S 19 U 224/18

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
SG Osnabrück (NSB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Osnabrück (NSB)
Aktenzeichen
S 19 U 224/18
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
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Kategorie
 
  1. Der Bescheid der Beklagten vom 27.02.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.09.2018 sowie den Bescheid vom 23.10.2018 wird abgeändert.
  2. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 18.02.2016 auch für den Zeitraum vom 19.03.2019 bis 29.03.2020 eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 v.H. zu gewähren.
  3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
  4. Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist die Höhe der dem Kläger zu gewährenden Verletztenrente.

Der am E.. F..1997 geborene Kläger erlitt am 18.02.2016 während einer Klassenfahrt beim Skifahren in Österreich rechtseitig eine vordere Kreuzbandruptur mit Riss des Außenmeniskushinterhorns im Ansatzbereich. Während des stationären Aufenthaltes vom 08.03.2016 bis 15.03.2016 wurde am 08.03.2016 wurde eine vordere Kreuzbandersatzplastik sowie eine Außenmeniskusteilresektion durchgeführt. Nachfolgend bestand wieder Schulfähigkeit; dem Kläger wurde eine Personenbeförderung für die Wege zur Schule und zurück mit dem Taxi gewährt.

Ab dem 25.04.2016 wurde eine erweiterte ambulante Physiotherapie durchgeführt. Eine kernspintomographische Untersuchung (MRT) vom 09.06.2016 zeigte einen Reizerguss. Klinisch bestand ein leichtes Schubladenphänomen, ferner entwickelte sich eine Atrophie der Oberschenkelmuskulatur rechts im Seitenvergleich von 3,5 cm sowie ein Streckdefizit von 10 Grad mit weichem Anschlag (Berichte des Durchgangsarztes Dr. G. vom 22.06.2016 und 11.08.2016). Ein weiteres MRT vom 18.08.2016 zeigte ein Transplantatversagen, so dass im Rahmen der stationären Behandlung vom 22.12.2016 bis 24.12.2016 eine vordere Revisions-Kreuzbandplastik durchgeführt wurde. Bei der Nachuntersuchung am 17.01.2017 bestand eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung des rechten Kniegelenkes mit Ergussbildung. Mit Kontroll-MRT vom 31.01.2017 wurde ein Riss-Rezidiv ausgeschlossen. Der Kläger gab am 07.03.2017 immer schlimmer werdende Beschwerden an. Es bestand ein Streckdefizit von 10 Grad; die Beugung war bis 120 Grad möglich.

Ab dem 01.08.2016 begann der Kläger eine Ausbildung zum Steuerfachangestellten. Ab dem 11.11.2016 war der Kläger arbeitsunfähig. Die Ausbildung wurde im weiteren Verlauf abgebrochen.

Am 27.03.2017 erstatteten Dr. H. und drs. I. ein unfallchirurgisch-orthopädisches Gutachten. Aufgrund der erhobenen Befunde wurden als Unfallfolgen eine deutliche Bewegungseinschränkung des rechten Kniegelenkes mit Beugedefizit auf 85 Grad, eine leichte Umfangsminderung und Kraftminderung am rechten Oberschenkel, eine allenfalls mäßiggradige vordere Instabilität im rechten Kniegelenk, eine deutliche Belastungsminderung im rechten Bein sowie Narbenbildung nach operativer Behandlungen festgestellt. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wurde im Zeitraum vom 18.02.2016 bis 20.03.2017 gestaffelt zwischen 100 v.H. und 30 v.H. eingeschätzt. Ab dem 21.03.2017 wurde die MdE mit 20 v.H. eingeschätzt.

Aufgrund persistierender Beschwerden erfolgte am 30.05.2017 ein weiteres Kontroll-MRT, das den Nachweis einer Transplantatruptur zeigte. Im Rahmen einer arthroskopischen Operation am 18.08.2017 wurde eine Teilresektion des vorderen Kreuzbandes mit Chondroplastik durchgeführt. Bei der durchgangsärztlichen Vorstellung am 14.09.2017 gab der Kläger eine leichte Besserung der Beschwerden an. Es bestand eine Beugefähigkeit bis 110 Grad ohne Zeichen einer Instabilität. Am 09.10.2017 bestand eine Beugefähigkeit bis 100 Grad mit leichtem Streckdefizit von 5 Grad. Der Kläger war wieder arbeitsfähig.

Seit August 2017 besuchte der Kläger ein Wirtschaftsgymnasium.

Am 11.01.2018 erstatteten Dr. H. und drs. I. ein weiteres Gutachten. Es bestand eine Beugeeinschränkung auf 115 Grad ohne Streckdefizit sowie eine leichte- bis mäßiggradige Instabilität. Die Gutachter schätzten die Unfallfolgen unter Beibehaltung der bereits vorgeschlagenen Staffelung ab dem 04.10.2017 weiterhin mit einer MdE von 20 v.H. ein und empfahlen eine Neubewertung nach Ablauf des 3-Jahres-Zeitraumes.

Mit Bescheid vom 27.02.2018 wurde dem Kläger der Unfall vom 18.02.2016 als Arbeitsunfall anerkannt und dem ab dem 19.02.2016 eine Rente als vorläufige Entschädigung gewährt, und zwar gestaffelt nach einer MdE von

  • 50 v.H. für den Zeitraum vom 19.02.2016 bis 07.03.2016,
  • 100 v.H. für den Zeitraum vom 08.03.2016 bis 15.03.2016,
  • 60 v.H. für den Zeitraum vom 16.03.2016 bis 20.04.2016,
  • 40 v.H. für den Zeitraum vom 21.04.2016 bis 09.05.2016,
  • 30 v.H. für den Zeitraum vom 10.05.2016 bis 09.10.2017 sowie
  • 20 v.H. für den Zeitraum ab dem 10.10.2017 bis auf weiteres.

Als Folgen des Arbeitsunfalls wurden anerkannt:

  • Bewegungseinschränkung im rechten Kniegelenk,
  • Kraft- und Umfangsminderung am rechten Oberschenkel,
  • geringe vordere Instabilität des rechten Kniegelenkes,
  • Narbenbild nach operativer Behandlung am rechten Knie sowie
  • leichte Belastungsminderung im rechten Bein nach operativ, mittels VKB-Plastik versorgter vorderer Kreuzbandruptur rechts mit Außenmeniskusteilresektion und nachfolgender Revisions-VKB-Plastik rechts.

Hiergegen erhob der Kläger – vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigen – Widerspruch, der nicht weiter begründet wurde.

Der Kläger gab bei den nachfolgenden Untersuchungen unveränderte Beschwerden sowie eine mangelhafte Belastbarkeit an. Ein MRT vom 20.08.2018 ergab keinen Nachweis richtungsweisender Teilrupturen oder Rupturen der Transplantatligamente. Bei einer Vorstellung im J. A. am 24.08.2018 bestand ein Streckdefizit von 5 Grad bei eingeschränkter Beugefähigkeit bis 120 Grad ohne Rötung, Erguss, oder Zeichen einer Instabilität. Die Fortführung der konservativen Therapie wurde empfohlen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24.09.2018 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen.

Hiergegen richtet sich die am 26.10.2018 vor dem Sozialgericht Osnabrück erhobene Klage. Der Kläger verweist auf die Notwendigkeit weiterer operativer Behandlungen und auf die entsprechenden Berichte des Universitätsklinikums K.. Bei der Untersuchung am 19.03.2019 hat der Kläger persistierende Dauerschmerzen mit Instabilität und deutlicher Bewegungseinschränkung angegeben. Am 08.04.2019 ist eine arthroskopische Bohrkanalauffüllung mit allogener Spongiosa femoral und tibial erfolgt. Es bestünde weiterhin eine muskulär nicht kompensierbare Instabilität mit Bewegungseinschränkung.

Mit Bescheid vom 23.10.2018 hat die Beklagte dem Kläger anstelle der bisherigen Rente als vorläufige Entschädigung eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 20 v.H. gewährt. Als Folgen des Arbeitsunfalls sind nunmehr berücksichtigt worden:

  • Bewegungseinschränkung im rechten Kniegelenk,
  • Kraft- und Umfangsminderung am rechten Oberschenkel,
  • leichte bis mäßiggradige vordere Instabilität des rechten Kniegelenkes,
  • hinkendes Gangbild und Belastungsminderung im rechten Beines und
  • Narbenbildung rechtes Kniegelenk.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vortrag sinngemäß,        

  1. den Bescheid der Beklagten vom 27.02.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.09.2018 sowie den Bescheid vom 23.10.2018 abzuändern,
  2. den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 18.02.2016 über den 09.10.2017 hinaus eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 v.H. zu gewähren.

Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte ist der Ansicht, dass der Bescheid vom 23.10.2018, mit dem erstmals eine Entscheidung über die Gewährung einer Rente auf unbestimmte Zeit getroffen worden ist, bindend geworden sei, da der Kläger hiergegen keinen Widerspruch erhoben habe. Dieser Bescheid sei nicht gem. § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden.

Die Kammer hat im vorbereitenden Verfahren einen Bericht des Universitätsklinikum K. eingeholt. Danach hat bei der Untersuchung am 19.03.2019 eine Beugeeinschränkung auf 90 Grad sowie eine Lockerung des Kniebandapparates bestanden, die muskulär nur zum Teil kompensierbar gewesen ist. Die Arthroskopie habe keine Hinweise für höhergradige Knorpelschäden oder anhaltende Reizerscheinungen ergeben. In der Narkoseuntersuchung habe eine freie Beweglichkeit bestanden. Am 08.10.2019 ist die Durchführung einer athroskopischen vorderen Kreuzbandersatzplastik erfolgt. Bei der Nachuntersuchung am 21.11.2019 hat noch eine Bewegungseinschränkung von 5 Grad Streckdefizit und 100 Grad Beugedefizit mit wenig Erguss und stabilen Bandverhältnissen bestanden. Ein MRT vom 21.01.2020 hat keine Zeichen einer Lockerung, Degeneration oder Ruptur gezeigt.

Die Kammer hat sodann ein orthopädisch-unfallchirurgisches Gutachten des Sachverständigen Dr. E. vom 01.04.2020 eingeholt. Dieser hat im Rahmen der gutachtlichen Untersuchung am 30.03.2020 ein Streckdefizit von 5 Grad mit einer Beugefähigkeit bis 130 Grad festgestellt ohne manifeste Hinweise für eine Instabilität oder dauerhafte Reizergussbildung, sowie eine Minderung der Oberschenkelmuskulatur von 2 cm gegen links. Dr. E. hat eine Fehlbewertung der von der Beklagten vorgenommenen MdE-Staffelung nicht feststellen können, jedoch für den Zeitraum vom 19.03.2019 bis 29.03.2020 die unfallbedingte MdE vorübergehend mit 30 v.H. eingeschätzt.

Der Beklagte hat daraufhin einen Vergleich vorgeschlagen, mit dem dem Kläger aufgrund einer vorübergehenden Verschlimmerung eine Rente für den Zeitraum vom 19.03.2019 bis 29.03.2020 nach einer MdE von 30 v.H. gewährt wird.

Der Kläger hat diesem Vergleichsvorschlag nicht zugestimmt. Auf seinen Antrag nach § 109 SGG hat die Kammer ein orthopädisch-unfallchirurgisches Gutachten des Prof. Dr. F. vom 07.12.2020 eingeholt. Dieser hat ein geringes Streckdefizit mit schmerzhaftem Beugedefizit ab 90 Grad festgestellt und die unfallbedingte MdE seit dem 10.05.2016 auf Dauer mit 30 v.H. eingeschätzt. Zur Begründung hat Prof. Dr. F. ausgeführt, dass die Behandlung frustran verlaufen seien. Zwischenzeitlich verbesserte Bewegungsumfänge würden keine weitere Staffelung der MdE rechtfertigen, da der Kläger sich auf sein rechtes Kniegelenk nicht mehr verlassen könne. Der Kläger sei auf die Nutzung einer Knieführungsschiene aufgrund einer dynamischen Instabilität angewiesen. Zudem bestünden erhebliche Sensibilitätsstörungen im Bereich des Ober- und Unterschenkels, die anteilig auf die Operation vom 18.10.2019 zurückgeführt werden könnten.

Die Beklagte verweist auf Berichte des Universitätsklinikums K. über weitere ambulante Vorstellungen des Klägers am 10.06.2020 und 04.09.2020 sowie auf neuerliche MRT-Aufnahmen vom 18.06.2020 und 25.08.2020. Danach hat eine freie Beweglichkeit ohne zentrale oder seitliche Instabilität bestanden. Die Außen- und Innenbänder haben sich in der Stabilitätsprüfung seitengleich und ohne pathologische Aufklappbarkeit gezeigt. Eine vordere oder hintere Schublade hat nicht bestanden; der Lachmann-Test ist negativ, der Pivot-Shift fraglich positiv gewesen. Im Rahmen einer neurologischen Untersuchung vom 16.10.2020 aufgrund eines Taubheitsgefühl ist eine Läsion des Nervus fibularis links ausgeschlossen worden (Bericht der Neurologin L. vom 16.07.2020).

Dr. E. hat am 20.04.2021 ergänzend zum Gutachten des Prof. Dr. F. Stellung genommen. Er weist darauf hin, dass sich die von Prof. Dr. F. erhobenen Befunde sich weder mit den vorausgegangenen noch den nachfolgenden Untersuchungen bestätigen ließen. Hierzu hat auf Antrag des Klägers am 03.08.2021 Prof. Dr. F. nach § 109 SGG ergänzend Stellung genommen, der an seiner Auffassung festhält.

Mit Schreiben vom 21.10.2021 und 12.10.2021 haben die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs. 2 SGG zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Gemäß § 124 Abs. 2 SGG hat die Kammer ohne mündliche Verhandlung entscheiden können, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Entgegen der Ansicht des Beklagten ist auch der Bescheid vom 23.10.2018, mit dem der Beklagte eine Entscheidung über die Gewährung einer Rente auf unbestimmte Zeit getroffen hat, gem. § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden.

Wird ein Bescheid auf Gewährung von Verletztenrente als vorläufige Entschädigung angefochten, wird der während des Klage- oder Berufungsverfahrens erlassene Bescheid über die Gewährung einer Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens (ständige Rechtsprechung der Kammer; vgl. hierzu auch Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 18.04.2019, Az.: L 14 U 61/16; ferner: Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 26.03.2015, Az.: L 6 U 3485/13 – juris Rdnr. 25; Klein in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 03.01.2022, § 96 SGG, Rdnr. 64).

Im vorliegenden Fall ist mit Bescheid vom 27.02.2018 wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 18.02.2016 eine Rente als vorläufige Entschädigung in gestaffelter Höhe ab dem 19.02.2016 gewährt worden. Der hiergegen erhobene Widerspruch ist mit Widerspruchsbescheid vom 24.09.2018 zurückgewiesen worden. Hiergegen ist am 26.10.2018 Klage erhoben worden. Bereits mit Bescheid vom 23.10.2018, somit vor Klageerhebung, ist über die Rente auf unbestimmte Zeit entschieden worden. § 96 SGG ist bereits seit der Neufassung ab 01.04.2008 auch auf den Zeitraum zwischen Erlass des Widerspruchsbescheides und Klageerhebung ausgedehnt worden (vgl. hierzu AE. in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/AE., SGG, 12. Auflage 2017, § 96 Rdnr 3a; Urteil des BSG vom 30.01.2019, Az.: B 14 AS 11/18 R).

Die Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Der Beklagte hat zu Recht die Rente als vorläufige Entschädigung für den Zeitraum vom 19.02.2016 bis 09.10.2017 in gestaffelter Höhe, zuletzt ab dem 10.05.2016 nach einer MdE von 30 v.H. und schließlich ab dem 10.10.2017 nach einer MdE von 20 v.H. der Vollrente gewährt. Die Gewährung der Rente auf unbestimmte Zeit ab November 2018 als Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 20 v.H. ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Jedoch ist in dem Zeitraum vom 19.03.2020 (Zeitpunkt der ersten Untersuchung im J. A.) bis 29.03.2020 eine vorübergehende Verschlimmerung eingetreten, so dass der Kläger in diesem Zeitraum Anspruch auf Gewährung einer Rente nach einer MdE von 30 v.H. hat. Seit dem 30.03.2020 (Tag der gutachtlichen Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. E.) lässt sich auf Dauer nur noch eine MdE von 20 v.H. feststellen, so dass die Klage im Übrigen abzuweisen war.

Aufgrund der Folgen eines Versicherungsfalls haben Versicherte Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach den §§ 26 ff. Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII). Verletztenrente erhalten dabei gem. § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist. Nach Abs. 2 Satz 1 der genannten Vorschrift richtet sich die MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Entscheidend ist nicht nur der Gesundheitsschaden als solcher, sondern der Funktionsverlust unter medizinisch-juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Renten an Versicherte werden von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem der Anspruch auf Verletztenrente endet oder, wenn – wie vorliegend – kein Anspruch auf Verletztengeld besteht, an dem der Versicherungsfall eingetreten ist (§ 72 Abs. 1 SGB VII). Für Zeiten mit Anspruch auf Verletztengeld ist die Neufestsetzung von Renten ausgeschlossen (§ 74 Abs. 2 SGB VII).

Gemäß § 62 Abs. 1 SGB VII soll während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall die Rente als vorläufige Entschädigung festgesetzt werden, wenn der Umfang der MdE noch nicht abschließend festgestellt werden kann.

§ 62 Abs. 2 SGB VII bestimmt, dass spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall die vorläufige Entschädigung als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet wird. Bei der erstmaligen Festsetzung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung kann der Vomhundertsatz der MdE abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Daher kommt es bei der erstmaligen Festsetzung des v.H.-Satzes der MdE im Rahmen einer Rente auf unbestimmte Zeit nicht auf die bisherigen Feststellungen bezüglich der Gewährung einer vorläufigen Entschädigung an, weil gem. § 62 Abs. 2 Satz 2 SGB VII eine niedrigere Bemessung des MdE-Grades auch ohne Erfordernis eines Besserungsnachweises zulässig ist. Die in § 62 Abs. 2 Satz 2 SGB VII normierte Regelung basiert auf der Erwägung, dass der Grad der MdE im Rahmen der Entscheidung nach § 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII zumeist zu Gunsten des Verletzten höher festgesetzt wird, um einen Schwebezustand zu überbrücken und dessen Belastbarkeit abzuwarten, weil auch noch nach Wiederaufnahme der Arbeitstätigkeit davon ausgegangen werden muss, dass es zu Schwankungen im Heilverlauf respektive zu Rückfällen im Ausmaß der unfallbedingten Funktionsstörungen kommen kann (vgl. dazu Hauck/Kranig, Kommentar zum SGB VII, § 62 Rdnr. 10; Brackmann/Burchhardt, Handbuch der Sozialversicherung, Band 3/1, § 62 Rdnr. 17). Demgegenüber geht die Festsetzung einer Rente auf unbestimmte Zeit von einem nach längerer Konsolidierungsphase eingetretenen Beharrungszustand aus, bei welchem sich die durch einen Arbeitsunfall geschaffenen Verhältnisse voraussichtlich dauerhaft ausreichend überschaubar gefestigt und Adaptionsphänomene sowie Gewöhnungseffekte sich eingestellt haben. Im Gegensatz zur Rentenbemessung als vorläufige Entschädigung wird bei der Feststellung der Rente auf unbestimmte Zeit deshalb ausschließlich auf das zu diesem Zeitpunkt noch nachweislich vorhandene unfallbedingte Funktionsdefizit abgestellt.

Maßgebend für die Höhe der MdE ist in erster Linie die unfallbedingte Funktionseinschränkung. Die Bemessung des Grades der MdE, also die aufgrund § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII durch eine Schätzung vorzunehmende Festlegung des konkreten Umfangs der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Zu beachten sind dabei die allgemeinen Bewertungsgrundsätze, die die Rechtsprechung und das versicherungsrechtliche sowie unfallmedizinische Schrifttum entwickelt haben und die im Einzelfall zwar nicht bindend, aber geeignet sind, als Grundlage für eine gleiche und gerechte Beurteilung der MdE in den zahlreichen Parallelfällen der Praxis zu dienen. Dabei ist Maßstab für die Bewertung der MdE der allgemeine Arbeitsmarkt, nicht die bisherige Tätigkeit des Versicherten. Bei identischen Unfallfolgen ist mithin die Minderung der Erwerbsfähigkeit aller Versicherten im Grundsatz dieselbe. Ihre Festsetzung folgt, von den konkret-individuellen gesundheitlichen Beeinträchtigungen ausgehend, abstrakt-generellen. Deshalb sind - schon aus Gründen der Gleichbehandlung aller Versicherten - die typisierenden MdE-Sätze zu beachten, die in den Erfahrungswerten der arbeits- und sozialmedizinischen Wissenschaft hinsichtlich der bei bestimmten Gesundheitsschäden eintretenden Minderung der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Sinne eines antizipierten Sachverständigengutachtens gebündelt sind. Von ihnen ist nur insoweit im Einzelfall abzuweichen, als die für die Schadensbemessung maßgeblichen individuellen gesundheitlichen Verhältnisse des Versicherten dies rechtfertigen.

Die Höhe der MdE bei Funktionsbeeinträchtigungen seitens der Kniegelenke wird hauptsächlich bestimmt durch das Ausmaß der verminderten Beweglichkeit oder die unphysiologische Zunahme der Beweglichkeit (Überstreckbarkeit, Wackelbeweglichkeit, Verschieblichkeit) sowie der Schmerzhaftigkeit. Zu beachten ist, dass eine Streckbehinderung von 5 bis 10 Grad für die meisten Betroffenen einschneidender ist als eine Beugebehinderung von 30 bis 40 Grad. Denn der Ausschluss der vollständigen Streckung verhindert, das Bein muskelentspannt als Standbein zu benutzen. Daher rechtfertigt sowohl eine Beugeeinschränkung auf 120 Grad ohne Streckdefizit (MdE von 10 v.H.) als auch eine Beugeeinschränkung auf 90 Grad ohne Streckdefizit (MdE von 15 v.H.) keine MdE im rentenberechtigenden Grad. Denn bei diesen Bewegungseinschränkungen können die meisten beruflichen (auch körperlichen) Tätigkeiten noch ausgeführt werden. Erst bei einer Beugeeinschränkung auf 90 Grad mit Streckdefizit von 10 Grad oder einer Einschränkung der Beugefähigkeit auf nur noch 80 Grad ist daher eine MdE 20 v.H., somit eine MdE im rentenberechtigenden Grad, gegeben. Eine MdE von 30 v.H. setzt ein Streckdefizit von 30 Grad und ein Beugedefizit auf 90 Grad voraus (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 685 f.). Eine Instabilität ist zusätzlich zu berücksichtigen. Dabei begründet eine geringfügige Kniebandlockerung mit einer Aufklappbarkeit am Seitenband und/oder einer Schublade von jeweils weniger als 3 mm keine messbare MdE. Liegt eine Instabilität vor, die muskulär kompensierbar ist, ist eine MdE von 10 v.H. angemessen. Eine MdE von 20 v.H. erfordert eine Instabilität, die nicht muskulär kompensierbar ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O. S. 686).

Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte ableitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen somit zu Lasten des jeweiligen Klägers (BSG, Urteil vom 27.06.1991 - 2 RU 31/90 – juris Rdnr. 17).

Unter Anlegung dieser Beurteilungsmaßstäbe lässt sich im Fall des Klägers aufgrund der Funktionseinschränkungen im Bereich des rechten Kniegelenkes eine höhere MdE als 20 v.H. ab dem 09.10.2017 – sowohl unter dem Gesichtspunkt einer vorläufigen Rente als auch einer Rente auf unbestimmte Zeit – nicht festzustellen. Lediglich für den Zeitraum der vorübergehenden Verschlimmerung vom 19.03.2020 bis 29.03.2020 hat eine MdE von 30 v.H. bestanden. Insoweit hat der Beklagte einen entsprechenden Vergleich vorgeschlagen, den der Kläger jedoch nicht angenommen hat.

Die Kammer stützt sich auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. E. vom 01.04.2020 sowie auf dessen ergänzende Stellungnahme vom 20.04.2021 und auf die von dem Beklagten eingeholten Gutachten des Dr. H. und drs. I..

Die Beklagte hat zu Recht für den Zeitraum vom 10.05.2016 bis 09.10.2017 eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 v.H. gewährt. Ab dem 10.10.2017 lässt sich jedoch nur noch eine MdE von 20 v.H. feststellen.

Die von Dr. H. und drs. I. im März 2017 erhobenen Befunde haben aufgrund der noch deutlichen Bewegungseinschränkung des rechten Kniegelenkes mit Beugedefizit auf 85 Grad, einer leichten Umfangsminderung und Kraftminderung am rechten Oberschenkel sowie einer allenfalls mäßiggradigen vorderen Instabilität im rechten Kniegelenk eine MdE von 30 v.H. gerechtfertigt. Nach erneuter Operation am 18.08.2017 hat nur noch eine Beugefähigkeit bis 100/110 Grad und einem leichten Streckdefizit ohne Zeichen einer Instabilität bestanden. Es ist daher gerechtfertigt gewesen, die MdE ab dem 10.10.2017, dem Zeitpunkt der erneuten Arbeitsfähigkeit, mit 20 v.H. festzusetzen. Denn auch nach den von Dr. H. und drs. I. am 05.01.2018 erhobenen Befunden hat bei dem Kläger zu diesem Zeitpunkt rechtsseitig nur noch eine leichtgradige Beugeeinschränkung auf 115 Grad ohne Streckdefizit bestanden, die für sich nur eine MdE von unter 10 v.H. gerechtfertigt hätte. Die festgesetzte MdE von 20 v.H. ab dem 04.10.2017 berücksichtigt daher zum einen, dass zunächst nur die Höhe der vorläufigen Rente zu bestimmen war und ferner auch die zu diesem Zeitpunkt noch bestehende mäßiggradige Instabilität sowie die Kraft- und Umfangsminderung am rechten Oberschenkel. Bei der Untersuchung am 24.08.2018 im J. A. bestand neben dem leichtgradigen Beugedifizit von 120 Grad zwar auch ein Streckdefizit, dies war aber nur leichtgradig (5 Grad). Bei dieser Untersuchung hat aber weder klinisch noch MRT-morphologisch noch eine Instabilität bestanden. Eine höhere MdE als 20 v.H. lässt sich daher auch für die Zeit ab November 2018 unter dem Gesichtspunkt einer Rente auf unbestimmte Zeit nicht feststellen.

Erstmals aufgrund der im Rahmen der Untersuchung am 19.03.2019 im Universitätsklinikum K. erhobenen Befund ist eine MdE von 30 v.H. (wieder) gerechtfertigt gewesen. Denn bei dieser Untersuchung hat eine Beugeeinschränkung auf 90 Grad sowie eine Lockerung des Kniebandapparates bestanden, die muskulär nur zum Teil kompensierbar gewesen ist und die die Durchführung einer weiteren Athroskopie mit vorderer Kreuzbandersatzplastik erforderlich gemacht hat. Bereits bei der Nachuntersuchung am 21.11.2019 hat nur noch eine Bewegungseinschränkung von 5 Grad Streckdefizit und 100 Grad Beugedefizit mit wenig Erguss und stabilen Bandverhältnissen bestanden. Auch ein MRT vom 21.01.2020 hat keine Zeichen einer Lockerung, Degeneration oder Ruptur mehr gezeigt. Der Sachverständige Dr. E. hat in dem orthopädisch-unfallchirurgisches Gutachten vom 01.04.2020 aufgrund der Untersuchung am 30.03.2020 ebenfalls nur noch ein Streckdefizit von 5 Grad mit einer Beugefähigkeit auf 130 Grad festgestellt ohne manifeste Hinweise für eine Instabilität oder dauerhafte Reizergussbildung.

Allein die nachgewiesenen Bewegungsdefizite ohne Nachweis einer verbliebenen, muskulär nicht kompensierbaren Instabilität, würden daher nur eine MdE von unter 20 v.H. rechtfertigen. Die dem Kläger dennoch auf Dauer gewährte Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. berücksichtigt die fortbestehende Minderung der Oberschenkelmuskulatur von 2 cm als Zeichen einer Minderbelastbarkeit sowie die Notwendigkeit von Therapiemaßnahmen.

Eine MdE von 30 v.H. lässt sich jedoch spätestens seit der Begutachtung durch Dr. E. nicht mehr feststellen.

Den Ausführungen des auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG gehörten Sachverständigen Prof. Dr. F. konnte die Kammer nicht folgen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich den Ausführungen des Prof. Dr. F., dass ein geringes Streckdefizit mit schmerzhaftem Beugedefizit ab 90 Grad bestünde, nicht entnehmen lässt, bis wieviel Grad der Kläger das Knie noch beugen kann. Da auch eine Beugeeinschränkung auf 90 Grad mit Streckdefizit von 10 Grad nur eine MdE 20 v.H. bedingt, würden diese Bewegungsmaße nur eine MdE von 20 v.H. rechtfertigen. Zu beachten ist aber, dass nach den Berichten des Universitätsklinikums K. über die ambulanten Vorstellungen des Klägers am 10.06.2020 und 04.09.2020 eine freie Beweglichkeit des rechten Kniegelenkes bestanden hat. Auch die von Prof. Dr. F. beschriebene dynamische Instabilität lässt sich im notwendigen Vollbeweis nicht feststellen. Am 10.06.2020 und 04.09.2020 haben keine Hinweise für eine zentrale oder seitliche Instabilität bestanden. Die Außen- und Innenbänder sind in der Stabilitätsprüfung seitengleich und ohne pathologische Aufklappbarkeit gewesen. Eine vordere oder hintere Schublade hat nicht bestanden; der Lachmann-Test ist negativ, der Pivot-Shift nur fraglich positiv gewesen. Auch den MRT-Aufnahmen vom 18.06.2020 und 25.08.2020 lassen sich keine Hinweise für eine Instabilität entnehmen. Manifeste Hinweise für eine Instabilität oder dauerhafte Reizergussbildung liegen daher nicht vor, so dass hierauf auch keine Erhöhung der MdE gestützt werden kann.

Schließlich lassen sich auch die von Prof. Dr. F. beschriebene Sensibilitätsstörungen im Bereich des Ober- und Unterschenkels, die er anteilig auf die Operation vom 18.10.2019 zurückgeführt, nicht im Vollbeweis feststellen. Denn im Rahmen einer neurologischen Untersuchung vom 16.10.2020 ist eine Läsion des Nervus fibularis links ausgeschlossen worden. Der Sachverständige Dr. E. hat daher am 20.04.2021 schlüssig und für die Kammer nachvollziehbar ausgeführt, dass sich die von Prof. Dr. F. erhobenen Befunde sich weder mit den vorausgegangenen noch den nachfolgenden Untersuchungen bestätigen lassen. Daher können diese Befunde der MdE-Bewertung nicht zugrunde gelegt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die vorübergehende Verschlimmerung erst während des laufenden Klageverfahrens eingetreten ist.

 

 

Rechtskraft
Aus
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