Ein Widerspruch gegen einen Zahlungsbescheid, mit dem eine Kassenärztliche Vereinigung gegen einen Vertragsarzt von einem Beschwerdeausschuss bestandskräftig festgesetzte Richtgrößenregresse geltend macht, haben gemäß § 86a Abs 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung.
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 17. November 2023 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers vom 18. Januar 2018 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 21. Dezember 2017 aufschiebende Wirkung hat.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Antrags- und Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert des Antrags- und Beschwerdeverfahrens wird auf jeweils 100.000 Euro festgesetzt.
Gründe:
I.
Streitig ist die Feststellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs.
Die Antragsgegnerin erließ gegen den Antragsteller am 21. Dezember 2017 einen Rückforderungsbescheid in Höhe von 1.234.259,44 Euro, mit dem sie durch Bescheide des Beschwerdeausschusses der Vertragsärzte und Krankenkassen in Schleswig-Holstein bestandskräftig festgesetzte Richtgrößenregresse geltend machte. Die sofortige Vollziehung des Rückforderungsbescheids ordnete die Antragsgegnerin nicht an. Auch über den vom Antragsteller mit Schreiben vom 22. Januar 2018 eingelegten Widerspruch entschied die Antragsgegnerin bislang nicht.
Den nach Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen am 9. Oktober 2023 gestellten Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 22. Januar 2018 gegen den Rückforderungsbescheid vom 21. Dezember 2017 festzustellen, hat das Sozialgericht Kiel (SG) mit Beschluss vom 17. November 2023 abgelehnt.
Dagegen richtet sich die am 29. November 2023 eingegangene Beschwerde des Antragstellers. Insbesondere müsse die Antragsgegnerin seines Erachtens die Forderungen nach § 52 Abs 2 Satz 2 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) an die Krankenkassen abtreten.
Der Antragsteller beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Kiel vom 17. November 2023 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 21. Dezember 2017 festzustellen,
hilfsweise, für den Fall, dass der Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hat, die aufschiebende Wirkung anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Antragsgegnerin hält § 52 Abs 2 Satz 2 BMV-Ä nicht für anwendbar und stützt ihren Rückforderungsanspruch auf § 106 Abs 5c Satz 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Da eine Aufrechnung über das Honorarkonto des Antragstellers nicht mehr möglich sei, werde der Anspruch mittels eines Rückforderungsbescheids geltend gemacht. Dem dagegen eingelegte Widerspruch komme sowohl unter Berücksichtigung der Regelung in § 106 Abs 5a Satz 11 SGB V aF als auch derjenigen in § 85 Abs 4 Satz 6 SGB V keine aufschiebende Wirkung zu.
Für die weiteren Einzelheiten in der Sache und des Vortrags der Beteiligten wird auf die aktenkundigen Unterlagen und Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet.
Das Sozialgericht hat es zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung des von dem Antragsteller eingelegten Widerspruchs festzustellen.
1. Nach § 86b Abs 1 S 1 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung in den Fällen ganz oder teilweise anordnen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben. Wenn zweifelhaft ist, ob ein Widerspruch oder eine Klage aufschiebende Wirkung haben, kann das Gericht auf Antrag durch deklaratorischen Beschluss deren aufschiebende Wirkung feststellen (vgl hierzu Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 86b Rn 15). Bei dem Widerspruch des Antragstellers vom 22. Januar 2018 gegen den Rückforderungsbescheid vom 21. Dezember 2017 ist auch nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung von einer aufschiebenden Wirkung auszugehen.
2. Rechtsgrundlage für den Rückforderungsbescheid vom 21. Dezember 2017 ist § 106 Abs 5c Satz 4 SGB V (idF durch Art I Nr 14d) bb) des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung – AMNOG – vom 22. Dezember 2010). Danach hat die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in der Höhe des Regressbetrages, um den die nach Maßgabe der Gesamtverträge zu entrichtende Vergütung verringert wird (§ 106 Abs 5c Satz 3 SGB V), einen Rückforderungsanspruch gegen den Vertragsarzt. Diese Norm ist eine Sonderregelung gegenüber der Regelung in § 52 Abs 2 Satz 2 BMV-Ä, so dass hier die Regelung in § 52 Abs 2 Satz 2 BMV-Ä – darauf weist die Antragsgegnerin zutreffend hin – nicht anwendbar ist (vgl hierzu BSG, Urteil vom 28. Oktober 2015 - B 6 KA 15/15 R - juris Rn 17). Die Reduzierung der Gesamtvergütung ist dabei nicht davon abhängig, ob die KV die ihr zustehenden Rückforderungsansprüche gegenüber dem Vertragsarzt durchsetzen kann oder nicht (vgl hierzu BSG, Urteil vom 28. Oktober 2015 - B 6 KA 15/15 R - juris Rn 11, 17). Zur Durchsetzung der Rückforderungsansprüche kann die KV zum einen gegen Honorarforderungen des Vertragsarztes aufrechnen (§ 387 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB) oder zum anderen – zB nach dem Ende der Mitgliedschaft des Vertragsarztes bei der KV oder dem Wechsel in der Zusammensetzung einer Arztpraxis – direkt gegenüber dem Vertragsarzt einen Zahlungsbescheid erlassen (vgl hierzu BT-Drs 15/1515 Seite 117; vgl auch BSG, Urteil vom 28. Oktober 2015 - B 6 KA 15/15 R - juris Rn 19; so auch Rompf/Weinrich in: Liebold/Zalewski, Kassenarztrecht, 6. Aufl, § 106 C 106-72). Vor diesem Hintergrund ist die KV auch nach der Änderung der Regelungen in § 106 SGB V zum 1. Januar 2017 nicht daran gehindert gewesen, einen Rückforderungsbescheid zu erlassen, da die Geltendmachung der Rückforderung kein lediglich formeller oder prozessualer Aspekt des Richtgrößenregresses ist, sondern dem materiellen Recht zuzurechnen ist. Insoweit ist vorliegend auf die Rechtslage abzustellen, die im Prüfzeitraum zur Anwendung gekommen ist (vgl hierzu BSG, Urteil vom 9. April 2008 - B 6 KA 34/07 R - juris Rn 15).
3. Für den auf § 106 Abs 5c Satz 4 SGB V gestützten Rückforderungsbescheid der Antragsgegnerin vom 21. Dezember 2017 gilt dabei nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung, dass Widerspruch und Klage dagegen gemäß § 86a Abs 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung haben. Keine der in § 86a Abs 2 SGG genannten Fallgestaltungen, nach denen die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs kraft Gesetzes entfällt, ist hier einschlägig. Insbesondere liegt kein durch ein Bundesgesetz vorgeschriebener Fall vor, in dem die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nach § 86a Abs 2 Satz 4 SGG entfällt.
a) Zunächst ist vorliegend die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nicht nach § 106 Abs 5a Satz 11 SGB V entfallen. Danach hat eine Klage gegen die Entscheidung eines Beschwerdeausschusses keine aufschiebende Wirkung. Diese Regelung betrifft aber bereits nach ihrem Wortlaut nur Entscheidungen des Beschwerdeausschusses und nicht die Umsetzung des Rückforderungsanspruchs der KV gegen den (Vertrags-)Arzt nach § 106 Abs 5c Satz 3 SGB V durch einen Zahlungsbescheid.
b) Die Antragsgegnerin kann sich insoweit auch nicht auf die Vorgaben in § 84 Abs 6 Satz 4 SGB V stützen. Nach dieser Regelung haben zwar Widerspruch und Klage gegen eine Honorarfestsetzung sowie ihre Änderung oder Aufhebung keine aufschiebende Wirkung. Die Antragsgegnerin hat mit dem Bescheid vom 21. Dezember 2017 jedoch keine Rückzahlung summenmäßig überzahlter Honorare gefordert (insoweit unterscheidet sich der Sachverhalt von demjenigen in dem von der KV genannten Urteil des BSG vom 11. September 2019 - B 6 KA 13/18 R - juris Rn 18). Der streitbefangene Rückforderungsanspruch betrifft vielmehr gegen den Antragsteller festgesetzte Regressansprüche aus Richtgrößenprüfungen und anderen Verfahren zur Überprüfung des Verordnungsverhaltens des Antragstellers auf dessen Wirtschaftlichkeit hin.
c) Auch für eine analoge Anwendung der von der Antragsgegnerin herangezogenen Normen sieht der Senat im Rahmen einer summarischen Prüfung keinen Raum. Es dürfte bereits an einer dafür erforderlichen Regelungslücke fehlen. Wenn eine KV den vom Gesetzgeber gewollten Grundsatz, dass Widerspruch und Klage keine aufschiebende Wirkung haben (§ 86a Abs 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall nicht zur Anwendung kommen lassen möchte, steht ihr die Möglichkeit offen, unter den Voraussetzungen des § 86a Abs 2 Nr 5 SGG zugleich oder nachträglich die sofortige Vollziehung des jeweiligen Verwaltungsakts anzuordnen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, aaO, § 86a Rn 17a). Die Antragsgegnerin hat auch bereits Argumente aufgezählt, die in den dafür notwendigen Abwägungsprozess eingestellt werden könnten. Dass eine KV den Rückforderungsanspruch – wie dargelegt – nach allgemeiner Meinung durch eine einseitige Aufrechnungserklärung (§ 388 Satz 1 BGB) gegen Honorarforderungen des Vertragsarztes realisieren kann, spricht aus Sicht des Senats im Übrigen dafür, dass – in ihrer wirtschaftlichen Konsequenz jeweils gleichwertig – regelmäßig auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines entsprechenden Rückforderungsbescheides angeordnet werden könnte.
Unter Berücksichtigung aller von den Beteiligten wechselseitig vorgebrachten und teilweise mit Entscheidungen des Bundessozialgerichts unterlegten Argumente war vor diesem Hintergrund (fehlende und bislang auch nicht nachträglich angeordnete sofortige Vollziehung des Rückforderungsbescheids vom 21. Dezember 2017) die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 18. Januar 2018 festzustellen. Eine Entscheidung über den gestellten Hilfsantrag war insoweit nicht mehr notwendig.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Halbs 3 SGG iVm den § 154 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
5. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus der Anwendung von § 197a Abs 1 Satz 1 Halbs 1 SGG iVm den §§ 47 Abs 1 Satz 1, 52 Abs 1 bis 3 Gerichtskostengesetz (GKG). Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes setzt der Senat regelhaft ein Drittel des Streitwerts eines Hauptsacheverfahrens – vorliegend 1.234.259,44 Euro – als Streitwert fest (Beschluss des Senats vom 17. November 2022 - L 4 KA 105/22 B ER). Da über den Hilfsantrag nicht entschieden wurde, wirkt er sich nicht streitwerterhöhend aus (§ 45 Abs 1 Satz 2 GKG). Im Rahmen der Ausübung seines Ermessens berücksichtigt der Senat in diesem Einzelfall jedoch, dass die derzeitig dem Antragsteller drohende Zwangsvollstreckung auf einen Teilbetrag in Höhe von 100.000 Euro beschränkt ist (Schreiben der Antragsgegnerin vom 17. Oktober 2023). Dieser Betrag bestimmt sein wirtschaftliches Interesse für dieses Eilverfahren iSv § 52 Abs 1 GKG und wird in vollem Umfang als Streitwert festgesetzt.
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).