1. Bei der Kostenzusage der Krankenkasse zur kieferorthopädischen Behandlung handelt es sich regelmäßig um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung.
2. Lässt eine gemäß Behandlungsplan durchgeführte kieferorthopädische Behandlung die Notwendigkeit eines kieferchirurgischen Eingriffs entfallen, liegt keine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse vor, die zur Aufhebung der Kostenzusage berechtigt, da rechtserheblich für die Kostenzusage der prognostizierte Behandlungsbedarf bei Beginn der Behandlung ist.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. August 2022 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten auch des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rücknahme einer Kostenzusage für eine kieferorthopädische Behandlung.
Der 1986 geborene und bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger litt an einer skelettalen Dysgnathie, einer schweren Fehlstellung der Zähne und des Kiefers, mit Behandlungsbedarfsgrad D4. Er beantragte am 18. Mai 2019 unter Vorlage eines kieferorthopädischen Behandlungsplans die Kostenzusage der Beklagten für eine kieferorthopädisch-kieferchirurgische Behandlung, die voraussichtlich 4 Jahre andauern sollte. Dem Antrag war ein vom Kläger unterschriebenes Formular mit der Belehrung beigefügt, dass die Krankenkasse nur leistungspflichtig ist, wenn eine kieferchirurgische Operation in Verbindung mit einer kieferorthopädischen Behandlung erforderlich ist und dass bei Widerruf der Operationseinwilligung die Leistungspflicht entfalle.
Ein von der Beklagten beauftragter Gutachter befürwortete den Behandlungsplan. Er bestätigte die kieferorthopädische Indikationsgruppe, die Angemessenheit der geplanten Material- und Laborkosten sowie die Diagnosen des behandelnden Arztes.
Mit Bescheid vom 25. Juni 2019 erklärte die Beklagte, dass die kieferorthopädische Behandlung beginnen könne, sie 80 Prozent der Kosten als Sachleistung übernehmen werde und der 20prozentige Eigenanteil nach Behandlungsabschluss erstattet werden könne. Sie erklärte ferner:
„Allerdings ist die Kostenübernahme bei Erwachsenen an einige Voraussetzungen gebunden. Wir dürfen uns nur an den Kosten beteiligen, wenn eine schwere Kieferanomalie vorliegt, die eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung erforderlich macht. Dies ist bei Ihnen der Fall. Ändert sich diese Planung während der Behandlung aus medizinischen Gründen, dürfen wir uns leider nicht weiter an den Kosten beteiligen.
Wenn Sie die geplante Operation aus persönlichen Gründen nicht vornehmen lassen, entfällt der Leistungsanspruch für die gesamte Behandlung.“
Der Kläger begann daraufhin die geplante Behandlung.
Aufgrund der kieferorthopädischen Behandlung entfiel nachfolgend das Erfordernis für einen kieferchirurgischen Eingriff. Auf Nachfrage der Beklagten im Juni 2020 teilte der Kläger mit Schreiben vom 3. Juli 2020 mit, dass ein Termin beim Kieferchirurgen ergeben habe, dass nach dem Stand der kieferorthopädischen Behandlung kein chirurgischer Eingriff mehr erforderlich sei. Das überrasche ihn, da im Vorfeld fünf Kieferorthopäden und -chirurgen unabhängig voneinander davon ausgegangen seien, dass auch eine chirurgische Behandlung notwendig sei. Am 7. Oktober 2020 übersandte die Praxis des behandelnden Kieferorthopäden der Beklagten eine Mitteilung, wonach eine Untersuchung des Klägers am 29. August 2020 ergeben habe, dass keine kieferchirurgische Behandlung mehr erfolgen müsse.
Mit Bescheid vom 9. Oktober 2020 erklärte die Beklagte ohne vorherige Anhörung gegenüber dem Kläger, dass sie keine weiteren Kosten für die kieferorthopädische Behandlung übernehmen dürfe, da der Kläger nicht mehr kieferchirurgisch behandelt werde. Ermessenserwägungen hat die Beklagte in ihre Entscheidung nicht eingestellt. Zugleich informierte die Beklagte den behandelnden Arzt. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Die Behandlung habe sich unerwartet dahin entwickelt, dass ein chirurgischer Eingriff nicht erforderlich sei. Durch den Rückzug aus der Kostenbeteiligung entstünden massive wirtschaftliche Folgen. Ärzte hätten die Fortsetzung der Behandlung nur mit immensen Kostenaufschlägen angeboten. Seine Kaufähigkeit sei aktuell schlechter als vor Beginn der Behandlung, eine gleichmäßige Beiß- und Kaufähigkeit sei nicht hergestellt. Ihm werde die Möglichkeit genommen, die bislang gezahlten Eigenanteile erstattet zu bekommen. Eine unerwartet positive Entwicklung der Behandlung sollte nicht zur Folge haben, dass die Behandlung abgebrochen wird und seine Zähne in der Zahnstellung der Zwischenphase verbleiben.
Mit Schreiben vom 17. November 2020 erläuterte die Beklagte dem Kläger die Entscheidung, nannte die Rechtsgrundlagen und gab dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Bescheid vom 5. Marz 2021 half die Beklagte dem Widerspruch insoweit ab, als sie dem Kläger den von ihm bislang geleisteten Eigenanteil von 348,14 Euro erstattete. Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Juli 2021 wies sie den Widerspruch im Übrigen zurück. Sie führte zur Begründung aus, dass die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme nicht mehr vorlägen, da beim Kläger keine kieferchirurgische Behandlung mehr erforderlich sei. Aus diesem Grund könnten auch die weiteren Kosten nicht mehr übernommen werden. Zu Recht habe die Beklagte die Kostenzusage mit sofortiger Wirkung für die Zukunft aufgehoben. Rechtsgrundlage der Entscheidung sei § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X).
Am 12. August 2021 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Berlin Klage erhoben. Er hat die Ansicht vertreten, nicht ordnungsgemäß anhört worden zu sein, da ihm wiederholt nur die Option gelassen worden sei, den Widerspruch zurückzunehmen. Ferner sei auf den Gesundheitszustand vor Beginn der Behandlung abzustellen. Die Änderung der Notwendigkeit des operativen Eingriffs sei nicht in einer detaillierteren Diagnostik oder Änderung des Ursprungsbefundes begründet, sondern allein in dem überraschend erfolgreichen Ablauf der ersten Behandlungsphase. Er begehre keine zusätzlichen Kosten, sondern allein die Beteiligung am Abschluss der genehmigten Behandlung.
Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, die Anhörung mit Schreiben vom 17. November 2021 wirksam nachgeholt zu haben und nach Änderung der Verhältnisse gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu Recht ihre Entscheidung aufgehoben zu haben, da keine kombinierte kieferchirurgisch-kieferorthopädische Behandlung mehr vorgelegen habe. Ermessen sei nicht auszuüben gewesen. Das Sozialgericht Duisburg (Gerichtsbescheid vom 9. September 2016 – S 9 KR 168/15) und das Sozialgericht Hannover (Gerichtsbescheid vom 9. Dezember 2016 – S 11 KR 471/13) hätten im Sinne der Beklagten entschieden.
Mit Urteil vom 2. August 2022 hat das Sozialgericht Berlin den Bescheid der Beklagten aufgehoben. Rechtsgrundlage der Entscheidung könne lediglich § 48 SGB X sein, da erst nach Erlass des Verwaltungsaktes eine Änderung eingetreten sei. Die Aufhebungsvoraussetzungen seien jedoch nicht erfüllt. Denn es handele sich bei der Genehmigungsentscheidung für die kieferorthopädische Behandlung nicht um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Dies werde in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zwar unterschiedlich gesehen. Bei der Genehmigung einer kieferorthopädischen Behandlung handele es sich jedoch um eine einmalige Entscheidung, die kein vom Bestand des Verwaltungsaktes abhängiges Rechtsverhältnis begründe. Dies folge auch aus den vertraglichen Regelungen über das Genehmigungsverfahren in Anlage 4 zum Bundesmantelvertrag – Zahnärzte (BMV-Z). Daraus ergebe sich, dass – ggf. nach einem Gutachterverfahren – die Kostenübernahme durch die Krankenkasse als einmaliger Akt erfolge. Die Erklärung der Krankenkasse regele keine laufenden Leistungen, sondern nur den zulässigen Beginn der kieferorthopädischen Behandlung. Die Kammer folge der Entscheidung des BSG im Urteil vom 10. Oktober 1979 – 3 RK 3/78. Die nachfolgend ergangene Entscheidung vom 6. Juni 1991 – 3 RK 12/90 – könne nicht überzeugen, da aus dem Wortlaut der Überleitungsvorschrift in Art. 60 des Gesundheits-Reformgesetzes nicht auf das Wesen einer Genehmigung der kieferorthopädischen Behandlung geschlossen werden könne. Würde man hingegen in der Genehmigung einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung sehen, würde eine wesentliche Änderung der Sachlage fehlen. Denn aus der Formulierung in Abschnitt B Ziffer 4 der Kieferorthopädie-Richtlinien folge lediglich, dass zu Beginn der Behandlung eine Anomalie in einem bestimmten Ausmaß vorliegen müsse, was beim Kläger der Fall gewesen sei. Die Richtlinien würden lediglich die Voraussetzungen für die Genehmigung vor Behandlungsbeginn regeln. Es sei nicht ersichtlich, dass diese Voraussetzungen noch während der gesamten Behandlung vorliegen müssten. Anderenfalls würde dem Kläger das „Risiko“ auferlegt, die Behandlung wegen einer besonders positiven Entwicklung abbrechen zu müssen.
Die Beklagte hat gegen die ihr am 10. August 2022 zugestellte Entscheidung am 12. August 2022 Berufung eingelegt. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts handele es sich bei der Genehmigung einer kieferorthopädischen Behandlung um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Der Vertragszahnarzt rechne nach § 23 Abs. 1 Satz 1 BMV-Z vierteljährlich mit der Kassenärztlichen Vereinigung auf Grundlage des Behandlungsplans ab (§ 1 Abs. 3 Satz 4 der Anlage 4 zum BMV-Z). Daher entfalte der in Bezug auf den Behandlungsplan ergangene Genehmigungsbescheid Rechtswirkung über seinen Erlasszeitpunkt hinaus. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse sei eingetreten, da das Erfordernis einer kieferchirurgischen Behandlung nachträglich entfallen sei. Unter diesen Voraussetzungen hätte die Genehmigung nicht mehr erlassen werden dürfen. Denn bei der Erforderlichkeit kieferchirurgischer und kieferorthopädischer Behandlungsmaßnahmen handele es sich um eine Tatbestandsvoraussetzung. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts enthalte der Wortlaut des § 28 Abs. 2 Satz 7 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) keine zeitliche Einschränkung, sondern beziehe sich auf das Gewicht der Kieferanomalie. Der Kläger sei auch nicht schutzbedürftig, da er von der Beklagten darauf hingewiesen worden sei, dass sie sich nicht an den Kosten beteiligen werde, wenn die Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. August 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend. Der Regelungsgehalt der Entscheidung der Beklagten habe sich in einer einmaligen Entscheidung erschöpft, eine länger andauernde Behandlung in Kraft zu setzen. Ein Dauerrechtsverhältnis werde gerade nicht begründet, sondern lediglich die einmalige Entscheidung getroffen, dass die Kosten für die kombinierte Behandlung übernommen werden. Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liege nur vor, wenn die Anspruchsnorm voraussetze, dass die anspruchsbegründenden Umstände während des gesamten Zeitraums vorliegen. § 48 SGB X sei daher nicht anwendbar. Die streitige Bewilligung erfordere lediglich das Vorliegen der Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Bewilligung. Die Abrechnungsmodalitäten könnten die Rechtsnatur der Entscheidung nicht verändern. Jedenfalls liege keine wesentliche Änderung der Verhältnisse vor, welche nur in Zusammenhang mit der entsprechenden materiellen Norm gesehen werden könne. Die Bewilligungsregelung sehe die Erforderlichkeit einer kombiniert kieferchirurgisch-kieferorthopädischen Behandlung „zu Beginn der Maßnahme“ vor, so dass ein späterer Wegfall der Erforderlichkeit chirurgischer Eingriffe keine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 SGB X darstellen könne. Er habe zudem nicht erkennen können, dass die Beklagte die Bewilligung zurücknehmen könne, da sich die Hinweise der Beklagten eindeutig nur auf den Fall bezögen, dass der Versicherte die Durchführung der chirurgischen Maßnahme verweigere.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie des übersandten Verwaltungsvorgangs der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung über die Berufung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Berufung ist im Sinne der §§ 143, 144 SGG statthaft und nach § 151 SGG form- und fristgerecht erhoben worden. Sie ist jedoch nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. August 2022 ist rechtmäßig. Der Bescheid der Beklagten vom 9. Oktober 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juli 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Zutreffend verfolgt der Kläger sein Begehren mit der Anfechtungsklage, § 54 Abs. 1 SGG (zu einem Fall der Anfechtungs- und Leistungsklage vgl. BSG, Urt. v. 18. Januar 1996 – 1 RK 22/95 – Rn. 13, juris), da der Bescheid vom 9. Oktober 2020 jedenfalls in der Gestalt des Widerspruchsbescheides als Aufhebungsentscheidung auszulegen ist. Die Klage ist zulässig und begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht diese Entscheidung der Beklagten aufgehoben.
1.
Die auf § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X gestützte Aufhebungsentscheidung der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Der Bescheid ist zwar formell rechtmäßig, insbesondere wurde die zunächst unterbliebene Anhörung nachgeholt und der Verfahrensfehler geheilt, § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X. Die Aufhebungsvoraussetzungen gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind jedoch nicht erfüllt. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.
§ 48 SGB X – und nicht § 45 SGB X – findet Anwendung, da die Entscheidung der Beklagten vom 25. Juni 2019 anfänglich rechtmäßig war (dazu a.). Auch handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (dazu b.). Im nachträglichen Fortfall der kieferchirurgischen Behandlungsnotwendigkeit liegt jedoch keine nachträgliche wesentliche Änderung der Verhältnisse (dazu c.). Andere wesentliche Änderungen sind nicht eingetreten (dazu d.).
a) Als Rechtsgrundlage der angefochtenen Aufhebungsentscheidung scheidet § 45 SGB X aus. Die Vorschrift regelt die Rücknahme von anfänglich rechtswidrigen Verwaltungsakten. Die §§ 45 und 48 SGB X grenzen sich nach den objektiven Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts, der aufgehoben werden soll, ab (BSG, Urt. v. 21.6.2011 – B 4 AS 21/10 R –, Rn. 16, juris). Die Kostenübernahmeerklärung war bei Bekanntgabe rechtmäßig. Die Voraussetzungen für die Kostenübernahmeerklärung durch die Beklagte waren erfüllt.
Kieferorthopädische Leistungen werden als Sachleistung auf Grundlage von § 27 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Nr. 2, § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB V erbracht. Nach § 28 Abs. 1 Satz 6 und 7 SGB V gehört die kieferorthopädische Behandlung von Versicherten, die – wie der Kläger – zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet haben, nicht zur zahnärztlichen Behandlung; dies gilt jedoch nicht für Versicherte mit schweren Kieferanomalien, die ein Ausmaß haben, das kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfordert.
Nach § 29 Abs. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf kieferorthopädische Versorgung in medizinisch begründeten Indikationsgruppen, bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) bestimmt gemäß § 29 Abs. 4 SGB V in Richtlinien befundbezogen die objektiv überprüfbaren Indikationsgruppen, bei denen die genannten Voraussetzungen vorliegen (zur Verbindlichkeit Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urt. v. 18. September 2012 – L 11 KR 4190/11 –, juris). In Abschnitt B Ziffer 2 der Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für die kieferorthopädische Behandlung (Kieferorthopädie-Richtlinie, Inkrafttreten am 1. Januar 2004) hat der GBA hierzu festgelegt:
„Zur vertragszahnärztlichen Versorgung gemäß § 29 Abs. 1 SGB V in Verbindung mit Abs. 4 gehört die gesamte kieferorthopädische Behandlung, wenn bei ihrem Beginn ein Behandlungsbedarf anhand der befundbezogenen kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG) – Anlage 1 zu den Richtlinien – festgestellt wird. Eine Einstufung mindestens in den Behandlungsbedarfsgrad 3 der Indikationsgruppen ist dafür erforderlich. Die Kriterien zur Anwendung der kieferorthopädischen Indikationsgruppen (Anlage 2 zu diesen Richtlinien) sind für die Zuordnung zur vertragszahnärztlichen Versorgung verbindlich….“
In Abschnitt B Ziffer 4 der Kieferorthopädie-Richtlinie ist bestimmt:
„Kieferorthopädische Behandlungen bei Versicherten, die zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet haben, gehören nicht zur vertragszahnärztlichen Versorgung. Das gilt nicht für Versicherte mit schweren Kieferanomalien, die ein Ausmaß haben, das kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfordert. Schwere Kieferanomalien in diesem Sinne liegen nach Maßgabe der Anlage 3 zu diesen Richtlinien vor bei
- angeborenen Missbildungen des Gesichts und der Kiefer,
- skelettalen Dysgnathien und
- verletzungsbedingten Kieferfehlstellungen,
sofern eine Einstufung mindestens in die Behandlungsbedarfsgrade A5, D4, M4, O5, B4 oder K4 der Indikationsgruppen festgestellt wird.“
Diese Voraussetzungen lagen bei Erlass der Ausgangsentscheidung und zu Beginn der Behandlung vollständig vor. Die Einschätzung des behandelnden Zahnarztes zur kieferorthopädischen Indikationsgruppe, zum Behandlungsbedarfsgrad und zur Notwendigkeit einer kombinierten kieferchirurgisch-kieferorthopädischen Behandlungsmaßnahmen wurde im Gutachterverfahren bestätigt und war Grundlage der Entscheidung der Beklagten. Die Rechtmäßigkeit der Ausgangsentscheidung steht zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit.
b) Bei der aufgehobenen Entscheidung vom 25. Juni 2019 handelt es sich nach Ansicht des Senats um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Ein Dauerverwaltungsakt liegt vor, wenn sich der Verwaltungsakt nicht in einem einmaligen Ge- oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern ein auf Dauer berechnetes oder in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis begründet oder inhaltlich verändert (BSG, Urt. v. 15. November 2016 – B 2 U 19/15 R –, Rn. 17, juris; BSG, Urt. v. 7. Juli 2005 – B 3 P 8/04 R –, Rn. 16, juris).
Der Regelungsgehalt der streitigen Entscheidung der Beklagten betrifft ein in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis, denn er enthält – zumindest auch – die Verpflichtung, die künftigen Kosten der klägerischen Behandlung von zunächst zu 80 % und nach Behandlungsabschluss zu weiteren 20 % zu übernehmen. Dies ergibt sich nach Auslegung der Erklärung insbesondere vor dem Hintergrund der für die Entscheidung maßgeblichen Regelungen:
Bei kieferorthopädischen Leistungen sieht das Gesetz zwar keine vorherige Genehmigung durch die Krankenkasse vor. Bei der Inanspruchnahme kieferorthopädischer Behandlung muss jedoch ein in der „Vereinbarung über das Antrags- bzw. Genehmigungsverfahren sowie das Gutachterwesen bei der kieferorthopädischen Behandlung“ geregeltes Verfahren eingehalten werden. Die genannte Vereinbarung ist gemäß § 4 Abs. 1 Buchst b) BMV-Z i.V.m. Anlage 4 Teil des BMV-Z für die Vertragszahnärzte (vgl. § 81 Abs. 3 Nr. 1 SGB V i.V.m. den Satzungen der Kassenzahnärztlichen Vereinigungen) als auch für die Versicherten verbindlich (Blöcher in: Hauck/Noftz SGB V, 12. EL 2023, § 29 Rn. 66).
Nach § 1 der Anlage 4 des BMV-Z hat der Vertragszahnarzt vor Beginn einer kieferorthopädischen Behandlung oder bei einer Therapieänderung einen Behandlungsplan zu erstellen und der Krankenkasse zuzuleiten (Abs. 1). Bei Kostenübernahme sendet die Krankenkasse zügig, spätestens zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang eine Kostenübernahmeerklärung an den Vertragszahnarzt zurück. Mit der Behandlung soll erst begonnen werden, wenn die Krankenkasse eine Kostenübernahmeerklärung abgegeben hat, erfolgt keine Kostenübernahme, hat die Krankenkasse den Vertragszahnarzt hierüber ebenfalls zu unterrichten (Abs. 3). Nach § 2 der Anlage 4 des BMV-Z kann die Krankenkasse den Behandlungsplan vor der kieferorthopädischen Behandlung begutachten lassen. In diesem Fall hat die Krankenkasse ab Antragseingang innerhalb von sechs Wochen zu entscheiden, ob sie die Kosten für die geplante Behandlung übernimmt.
Die Kostenzusage der Krankenkasse erstreckt sich, soweit keine einschränkenden Nebenbestimmungen beigefügt werden, auf die gesamten im Behandlungsplan genannten Maßnahmen und steht unter der Bedingung, dass die Behandlung planmäßig und durch einen zugelassenen Vertragsarzt durchgeführt wird. Sie erstreckt sich nicht auf die Übernahme von Kosten von nicht zugelassenen Leistungserbringern (BSG, Urt. v. 18. Januar 1996 – 1 RK 22/95 –, Rn. 16, juris; BeckOK SozR/Knispel, 71. Ed. 1.12.2023, SGB V § 29 Rn. 24; BeckOGK/Nolte, 1.7.2020, SGB V § 29 Rn. 24).
Es kann dahinstehen, ob die Regelungen in § 4 Abs. 1 Buchst b) i.V.m. Anlage 4 BMV-Z die Erteilung einer Genehmigung im Sinne einer Erlaubnis der Leistungserbringung vorsehen oder vorsehen dürfen und die Beklagte eine solche im Bescheid vom 25. Juni 2019 erklärt hat. Jedenfalls erklärte die Beklagte in Übereinstimmung mit der Vereinbarung im BMV-Z die Verpflichtung zur Kostenübernahme für die Behandlung gemäß dem eingereichten Kostenplan durch einen Vertragszahnarzt. Diese Entscheidung entfaltet Wirkung für die Dauer der Behandlung des Klägers und darüber hinaus bis zur Abrechnung des Eigenanteils.
c) Die weiteren Voraussetzungen nach § 48 Abs. 1 SGB X sind hingegen nicht erfüllt. Im nachträglichen Fortfall der kieferchirurgischen Behandlungsnotwendigkeit liegt keine nachträgliche wesentliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse.
„Wesentlich“ ist eine Änderung, wenn sie rechtserheblich ist. Änderungen in den tatsächlichen Verhältnissen sind dann wesentlich, wenn sich die für den Erlass des Verwaltungsaktes entscheidungserheblichen tatsächlichen Umstände so erheblich verändert haben, dass diese rechtlich anders zu bewerten sind und daher der Verwaltungsakt unter Zugrundelegung des geänderten Sachverhalts so, wie er ergangen ist, nicht mehr erlassen werden dürfte. Die Feststellung einer wesentlichen Änderung richtet sich nach den für die Leistung maßgeblichen Bestimmungen des materiellen Rechts (BSG, Urt. v. 17. März 2016 – B 4 AS 18/15 R –, Rn. 29 juris; BeckOGK/Sandbiller, 15.8.2023, SGB X § 48 Rn. 22 m.w.N.).
Eine wesentliche Änderung liegt nicht in einem bei Durchführung des Behandlungsplans erreichten Behandlungsfortschritt, der zum Fortfall der kieferchirurgischen Behandlungsnotwendigkeit geführt hat. Denn die Rechtsgrundlagen für eine Kostenzusage stellen ausdrücklich auf den Befund bei Beginn der Behandlung ab. Ausdrücklich formuliert Abschnitt B Ziffer 2 der Kieferorthopädie-Richtlinie: „Zur vertragszahnärztlichen Versorgung … gehört die gesamte kieferorthopädische Behandlung, wenn bei ihrem Beginn ein Behandlungsbedarf … festgestellt wird.“
Diese Feststellung hatte die Beklagte vor Beginn der Behandlung getroffen. Es ist zudem unstreitig, dass die Einschätzung zur Notwendigkeit einer kombinierten Behandlung anfänglich richtig war und erst der Behandlungserfolg zum Wegfall der Operationsnotwendigkeit geführt hat. Die Richtigkeit dieser Einschätzung wird deshalb auch vom erkennenden Senat zugrunde gelegt.
Die Kostenzusage müsste daher auch unter dem geänderten Sachverhalt in gleicher Weise erlassen werden. Unterstellt, die Beklagte müsste nachträglich über die Kostenzusage entscheiden, würde sie nach den vorgenannten Regularien der Kieferorthopädie-Richtlinie und des BMV-Z nachträglich feststellen, dass für die Behandlung „bei ihrem Beginn“ ein Behandlungsbedarf gemäß den Voraussetzungen der Kieferorthopädie-Richtlinie festzustellen war.
Die Maßgeblichkeit der Entscheidungsgrundlagen bei Beginn der Behandlung zeigt sich auch bei der Behandlung Jugendlicher. Auch dort stellen das Gesetz (§ 28 Abs. 2 Satz 6 SGB V) und die Kieferorthopädie-Richtlinie (Abschnitt B Ziffer 4) darauf ab, ob zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet ist. Die Behandlungskosten werden auch für die Zeit übernommen, in denen der Versicherte volljährig ist.
In der Sache handelt es sich bei der ärztlichen Einschätzung der Notwendigkeit einer kombiniert orthopädisch-chirurgischen Behandlung um eine zukunftsbezogene Prognoseentscheidung bei Behandlungsbeginn. Diese bleibt auch dann richtig, wenn sich unter der geplanten und genehmigten Behandlungsplanung der Behandlungsverlauf anders auswirkt (zur ähnlichen Konstellation der Einkommensprognose vgl. BSG, Urt. v. 28. November 2007 – B 11a AL 47/06 R –, Rn. 13 juris).
d) Andere wesentliche Änderungen liegen nicht vor. Weder wurde mit der Behandlung das Behandlungsziel erreicht noch ist die Behandlungsbereitschaft des Klägers entfallen (zum Behandlungsabbruch vgl. Thüringer Landessozialgericht, Beschl. v. 18. Dezember 2017 – L 6 KR 585/17 –, juris) oder soll die Behandlung außerhalb der vertragszahnärztlichen Leistungserbringung fortgesetzt werden.
2.
Die Beklagte kann die streitige Entscheidung auch nicht auf § 47 SGB X stützen. Nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 SGB X darf ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, soweit der Widerruf durch Rechtsvorschrift zugelassen oder im Verwaltungsakt vorbehalten ist. Mangels gesetzlicher Regelung käme nur der Widerruf wegen eines Vorbehalts in der Kostenübernahmeentscheidung vom 25. Juni 2019 in Betracht. Die Voraussetzungen für den Widerruf der rechtmäßigen Kostenzusage sind jedoch nicht erfüllt.
a) Es ist bereits zweifelhaft, ob die im Bescheid als Nebenbestimmung (§ 32 SGB X) gefasste Erklärung, dass sich die Beklagte bei Änderungen des Behandlungsplans aus medizinischen Gründen nicht an weiteren Kosten beteiligen dürfe, einen hinreichend bestimmten Widerrufsvorbehalt darstellt. Denn diese lässt sich auch dahingehend auslegen, dass die Kostenzusage nur bezogen auf den eingereichten Behandlungsplan erteilt wird und dessen Änderung vor Behandlungsbeginn die Zusage entfallen lassen soll. Bei einem anderen Verständnis dürften kieferorthopädische Behandlungen regelmäßig nicht zu Ende geführt werden, wenn ein zwischenzeitlicher Behandlungserfolg den Schweregrad der Anomalie, verändert hat.
b) Die im Bescheid vom 25. Juni 2019 enthaltene Erklärung rechtfertigt jedenfalls keinen Widerruf.
Nach weit überwiegender Auffassung kann sich die Widerrufsbefugnis nur auf rechtmäßige Widerrufsvorbehalte beziehen (LPK-SGB X/Lang, 6. Aufl. 2023, SGB X § 47 Rn. 6; BeckOGK/Sandbiller, 15.5.2023, SGB X § 47 Rn. 10; Schütze/Schütze, 9. Aufl. 2020, SGB X § 47 Rn. 4). Die Entscheidung muss demnach zulässigerweise mit der Nebenbestimmung versehen werden dürfen. Das war vorliegend nicht der Fall. Bei gebundenen Entscheidungen ist gemäß § 32 Abs. 1 SGB X ein Widerrufsvorbehalt nur zulässig, wenn er durch Rechtsvorschrift zugelassen ist oder wenn er sicherstellen soll, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes erfüllt werden. Anderes gilt nach § 32 Abs. 2 SGB X bei Entscheidungen im Ermessen der Behörde. Der Anspruch auf Kostenzusage für eine kieferorthopädische Behandlung steht nicht im Ermessen der Beklagten. Die Kostenzusage ist zu erteilen, wenn – wie hier – bei Vorlage des Behandlungsplans die (engen) Voraussetzungen für eine Kostenzusage erfüllt sind. Eine Nebenbestimmung zu einer Kostenzusage bei kieferorthopädischer Behandlung wäre gemäß § 32 Abs. 1 SGB X – mangels Zulassung durch eine Rechtsvorschrift – nur zur Sicherstellung der gesetzlichen Voraussetzungen zulässig. Zur Sicherstellung der Rechtmäßigkeit der Kostenentscheidung bedurfte es aber keines Bezugs auf die medizinische Entwicklung der geplanten Behandlung. Denn die Voraussetzungen für die Kostenzusage stellen – wie dargestellt – nur auf die Behandlungsprognose „bei Beginn“ der Behandlung ab und nehmen die Behandlungsentwicklung gerade nicht in den Blick.
Nach anderer Ansicht (Prange in: jurisPK-SGB X, 3. Aufl., § 47 SGB X [Stand: 15.11.2023], Rn. 34) kann auch ein in rechtswidriger Weise, aber bestandskräftig mit einer Nebenbestimmung versehener Verwaltungsakt widerrufen werden. Folgt man dieser Ansicht, wäre es jedoch vorliegend ermessensfehlerhaft, die Widerrufsentscheidung auf die rechtswidrige Nebenbestimmung zu stützen.
c) Schließlich scheitert die Rechtmäßigkeit eines Widerrufs daran, dass die Beklagte bei Erlass des streitigen Bescheides kein Ermessen ausgeübt hat, was bei einer Entscheidung nach § 47 SGB X jedoch Voraussetzung wäre.
3.
Lediglich hilfsweise verweist der Senat darauf, dass die Entscheidung des Sozialgerichts sich auch dann als rechtmäßig erweisen würde, wenn – unterstellt – die Notwendigkeit der kieferchirurgischen Behandlung zu keinem Zeitpunkt vorgelegen hätte, mithin die behandelnden Ärzte und der von der Beklagten beauftragte Gutachter unter Verkennung des medizinischen Sachverhaltes zu einer falschen Therapieprognose gekommen wären. Insoweit würde sich der Bescheid zwar als anfänglich rechtswidrig erweisen. Eine Rücknahme der Kostenzusage nach dem dann anwendbaren § 45 SGB X würde jedoch am schutzwürdigen Vertrauen des Klägers am Abschluss der geplanten Behandlung scheitern (§ 45 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB X).
4.
Die Auszahlung der vom Kläger bislang geleisteten Eigenanteile berührt die Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung nicht. Mit dem Wegfall der streitigen Aufhebungsentscheidung ist die Beklagte wieder verpflichtet, die Behandlungskosten zu übernehmen, soweit die Behandlung im Übrigen gemäß dem ursprünglichen Behandlungsplan und durch einen Vertragsarzt fortgesetzt wird. Die bereits erfolgte Auszahlung der Eigenanteile ist lediglich bei der Entscheidung über den Umfang der Kostenübernahme nach Behandlungsabschluss zu berücksichtigen.
5.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.
6.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG.