroffenen Maßnahmen die erforderlichen Aufzeichnungen zu machen. Diese sind nicht nur Gedächtnisstützen für die Ärztin oder den Arzt, sie dienen auch dem Interesse der Patientin oder des Patienten an einer ordnungsgemäßen Dokumentation. 
(2) Ärztinnen und Ärzte haben Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen grundsätzlich in die sie betreffenden Krankenunterlagen Einsicht zu gewähren; ausgenommen sind diejenigen Teile, welche subjektive Eindrücke oder Wahrnehmungen der Ärztin oder des Arztes enthalten. Auf Verlangen sind der Patientin oder dem Patienten Kopien der Unterlagen gegen Erstattung der Kosten herauszugeben. 
(3) Ärztliche Aufzeichnungen sind für die Dauer von zehn Jahren nach Abschluss der Behandlung aufzubewahren, soweit nicht nach gesetzlichen Vorschriften eine längere Aufbewahrungspflicht besteht. 
(4) Nach Aufgabe der Praxis haben Ärztinnen und Ärzte ihre ärztlichen Aufzeichnungen und Untersuchungsbefunde gemäß Absatz 3 aufzubewahren oder dafür Sorge zu tragen, dass sie in gehörige Obhut gegeben werden. Ärztinnen und Ärzte, denen bei einer Praxisaufgabe oder Praxisübergabe ärztliche Aufzeichnungen über Patientinnen und Patienten in Obhut gegeben werden, müssen diese Aufzeichnungen unter Verschluss halten und dürfen sie nur mit Einwilligung der Patientin oder des Patienten einsehen oder weitergeben. 
(5) Aufzeichnungen auf elektronischen Datenträgern oder anderen Speichermedien bedürfen besonderer Sicherungs- und Schutzmaßnahmen, um deren Veränderung, Vernichtung oder unrechtmäßige Verwendung zu verhindern. Ärztinnen und Ärzte haben hierbei die Empfehlungen der Ärztekammer zu beachten.

Den aufgeführten Vorschriften lässt sich zwar entnehmen, dass der Vertragsarzt seine Therapieentscheidung zu dokumentieren hat, ein Vorrang der kodierten Diagnosen dergestalt, dass eine Ungenauigkeit oder ein Fehler an dieser Stelle nicht über die restliche Behandlungsdokumentation ausgeglichen bzw. korrigiert werden kann, lässt sich den Vorschriften hingegen nicht entnehmen. Durch die vom Arzt angegebenen Abrechnungsdiagnosen tritt keine Präklusion des weiteren Tatsachenvortrages ein (vgl. SG Marburg, Urteil vom 19.06.2019, S 17 KA 409/17, Rn. 92 unter Bezugnahme auf SG Berlin, Urteil vom 09.01.2019, S 87 KA 77/18). 

Vielmehr sind für die Wirtschaftlichkeitsprüfung sämtliche – vom Kläger im Verwaltungsverfahren vorgelegten – Behandlungsunterlagen heranzuziehen und zu untersuchen. Erst wenn sich in der Gesamtschau der vorgelegten Unterlagen eine unwirtschaftliche Verordnung ergibt, ist der Beklagte berechtigt einen Regress oder wie hier eine schriftliche Beratung festzusetzen. Eine Trennung wie sie der Beklagte vornimmt zwischen Praxisdokumentation und Dokumentation gegenüber der Krankenkasse und der Kassenärztlichen Vereinigung, ergibt sich nicht aus den gesetzlichen Vorschriften. Eine solche Trennung ist nach Auffassung der Kammer auch nicht angezeigt.

Vorliegend lässt sich den vorgelegten Behandlungsunterlagen entnehmen, dass der Kläger Tecfidera innerhalb der Zulassung verschrieben hat. Dem stehen die von ihm angegebenen Diagnosen in den Behandlungsscheinen nicht entgegen. Zwar lässt sich der Codierung nicht die Diagnose der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose entnehmen. Die stattdessen codierte Enzephalitis, Myelitis und Enzephalomyelitis, nicht näher bezeichnet (G04.9) ist letztendlich aber der Oberbegriff der Multiplen Sklerose, die eine spezielle Form der Enzephalomyelitis darstellt. Ein Widerspruch zwischen den codierten Diagnosen und der Behandlungsdokumentation, die eindeutig eine Behandlung der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose belegt, liegt hier im Ergebnis nicht vor.

Die Verordnung war demzufolge wirtschaftlich und kann nicht als Grundlage für die Festsetzung einer schriftlichen Beratung herangezogen werden.

Der streitgegenständliche Bescheid des Beklagten vom 14.03.2023 ist daher aufzuheben.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 197a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO und folgt der Entscheidung in der Hauptsache. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten von Beigeladenen ist nicht veranlasst, weil diese im Verfahren keine Anträge gestellt haben.

Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus §§ 143, 144 SGG.
 

Rechtskraft
Aus
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