Der Bescheid der Beklagten vom 17.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.06.2022 wird geändert.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab Rentenantragstellung am 03.06.2020 die volle Rente wegen Erwerbsminderung auf Dauer nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in vollem Umfang.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Klägers auf Erwerbsminderungsrente , § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).
Der am 00.00.1969 geborene Kläger brach eine nach Schulabschluss aufgenommene Ausbildung zum Gesellen im Metzgerhandwerk ab. Er war sodann langjährig als angelernter Schlachthof-Mitarbeiter erwerbstätig. Im Jahr 2002 wechselte er zu einer Straßenbaufirma und arbeitet dort nach eigenen Angaben zuletzt bis 2016 als Facharbeiter für Straßenmarkierung. In der Folgezeit ab 2016 war er angesichts fortgeschrittener Boreliose-Erkrankung, bedingt mutmaßlich durch Zeckenbiss-Ereignis im Jahr 2011, nicht mehr versicherungspflichtig im Arbeitsleben tätig. Er bezieht derzeit Bürgergeld-Leistungen des Jobcenters, also Grundsicherung nach dem SGB II. Ein Grad der Behinderung (GdB) nach dem SGB IX von 20 ist vom Kreis T. als Versorgungsamt anerkannt, nach Aktenlage soweit ersichtlich jedoch nicht höher.
Der Kläger stellte am 02.06.2020 einen Rentenantrag wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten und verwies zur Begründung auf die Borreliose, Rippenfrakturen, Bluthochdruck, Osteoporose, grünen Star, Gelenkschmerzen, metabolisches Syndrom, Vitamin B12- und D3-Mangel, Schweißausbrüche, extremen Leistungsverlust und psychische Beeinträchtigungen. Der Antrag wurde - nach orthopädischer Begutachtung des Klägers durch Dr. F. am 16.10.2020 auf Veranlassung der Beklagten - durch diese schließlich mit Bescheid vom 17.11.2020 als unbegründet zurück gewiesen.
Dem widersprach der Kläger am 30.11.2020 mit der wesentlichen Begründung, dass wegen der verschiedenen körperlichen Erkrankungen allein schon seine berufliche Leistungsfähigkeit erheblich eingeschränkt sei. Zusätzlich bestehe jedoch auch eine seelische Erkrankung. Diese würde in einer Anpassungsstörung und einem chronifizierten Fatigue-Syndrom bestehen. Auch dies beeinträchtige die Leistungsfähigkeit. Insgesamt resultiere aus alledem ein Leistungsvermögen von unter 3 Stunden täglich. Die Beklagte zog daraufhin noch weitere medizinische Befunde bei und veranlasste schließlich eine 6-tägige ambulante Begutachtung des Klägers bei dem Begutachtungs-Auftragnehmer „N.“. Mit Bericht vom 09.03.2022 führten dazu die dortigen Medizinerinnen Frau Dr. S. und Frau M. Sc. B. gutachterlich für die Beklagte aus, es sei in den nun erhobenen psychischen Befunden keine depressive Störung oder sonstige krankhafte Auffälligkeit festgestellt worden. Als Diagnosen nannten sie: Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren; Verschleiß der Lendenwirbelsäule; Bluthochdruck mit daraus folgender Herzkrankheit, Herzrhythmusstörungen; Adipositas; beginnender Hüftgelenksverschleiß beidseits; Fingerpolyarthrose; Zustand nach Borreliose durch Zeckenbiss 2011; Kapselreizung des Kniegelenks beidseits; Sehnenspiegelansatzreizung rechter Ellenbogen.. In der sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung wurde für den Kläger ein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von 6 Stunden werktäglich sowie im Beruf des Schlachters von unter 3 Stunden attestiert. Es wurde eine Überprüfung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie die Einschaltung eines Integrationsfachdienstes angeraten. Die Beklagte wies auf der Grundlage den Rechtsbehelf durch Widerspruchsbescheid vom 22.06.2022 als unbegründet zurück.
Dagegen richtet sich diese am 08.07.2022 bei dem Sozialgericht (SG) N. erhobene Klage. Der Kläger ist der Auffassung, er sei vollständig und auf Dauer erwerbsgemindert. Denn er könne unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht regelmäßig und vollwertig erwerbstätig sein, insbesondere nicht mehr zumindest mehr als 3 St bzw. mehr als 6 Stunden werktäglich arbeiten.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 17.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.06.2022 zu ändern und ihm ausgehend vom Antrag auf Erwerbsminderung vom 03.06.2020 die Rente wegen Erwerbsminderung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält ihre Entscheidung weiterhin für zutreffend. Namentlich den Einschätzungen des vom Gericht im Rahmen der Amtsermittlung gehörten psychiatrisch/psychotherapeutischen Sachverständigen Dr. F. aus S. zur Leistungsminderung des Klägers ist die Beklagte zuletzt noch unmittelbar vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 08.01.2024 mit beraterärztlicher Stellungnahme der Ärztin für Psychiatrie und Sozialmedizin Frau N. vom 03.01.2024 entgegengetreten. Diese Ärztin sieht sich im Übrigen durch die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung im Bericht nach der mehrtägigen sog. „teilstationären“ Begutachtung vom 19.12.2021 bis 23.12.2021 bei dem Auftragnehmer „N.“ für die Beklagte, Entlassungsbericht vom 09.03.2022, bestätigt.
Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte, insbesondere Hausärztin, Kardiologen, HNO-fachlich sowie bildgebend MRT- und CT-Befunde, betreffend den Kläger eingeholt. Sodann wurde er gemäß §§ 103,106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gutachterlich untersucht. Im Rahmen der medizinischen Ermittlungen hat das Gericht dazu Gutachten eingeholt von Dr. F., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Recklinghausen, vom 25.08.2023, nach Untersuchung des Klägers dort am 04.08.2023, sowie des Orthopäden Dr. M., T., vom Oktober 2023 nach Untersuchung des Klägers am 08.09.2023. Nach dessen gutachterlicher Einschätzung kann der Kläger eine körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeit noch 6 Stunden und mehr am Tag ausüben. Jedoch benötige er mehr als eine halbstündige/2 viertelstündige Pausen , dahingehend, dass er über einen Zeitraum von 6-8 Stunden eine halbstündige und 2-3 viertelstündige Pausen absolvieren müsse. Es sei aber schwierig, dies nach der kurzen Zeit (ambulanter Untersuchung) abschließend genau anzugeben. Auch nach dem Gerichtsgutachten des Dr. F. kann der Kläger nur noch körperlich leichte Tätigkeiten verrichten. Angesichts der klinischen Befunde könne eine solche körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeit noch 6 Stunden und mehr am Tag ausgeübt werden. Wahrscheinlich sei es dabei notwendig, dass der Kläger mehr als 2 viertelstündige Pausen bei der Arbeit einhalte, was aber nach einmaliger ambulanter Untersuchung nicht genau quantifiziert werden könne. Wegen der weiteren Einzelheiten beider Gutachten wird auf deren Inhalte verwiesen.
Hinsichtlich der übrigen Einzelheiten des Sach- und Streitsandes wird auf den Inhalt dieser rein elektronisch geführten Gerichtsakte sowie der 2 Bände Verwaltungsakten der Beklagten, die in der mündlichen Verhandlung und bei der Entscheidungsfindung der Kammer vorlagen, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist wie tenoriert begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 17.11.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.06.2022 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in eigenen Rechten. Denn der Kläger hat ein Recht auf die Rente wegen voller Erwerbsminderung ab Antragstellung Anfang Juni 2020.
Rechtsgrundlage dafür ist § 43 Abs. 2 SGB VI. Volle Erwerbsminderung besteht gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI bei einem Leistungsvermögen von unter drei Stunden. Aus den Gesetzesmaterialien sowie dem Regelungsgehalt des Rechtes der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit folgt, dass Versicherte auch dann voll erwerbsgemindert sind, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein und ihr Restleistungsvermögen aus arbeitsmarktbedingten Gründen nicht auf einem Teilzeitarbeitsplatz verwerten können, sog. konkrete Betrachtungsweise. Denn auch nach dem Gesetz vom 20. Dezember 2000 zur Neufassung der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit hat sich der Gesetzgeber nicht von der Berücksichtigung der konkreten Arbeitsmarktlage verabschiedet, allg. Auffassung, vgl. nur Gesetzesmaterialien des Deutschen Bundestages BT-Drucks. 14/4230, Seite 23, 25f; Gürtner in : Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, SGB VI, § 43 Rn 4, 30ff; Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) in DRV 2-3/2002, S. 96, 136ff.
Hinsichtlich der gesundheitlichen Einschränkungen bestehen danach folgende Diagnosen/Beschwerdebilder beim Kläger: Von Seiten des psychiatrischen Fachgebiets eine Anpassungsstörung vor dem Hintergrund schwerer körperlicher Erkrankung. Im Übrigen müsse davon ausgegangen werden, dass nicht ein Zustand nach Borreliose besteht, sondern vielmehr einer Borreliose im Spätstadium bestehe. Dr. Lauber führt in seinem Gutachten aus: Von Seiten des orthopädischen Fachgebietes bestehe ein Schmerzsyndrom der Lendenwirbelsäule bei verschleißbedingten Veränderungen; beginnender Hüftgelenkverschleiß beidseits; Kapselbandreizung beider Kniegelenke bei Varusfehlstellung ohne funktionelle Einschränkung; reizloser Zustand nach kindlich operativ versorgtem Oberarmbruch links; Fingergelenks-Polyarthrose beidseits mit endgradigen feinmotorischen Einschränkungen; aktenkundige Osteopenie . Allgemeinmedizinisch/internistische ergänzt er nach Befundlage noch Folgendes : Adipositas; arterielle Hypertonie; Hypercholesterinämie sowie Nikotinabusus.
Hierauf Bezug nehmend, kann der Kläger nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme zwar noch qualitativ zumutbare körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten mindestens sechs Stunden werktäglich ausüben. Dies ergibt sich für die Kammer aus einer Gesamtbewertung der widerspruchsfreien, sich ergänzenden und bestätigenden sowie nachvollziehbaren medizinischen Bewertungen in den beiden von Amts wegen eingeholten Gutachten Darin wird im Einzelnen von den Sachverständigen Dr. F. und Dr. M. insoweit übereinstimmend ausgeführt, vom Kläger könnten noch leichte körperliche Tätigkeiten durchgeführt werden. Hauptgrund hierfür sei die benannte Borreliose im Spätstadium mit ausgeprägter Erschöpfbarkeit. Er kann nur Lasten von weniger als 10 kg heben und tragen. Und auch dies sollte nicht dauerhaft vom zu Begutachtenden verlangt werden. Es können Arbeiten im Stehen, Gehen und Sitzen durchgeführt werden. Überwiegen sollten dabei Tätigkeiten im Sitzen. Es genügt ein gelegentlicher Haltungswechsel. Arbeiten im Knien, Hocken und gebückter Haltung sollten dem zu Begutachtenden nicht mehr abverlangt werden. Bücken sei kurzzeitig möglich. Über Kopf- und Überschulter-Arbeiten könnten prinzipiell durchgeführt werden, seien aber als Dauerbelastung aufgrund der schnellen Erschöpfbarkeit zu vermeiden. Arbeiten in Zwangshaltungen könnten nicht durchgeführt werden, ebenso wenig Gerüst- und Leiterarbeiten. Das gelegentliche Treppensteigen ist möglich, dass Steigen auf kurze Regalleitern, ist als Dauerbelastung jedoch auch nicht möglich. Der Kläger als Rechtshänder beschrieb am Untersuchungstag beim Hauptgutachter eine verminderte Handkraft beidseits, rechts mehr als links, bedingt durch die Finger-Polyarthrose. Diese Kraftminderung konnte sich in der Form aber nicht klar nachhalten lassen. Glaubhaft nachvollziehen kann der Hauptgutachter die Schilderung, dass es intermittierend zu Schwellungen der Hände käme. Arbeiten im Freien und Arbeit mit Umwelteinflüssen sind nicht mehr möglich, jedoch Arbeiten an laufenden Maschinen. Arbeiten in Wechsel- und Nachtschicht sind nicht mehr möglich. Dies ist bedingt durch die Spätborreliose, mit Erschöpfbarkeit und unregelmäßigen Nachtschlaf mit intermittierend auftretenden Müdigkeitsphasen. Es können Tätigkeiten mit zeitweisem bis überwiegendem Publikumsverkehr durchgeführt werden. Zudem kann der Kläger festgelegte Termine einhalten, er kann jedoch nicht unter Zeitdruck arbeiten wie zum Beispiel bei Akkord- und Fließbandarbeit. Bei durchschnittlicher Intelligenz können geistig mittelschwierige Arbeiten verrichtet werden. Bei festgestellter unterdurchschnittlicher Sorgfaltsleistung und diskontinuierlich Arbeitsweise mit erheblich eingeschränkter Konzentrationsleistung sind nur Arbeiten mit geringen Anforderungen an die geistigen Fähigkeiten der Konzentration, Reaktion, Übersichten Aufmerksamkeit durchführbar. Zudem sind nur Arbeiten mit durchschnittlichen Anforderungen an Verantwortungsbewusstsein, Zuverlässigkeit und geistiger Beweglichkeit durchführbar. Eine Visus-Minderung ist durch die Brille erfolgreich ausgeglichen. Eine Minderung des Gehörs liegt nicht vor. Bildschirmarbeit ist möglich, die umgangssprachliche Verständigung ist möglich. Die Wegefähigkeit ist im Übrigen erhalten, der Kläger kann viermal täglich etwas mehr als 500 m in etwas weniger als 20 Minuten zurücklegen, zudem öffentliche Verkehrsmittel ohne Begleitperson auch zu den Hauptverkehrszeiten benutzen. Bedenken hinsichtlich der Fahreignung bestehen nicht.
Ausgehend von alledem kann der Kläger dem Grunde nach körperlich leichte Tätigkeiten noch 6 Stunden und mehr am Tag ausüben, sofern die o.g. Einschränkungen berücksichtigt werden. Allerdings benötige er mehr als eine halbstündige / 2 viertelstündige Pausen. Über einen Zeitraum von 6-8 Stunden halten beide Sachverständige eine halbstündige und 2 bis 3 viertelstündige Pausen für nötig. Die Einschränkungen des qualitativen und teils quantitativen Leistungsvermögens bestünden auch seit dem Juni 2020. Wesentliche zwischenzeitliche Veränderungen im Sinne einer dauerhaften Verschlechterung oder Verbesserung gab es nicht. Es ist allerdings zugleich für beide Gerichtssachverständigen schwierig, die zusätzliche Pausen-Notwendigkeit nach der kurzen (ambulanten Untersuchungs-)Zeit abschließend genau anzugeben.
Gleichwohl kann der Kläger zur Überzeugung der Kammer (§ 128 SGG) die o.g. Tätigkeiten nicht (mehr) unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben. Insoweit geht die Kammer für den Kläger von einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes wegen des Erfordernisses der Einhaltung deutlich betriebsunüblicher Pausen aus. Das Erfordernis der üblichen Bedingungen (des allgemeinen Arbeitsmarktes) normierte der Gesetzgeber bereits im Jahr 2000 im Rahmen der Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit explizit als Tatbestandsmerkmal. Zur Begründung hieß es in der Gesetzesbegründung, vgl. BT-Drucks 14/4230, Seite 25,: „Maßstab für die Feststellung des Leistungsvermögens ist die Erwerbsfähigkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, d.h. in jeder nur denkbaren Tätigkeit, die es auf dem Arbeitsmarkt gibt. Allerdings kommen dabei nur Tätigkeiten in Betracht, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich sind. Damit wird sichergestellt, dass für die Feststellung des Leistungsvermögens solche Tätigkeiten, für die es für den zu beurteilenden Versicherten einen Arbeitsmarkt schlechthin nicht gibt (BSGE 80, 24, 34) nicht in Betracht zu ziehen sind. Die damit vom Gesetzgeber in Bezug genommenen Passagen der Entscheidung des BSG, Großer Senat (GrS), Beschluss vom 19.1.2.1995 - GS 2/95 - BSGE 80, 24ff lauten u.a. „Nach den Beschlüssen des GrS beurteilt sich die Fähigkeit eines Versicherten nicht allein nach der Fähigkeit, Arbeiten zu verrichten, sondern auch danach, durch Arbeit Erwerb zu erzielen. Erwerbsunfähig (EU) ist ein Versicherter, der noch vollschichtig arbeiten kann, zwar nicht schon dann, wenn er arbeitslos ist, weil er bei der Arbeitsplatzsuche der gesunden Konkurrenz den Vortritt lassen muß. EU liegt erst vor, wenn der Leistungsgeminderte einen seinem verbliebenen Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplatz nicht finden kann, weil es solche Arbeitsplätze nicht gibt. In seinem vorzitierten Beschluss hatte bereits der GrS entschieden, dass dem nur zur Teilzeitarbeit fähigen Versicherten - unabhängig von der Zahl vorhandener Arbeitsplätze oder dem Verhältnis dieser Zahl zu den Personen, die solche Arbeitsplätze suchen - der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei, wenn man ihm nicht innerhalb eines Jahres einen solchen Arbeitsplatz anbieten könne. Entsprechende Konsequenzen für leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsetzbare Versicherten zu ziehen, hatte das BSG ständig abgelehnt. Die Rechtsprechung geht generell davon aus, dass es für Vollzeittätigkeiten Arbeitsplätze in ausreichendem Umfang gibt und der Arbeitsmarkt für den Versicherten offen ist, so dass eine diesbezügliche Prüfung im Einzelfall regelmäßig nicht vorgenommen zu werden braucht. Eine der sechs allgemein anerkannten Ausnahmen ist u.a. die Fallgestaltung des sog. Katalogfall Nr. 1: „Der Versicherte kann zwar an sich noch eine Vollzeittätigkeit ausüben, aber nicht unter den in den Betrieben üblichen Bedingungen“.
Unter Berücksichtigung all dessen kann aufgrund der Formulierung in § 43 Abs. 3 SGB VI (übliche Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes), und mit der Rechtsprechung des BSG zum Katalogfall Nr. 1 u.a. eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bestehen, wenn Arbeitnehmer für eine Vollzeittätigkeit zusätzliche, in den gesetzlichen Vorschriften nicht vorgesehene, Pausen benötigen, wenn auch in der Praxis Arbeitnehmer zu solchen Bedingungen nicht eingestellt werden, ( vgl. grundlegend zB BSG, Urteil vom 30. 05.1984 - 5a RKn 18/83 - SozR 2200 § 1247 Nr. 43 ; ebenso bereits BSG Urteil vom 30.10.1997 - 13 RJ 49/97 – juris, jeweils mwN. ).
Die gesetzlichen Vorschriften zu den vorgesehenen Ruhepausen ergeben sich aus dem Arbeitszeitgesetz (ArbZG) vom 6. Juni 1994. Nach § 4 ArbZG ist die Arbeit durch im voraus feststehende Ruhepausen von mindestens 30 Minuten bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs bis zu neun Stunden und 45 Minuten bei einer Arbeitszeit von mehr als neun Stunden insgesamt zu unterbrechen (Satz 1). Die Ruhepausen nach Satz 1 können in Zeitabschnitte von jeweils mindestens 15 Minuten aufgeteilt werden (Satz 2). Länger als sechs Stunden hintereinander dürfen Arbeitnehmer nicht ohne Ruhepause beschäftigt werden (Satz 3). Da dabei der Arbeitstag in der Regel nicht mit einer Ruhepause beginnt, würde der Kläger somit für die genau sechsstündige Ausübung einer qualitativ zumutbaren Erwerbstätigkeit zwei solche Pausen von jeweils mindestens 15 Minuten (nach zwei und vier Stunden Arbeit) benötigen. Bei einer Tätigkeit von (bis zu und genau) sechs Stunden werktäglich ist allerdings nach dem ArbZG keine Ruhepause (zwingend) einzuhalten. Denn nach § 4 Satz 1 ArbZG ist die Arbeit erst bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs Stunden durch im Voraus feststehende Ruhepausen zu unterbrechen, vgl. auch § 4 Satz 3 ArbZG. Bei einer Arbeit von mehr als sechs Stunden benötigt der Kläger allerdings mehr als die in § 4 Satz 1 iVm 2 ArbZG vorgesehenen Ruhepausen, nämlich zweimal noch zusätzlich die Ruhepause von jeweils mindestens 15 Minuten statt der in § 4 Satz 1 ArbZG mindestens vorgeschriebenen 30 Minuten Ruhepause. Anders ausgedrückt kann der Kläger zwar noch mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein ( vgl. zB § 43 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB VI zur zeitlichen Grenze zur Bestimmung des sachliche Versicherungsgegenstandes „geminderte Erwerbsfähigkeit“).Dafür benötigt der Kläger jedoch bei einer genau sechsstündigen Erwerbstätigkeit täglich zusätzliche Ruhepausen von zweimal mindestens 15 Minuten. Diese sind ihm nach dem ArbZG arbeitgeberseitig keinesfalls zwingend zu gewähren. Bei einer mehr als sechsstündigen Erwerbstätigkeit täglich benötigt er mindestens Ruhepausen von insgesamt bis zu einer Stunde. Dieses Bedürfnis überschreitet wiederum die durch das ArbZG (zwingend) vorgesehene Mindestgrenze von 30 Minuten. Vom ArbZG zugunsten von Arbeitnehmern abweichende gesetzliche Regelungen, aus denen sich ein Recht auf (mehrere, hier mindestens zwei weitere Pausen bzw. mehr als mindestens 30 Minuten bei einer Erwerbstätigkeit von mehr als sechs Stunden werktäglich ergeben könnte, sind nicht ersichtlich. Inwieweit etwas Anderes im Rahmen bestehender Arbeitsverhältnisse gelzten mag, auch bei Verteilzeiten etwa im öffentlichen Dienst, kann hier offen bleiben. Denn der Kläger ist derzeit gerade nicht (abhängig) beschäftigt. Des Weiteren besteht nach Überzeugung der Kammer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein (faktisches) Einstellungshindernis für Arbeitnehmer, die besondere, über den gesetzlichen Mindestvorgaben hinausgehende, Ruhepausen ausdrücklich bei der Verrichtung einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit benötigen. Nach dem im Übrigen oben ausführlich referierten Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme bedarf der Kläger mithin mehrerer zusätzlicher, im ArbZG so gar nicht vorgesehener, Ruhepausen.
Die Kammer ist sich auch dabei der Schwierigkeit der Objektivierung der qualitativen und quantitativen (Rest-) Leistungsfähigkeit im allgemeinen und der Beurteilung eines Pausenbedürfnisses im Besonderen bewusst. Sie hält dennoch die Ausführungen der beiden Sachverständigen für schlüssig und überzeugend. Hingegen wird das Ergebnis einer quasi lückenlosen, „Brennglas-„ähnlichen, Überwachung und bewusst von der Beklagten hier wie in einigen anderen gerichtsbekannten Fällen auch so gewählten Fremd-Inspektion des Klägers durch die Gesamt-Bedingungen der mehrtägigen, z.T. sogar „teilstationär“ benannten Begutachtung des Klägers im Widerspruchsverfahren vom 19.12.2021 bis 23.12.2021 bei dem Auftragnehmer „N.“ für die Beklagte, Entlassungsbericht vom 09.03.2022, letztlich vom Gericht nicht als maßgeblich akzeptiert.
Denn die Bedenken beginnen bereits angesichts dieser Art und Form von „Amtsermittlung“ als mögliches künftiges Standardprocedere der Beklagten gegenüber erkennbar nicht Betrugsverdächtigen Versicherten. Derart massiv auf die Versicherten auch zeitlich einwirkende Bedingungen wie hier mit bis zu sechs Stunden/ mehr als 5 Tage ambulanter „Überwachung“ im Dezember 2021 beim Kläger, mögen für die tatnahen Personenkreise der gerichts- und allgemeinbekannten Betrugsserie zu Lasten der Beklagten in den 2010 er-Jahren im EM-Rentenzugang bei der Beklagten angemessen erscheinen ( zum Aspekt möglicher Langzeit-Negativwirkung der Betrugsserie auf Ermittlungsansätze und Bewertungsmaßstäbe der Beklagten zu Lasten primär unbescholtener Versicherter bereits kritisch : SG Münster Urteil v. 25.05.2022 – S 14 R 167/19 –, juris Rn. 25, 30, rechtskräftig, nach Berufungsrücknahme der Beklagten).
Außerdem ist in Bezug auf den Kläger hier die Sachbehandlung an sich zweifelhaft, gerade auch im Hinblick auf die die allgemeinen Verhältnismäßigkeits-Merkmale konkretisierenden Normen der §§ 60 ff Erstes Buch Sozialgesetzbuch (Allgemeiner Teil) – SGB I - , namentlich § 62 SGB I bezüglich der Erforderlichkeit verwaltungsseitig angeordneter Untersuchungen. Insoweit wäre mit dem erkennbar gegenüber ambulanten Begutachtungen an sich deutlich eingriffsintensiveren Begutachtungsmodell „Beauftragung von „N.“ mit mehrtägigen ambulanten, regelmäßig mindestens sechsstündigen Begutachtungs-Intervallen im Rahmen der EM-Renten-Verfahren, an eine schon bewusste Instrumentalisierung der Mitwirkungsobliegenheiten im Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahren, §§ 60, 66 SGB I, zum Zwecke gerade der Anspruchsverneinung zu denken ( vgl. dazu allgemein auch Schäfer in : Wolters Kluwer online Kommentar SGB I, Stand 2021, § 62 I , Rn. 1, 2, m.w.Nachw. u.a. aus der Rspr). Denn schließlich ist dieser „Modus“ erkennbar nicht vom Grundsatz „Reha vor Rente“ vgl. § 9 Abs. 1 Satz 3 SGB VI – der ja auch gerade im Sinne der betroffene Versicherten gilt – geprägt. Vielmehr ist dies augenscheinlich auf verdichtete Bestätigung der Belastbarkeit der Versicherten durch die Art und Weise der Untersuchung selbst, quasi im Sinne einer dann nicht mehr bezweifelbaren Belastbarkeit der EM-Renten-Bewerber für jeweils mindestens sechs Stunden werktäglich an mindestens 5 Tagen wöchentlich, ausgerichtet. Auf eine denkbare Folge derartiger Vorgaben der Beklagten an ihre Auftragnehmer in dem Modell „N.“, Beklagtenseitig eine Art „KO“-Kriterium anzunehmen und gegebenenfalls anderslautende gerichtliche Gutachtenergebnisse erst gar nicht mehr für bedeutsam zu erachten, wäre ebenso klar mit dem allgemeinen Gesetz, §§ 103, 106 SGG durch gerichtliche Amtsermittlung und im Wege nachfolgender freier Beweiswürdigung, § 128 SGG, zu antworten.
Unbeschadet des wohl nun erst im Laufe des Jahres 2023 gerichtlich feststellbaren neuen Beklagten- Modus „Einberufung der Versicherten ambulant für mindestens 1 Woche zu „N.“ wird die Kammer mithin weiterhin allein ausgehend vom Inbegriff der gesamten Beweisergebnisse sehr wohl in freier Überzeugungsbildung , § 128 SGG, entscheiden.
Hiernach wiederum bleibt es im konkreten Fall dabei, dass die Grundsätze zum verschlossenen Arbeitsmarkt trotz generell bejahter sechsstündiger Erwerbsfähigkeit relevant sind. Konkret war dies unter dem Aspekt der nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen zu prüfen. Denn der Arbeitsmarkt gilt bekanntlich trotz an sich mindestens sechsstündiger Erwerbsfähigkeit als verschlossen, wenn nur unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen gearbeitet werden kann (BSGE44, 39, 40). Insoweit muss auch die Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit üblichen Bedingungen entsprechen (vgl. BSGE 44, 164). Die Ruhepausen können in Zeitabschnitte von jeweils mindestens 15 Minuten aufgeteilt werden, abgesehen von den hier nicht weiter relevanten kürzeren sog. Verteilzeiten, vgl. auch zur Aufteilung § 7ArbZG ( siehe zu alledem : Gürtner in : Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht § 43 SGB VI Stand 2020, Rn. 37 ff. ( 40), m.w.N.)
Benötigt ein Rentenantragsteller wie hier zusätzliche Arbeitspausen, die im ArbZG so gar nicht vorgesehen sind, ist zu prüfen, ob Versicherte unter solchen Bedingungen (überhaupt) eingestellt würden (BSG BeckRS 1993, 30744390) Bei hier mindestens 2 zusätzlichen Arbeitspausen von jeweils weiteren 15 Minuten Dauer bestehen ernste Zweifel, ob derlei Arbeitsplätze vorhanden sind. Erforderlich ist dann die Benennung zumindest einer zugänglichen Verweisungstätigkeit (BSG NZA1987, 38).
Genau das hat die Beklagte trotz gerichtlichen Hinweises in der Verfügung vom 10.11.2023 aber hier auch nicht getan. Sie hat sich erst unmittelbar vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 08.01.2024 mit beraterärztlicher Stellungnahme der Ärztin für Psychiatrie und Sozialmedizin Frau N. vom 03.01.2024 zur Sache gemeldet. Frau N. sieht sich im Übrigen durch die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung im Bericht nach der mehrtägigen sog. „teilstationären“ Begutachtung vom 19.12.2021 bis 23.12.2021 bei dem Auftragnehmer „N.“ für die Beklagte, Entlassungsbericht vom 09.03.2022, bestätigt.
Die Kammer sah sich trotz dieser Ausgangssituation und vor allem auch unter Würdigung des von den beiden Gerichts-Sachverständigen in ihren Gutachten dargelegten Zweifeln bei gebotener Gesamtbetrachtung weder aus rechtlichen noch tatsächlichen Gründen dazu in der Lage, die von beiden Gerichtssachverständigen dargelegte Pausennotwendigkeit beim Kläger zu ignorieren. Vielmehr lässt sich all dieses Beklagten-(=Partei-)Vorbringen für das Gericht nicht überzeugend der hiesigen Arbeitsmarkt untypischen Zusatz-Pausen-.Notwendigkeit beim Kläger entgegen halten. Denn der Kläger befindet sich nach Überzeugung der Kammer in einem Zustand, aus dem er sich (entsprechende Motivation hierzu unterstellend) aus eigener Kraft nur schwer lösen können wird. Zum einen bestehen beim Kläger unzweifelhaft somatische Erkrankungen multipler Art und unterschiedlicher Ausprägung. Ein Schwerpunkt insoweit stellen die Folge-Erscheinungen nach dem Zeckenbiss Ereignis im Jahr 2011 dar. Der Kläger hatte den Umständen nach zum anderen auch in der Folgezeit noch eine Persönlichkeitsveränderung, woran die Ehe scheiterte, die schließlich sogar geschieden wurde.
Demgegenüber ist die beraterärztliche Stellungnahme der Beklagten, verfasst durch die Ärztin für Psychiatrie und Sozialmedizin Frau N. am 03.01.2024, nach gerichtlicher Überprüfung ernsthaft auch nicht ausschlaggebend. Denn dort wird u.a. auf die exakte Diagnose nach Zeckenbiss-Ereignis 2011 bestanden, das Spätstadium einer Borreliose negiert und das Fehlen einer Liquor-Untersuchung (sic!) in diesem Kontext zwecks Diagnose-Sicherung bemängelt. Mit letzterem Aspekt verlangt die Beraterärztin zu gerichtlicher Überzeugung wegen der Faktoren Punktion und Nervenwasser-Entnahme deutlich mehr, als selbst nach § 63 SGB I bei gebotener und verhältnismäßiger Begutachtung versichertenseitig im Verwaltungs- und Vorverfahren prima vista zu dulden wäre. Jedenfalls sieht das Gericht beim Kläger ein erhebliches Ausmaß nachvollziehbarer Beschwerden infolge der durchaus gewichtigen Gesamtheit medizinischer Leiden. Das darauf bezogene Bedürfnis des Klägers an oben genannten Pausen bewertet die Kammer, wie bereits erwähnt, als sachlich zutreffend. Aus diesen Gründen hält das Gericht auch die Beurteilung der Sachverständigen zum Erfordernis der oben genannten Pausen , u.a. gerade wegen der offengelegten Zweifel/Bedenken von Dr. F. und Dr. M., diesbezüglich für überzeugend. Sie legt die Gutachtenergebnisse auch insoweit dieser Entscheidung als weithin schlüssig und maßgeblich überzeugend zugrunde.
Somit kann der Kläger zwar mindestens sechs Stunden täglich, aber wegen abweichender Pausennotwendigkeit nicht unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes, erwerbstätig sein. Der allgemeine Arbeitsmarkt ist daher für ihn verschlossen. Daraus folgt des Klägers auf die Erwerbsminderungsrente, wie dargelegt auch ab Antragstellung im Juni 2020 und auf Dauer.
Die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI scheidet hingegen sowohl angesichts des Geburtsdatums des Klägers (03.11.1969) qua legem als auch mangels qualifizierten Berufsschutzes ( kein Facharbeiterabschluss /kein Handwerksgesellenbrief etc.) insgesamt aus.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.