Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 5. Mai 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Höhe des in der Zeit vom 6. Februar 2017 bis 11. September 2017 gewährten Arbeitslosengeldes (Alg).
Die Beklagte bewilligte der 1976 geborenen Klägerin, die bis 31. Juli 2015 in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stand, indes bereits am 20. November 2014 unwiderruflich freigestellt worden war, und sodann bis 16. Januar 2017 Kranken- bzw Übergangsgeld bezogen hatte, antragsgemäß Alg für die Zeit vom 6. Februar 2017 bis 11. September 2017, wobei sie als Bemessungsentgelt ein fiktives Arbeitsentgelt der Klägerin unter Einstufung in die Qualifikationsgruppe 3 zugrunde legte. Das nach der Freistellung erzielte Arbeitsentgelt gehöre nicht in den Bemessungszeitraum (endgültige Bewilligung vom 3. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 2017; Aufhebungsbescheid mwV 12. September 2017 vom 6. September 2017).
Den Überprüfungsantrag vom Juni 2020 hinsichtlich des Alg-Anspruchs ab 6. Februar 2017, für dessen Begründung die Klägerin auf das – am selben Tag verkündete – Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. August 2018 (- B 11 AL 15/17 R -) Bezug nahm, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 29. Juni 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. September 2020). Die geänderte Rechtsauffassung des BSG zur Frage der Berücksichtigung des nach der Freistellung erzielten Arbeitsentgelts komme erst für die Zeit ab Verkündung des Urteils (30. August 2018) zum Tragen.
Das Sozialgericht (SG) Neuruppin hat die auf Gewährung von höherem Alg gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 5. Mai 2022), weil eine Berücksichtigung der geänderten Rechtsprechung des BSG gemäß § 330 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) erst nach Verkündung der Entscheidung vom 30. August 2018 (- B 11 AL 15/17 R -) erfolgen könne. Die Klägerin habe Alg aber nur bis 11. September 2017 bezogen.
Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Auf die Berufungsbegründung vom 21. September 2022 wird Bezug genommen.
Die Klägerin beantragt nach ihrem Vorbringen,
das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 5. Mai 2022 und den Bescheid der Beklagten vom 29. Juni 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. September 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Änderung des Bescheides vom 3. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 2017 für die Zeit vom 6. Februar 2017 bis 11. September 2017 höheres Arbeitslosengeld unter Berücksichtigung der in der Zeit der unwiderruflichen Freistellung bis zum 31. Juli 2015 erzielten Arbeitsentgelte zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin, mit der sie ihre statthafte kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 iVm § 56 SGG) weiter verfolgt, ist nicht begründet. Ihr steht im Zugunstenverfahren nach § 44 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) ein Anspruch auf Änderung der Bewilligungsentscheidung vom 3. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 2017 und Zahlung von höherem Alg für die Zeit vom 6. Februar 2017 bis 11. September 2017 nicht zu. Insoweit schließt § 330 Abs. 1 SGB III eine Entscheidung zugunsten der Klägerin aus.
Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X). § 330 Abs. 1 Alt 2 SGB III schränkt den Anwendungsbereich des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ua für den Fall ein, dass der bestandskräftige Verwaltungsakt auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Verwaltungsakts in ständiger Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden ist. Entgegen § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein derartiger Verwaltungsakt im Arbeitsförderungsrecht dann nur mit Wirkung für die Zeit nach dem Entstehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen (vgl zum Ganzen zB BSG, Urteil vom 12. September 2019 – B 11 AL 19/18 R = SozR 4-4300 § 330 Nr 8). § 330 Abs. 1 Alt 2 SGB III soll verhindern, dass so genannte "Trittbrettfahrer" von den Entscheidungen des BSG profitieren (vgl BSG, Urteil vom 8. Februar 2007 – B 7a AL 2/06 R = SozR 4-4300 § 330 Nr 4 – Rn 16).
Die Beklagte ist in dem Bescheid vom 3. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 2017 davon ausgegangen, dass das von der Klägerin, die im Übrigen sämtliche Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alg ab 6. Februar 2017 erfüllte, während der unwiderruflichen Freistellung ab 20. November 2014 bis 31. Juli 2015 erzielte Arbeitsentgelt nicht zum Bemessungszeitraum zählt, da die Klägerin bereits mit der Freistellung aus dem (leistungsrechtlichen) Beschäftigungsverhältnis ausgeschieden sei. Dies entsprach der damaligen Rechtsprechung des BSG (vgl Urteil vom 8. Juli 2009 – B 11 AL 14/08 R = SozR 4-4300 § 130 Nr 6). Danach war bei der Bemessung des Alg der Zeitpunkt des Ausscheidens aus der Beschäftigung anhand der Rechtsprechung des BSG zum leistungsrechtlichen Begriff des Beschäftigungsverhältnisses zu beurteilen, also unabhängig vom rechtlichen Ende des Arbeitsverhältnisses. Danach ist maßgebend, dass die Arbeitsleistung tatsächlich nicht mehr erbracht wird, weil der Arbeitgeber auf seine Verfügungsbefugnis verzichtet (BSG aaO Rn 22 mwN; vgl ebenso BSG, Beschluss vom 30. April 2010 – B 11 AL 160/09 B – juris – Rn 3).
Das BSG hat diese Rechtsprechung mit dem am 30. August 2018 verkündeten Urteil (- B 11 AL 15/17 R = SozR 4-4300 § 150 Nr 5), dh nach Erlass des endgültigen Bewilligungsbescheides vom 3. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 2017, ausdrücklich aufgegeben (aaO Rn 30). Damit hat es die §§ 150,151 SGB III in Bezug auf die Berücksichtigung von während einer unwiderruflichen Freistellung gezahlten und abgerechneten Arbeitsentgelts bei der Alg-Bemessung in ständiger Rechtsprechung (erstmals) anders ausgelegt als die Beklagte in den Ausgangsbescheiden, wofür eine Entscheidung des BSG ausreichen kann (vgl BSG, Urteil vom 21. Juni 2011 – B 4 AS 118/10 R = SozR 4-4200 § 40 Nr 3 – Rn 18 mwN), wenn – wie vorliegend – die Rechtsfrage damit „hinreichend geklärt“ ist. Schon aus den Ausführungen des BSG erhellt zweifelsfrei, dass mit der Entscheidung – entgegen der Auffassung der Klägerin – eine Änderung der Rechtsprechung des BSG erfolgt ist („hält der Senat hieran nicht fest“). Denn die von der Klägerin in ihrer Berufungsbegründung aufgezeigten, am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Regelungen bzw die mWv 1. Januar 1998 vom Gesetzgeber aufgegebene Verbindung von geleisteter Arbeitszeit und Arbeitsentgelt war bereits zum Zeitpunkt der Entscheidungen des 11. Senats aus den Jahren 2009 und 2010 geltendes Recht.
Ist diese Änderung der Rechtsprechung daher nach Maßgabe von § 330 Abs. 1 SGB III „mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung“ des BSG vom 30. August 2018 umzusetzen, ergibt sich hieraus im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X kein Anspruch der Klägerin auf höheres Alg in dem vor dem genannten Zeitpunkt bereits abgelaufenen Streitzeitraum (6. Februar 2017 bis 11. September 2017). Etwas Anderes würde nur dann gelten, wenn der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X schon vor der Entstehung der ständigen Rechtsprechung gestellt worden wäre, was indes nicht der Fall ist (vgl hierzu BSG, Urteil vom 8. Februar 2007 – B 7a AL 2/06 R = SozR 4-4300 § 330 Nr 4). Vorliegend wäre die Klägerin im Ergebnis vielmehr „Trittbrettfahrerin“ der Entscheidung des BSG, was § 330 Abs. 1 Alt 2 SGB III gerade ausschließen will.
Berechnungsfehler des Alg im Übrigen sind nicht ersichtlich und wurden auch von der Klägerin nicht aufgezeigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.