L 10 KR 389/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 11 KR 9/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 KR 389/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 05.02.2019 geändert und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 06.09.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.12.2016 verurteilt, dem Kläger vom 01.09.2016 bis 30.12.2016 sowie vom 10.01.2017 bis 10.04.2017 Krankengeld nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.

 

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.

 

Tatbestand:

 

Streitig ist (noch) die Gewährung von Krankengeld vom 01.09. bis 30.12.2016 sowie 10.01. bis 10.04.2017.

 

Der am 00.00.0000 geborene Kläger war bei der Beklagten aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung versichert. Ab dem 15.03.2016 war er aufgrund einer depressiven Episode arbeitsunfähig und bezog ab dem 26.04.2016 Krankengeld durch die Beklagte. Das Beschäftigungsverhältnis endete zum 31.07.2016. Arbeitsunfähigkeit (AU) war ununterbrochen zuletzt mit Bescheinigung vom 24.08.2016 bis einschließlich 31.08.2016 festgestellt worden. Am 06.09.2016 ging eine als Folgebescheinigung bezeichnete AU- Bescheinigung vom 02.09.2016 für die Zeit bis 27.10.2016 bei der Beklagten ein.

 

Mit Bescheid vom 06.09.2016 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass ihm nur bis zum 31.08.2016 Krankengeld gezahlt werden könne. Die ärztliche Feststellung seiner weiteren AU am 02.09.2016 habe nicht am Tag nach der bisherigen Krankschreibung bis zum 31.08.2016 stattgefunden. Ab dem 01.09.2016 sei er daher nicht mehr mit Anspruch auf Krankengeld bei der Beklagten versichert. Zur Begründung seines hiergegen am 04.10.2016 eingelegten Widerspruchs machte der Kläger geltend, anhand der eingereichten Unterlagen und der gestellten Diagnose sei eindeutig und ohne Zweifel ersichtlich, dass er seit dem 15.03.2016 durchweg erkrankt und bislang keine Genesung bzw Beendigung der Krankschreibung erfolgt sei. Er legte hierzu eine AU-Bescheinigung der Ärztin X., K.Klinik O., vom 31.08.2016 für die Zeit bis 27.10.2016 vor.

 

Mit Bescheid vom 07.12.2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Kläger könne über den 31.08.2016 hinaus kein Krankengeld beanspruchen. Da sein Beschäftigungsverhältnis am 31.07.2016 beendet worden sei, sei für die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf Krankengeld aus der beschäftigten Versicherung erforderlich, dass die weiteren Zeiträume der AU jeweils spätestens am nächsten Werktag nach dem vorhergehenden Zeitraum ärztlich festgestellt worden seien. Hieran fehle es, da für die Zeit nach dem 31.08.2016 AU erst wieder am 02.09.2016 ärztlich festgestellt und bescheinigt worden sei. In der Zeit ab dem 01.09.2016 habe somit kein Versicherungsverhältnis bestanden, aus dem ein Anspruch auf Krankgeld hergeleitet werden könne. Hieran ändere auch die nachträglich eingereichte AU-Bescheinigung der K.Klinik O. nichts, da diese offensichtlich nachträglich ausgestellt worden sei und die rechtzeitige Feststellung der AU nicht ersetzen könne.

 

Am 02.01.2017 hat der Kläger beim Sozialgericht Düsseldorf (SG) Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, er sei nach der AU bis zum 31.08.2016 psychisch und physisch nicht in der Lage gewesen, seinen behandelnden Arzt am 31.08. oder 01.09.2016 aufzusuchen. Aufgrund seiner Erkrankung gebe es immer wieder Situationen und Tage, an denen er blockiert sei, einen normalen Tagesablauf zu führen und zu bewältigen. Zur weiteren Begründung legte er ein fachärztliches Attest des behandelnden Arztes H. vom 22.12.2016 vor, der darlegte, dass der Kläger wegen rezidivierender depressiver Störung, mittelgradig, einfacher Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung sowie anamnestischer grenzwertiger Befunde für typischen Autismus bei ihm behandelt werde. Es bestünden weiterhin tageweise erhebliche Antriebsstörungen mit Verlust der Tagesstruktur. Diese hätten auch dazu geführt, dass der Kläger am 31.08./01.09.2016 seine Folgebescheinigung für die weiter bestehende AU nicht pünktlich eingeholt habe. Vielmehr sei er erst auf Drängen seiner Mutter am 02.09. in die Sprechstunde gekommen. Sein Versäumnis sei krankheitsbedingt nachvollziehbar, so dass die Bescheinigung korrigiert und auf den 31.08.2016 rückdatiert worden sei. Es bestehe lückenlose AU seit dem 15.03.2016.

 

Der Kläger hat im Folgenden fortlaufende AU-Bescheinigungen bis zum 10.04.2017 bei der Beklagten eingereicht. Die Folgebescheinigung vom 30.12.2016 für die Zeit bis 11.01.2017 ist hierbei erst am 10.01.2017 bei der Beklagten eingegangen.

 

Die Beklagte hat vorgetragen, da H. bestätigt habe, dass die weitere Attestierung der AU am 02.09.2016 rückwirkend vorgenommen worden sei, sei der gesetzlich geforderte Tatbestand der lückenlosen Feststellung der weiteren AU nicht erfüllt. Eine Handlungs- und Geschäftsunfähigkeit, die die verspätete ärztliche Vorstellung des Klägers habe begründen können, sei ärztlicherseits nicht bestätigt worden. Der Kläger habe nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht alles in seiner Macht stehende unternommen, um eine ärztliche Feststellung der AU zu erreichen.

 

Das SG hat Befundberichte von H. vom 07.06.2017 und 03.09.2018 sowie des Arztes für Allgemein- und Innere Medizin W. vom 12.06.2017 eingeholt.

 

Im Einverständnis mit den Beteiligten hat das SG am 05.02.2019 ohne mündliche Verhandlung entschieden und die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Gewährung von Krankengeld über den 31.08.2016 hinaus. Für die Gewährung von Krankengeld sei der Kläger verpflichtet gewesen für die Zeit ab dem 01.09.2016 seine AU spätestens an diesem Tage ärztlich bescheinigen zu lassen. Dies sei nicht der Fall gewesen. Bis zum 31.08.2016 habe er Krankengeld bezogen, weil seine auf dem Beschäftigungsverhältnis beruhende Pflichtmitgliedschaft mit Anspruch auf Krankengeld über das Ende seines Arbeitsverhältnisses zum 31.07.2016 hinaus wegen des durchgängigen Krankengeldanspruchs nach § 192 Abs 1 Nr 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) erhalten geblieben sei. Durch das Ausstellen der AU-Bescheinigung erst am 02.09.2016 sei eine Unterbrechung des Krankengeldanspruchs mit der Folge der Beendigung der auf dem Beschäftigungsverhältnis beruhenden Pflichtmitgliedschaft (§ 190 Abs 2, § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V) eingetreten. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG obliege es dem Versicherten, zur Vermeidung einer Unterbrechung von Krankengeldansprüchen und zum Erhalt eines durchgehenden umfassenden Krankgenversicherungsschutzes Pflichtversicherter, für eine Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigung spätestens am folgenden Tag der zuvor bescheinigten AU Sorge zu tragen. Der Kläger habe seinen behandelnden Arzt erst am 02.09.2016 wieder aufgesucht und diese Voraussetzung damit nicht erfüllt. Zwar habe die Rechtsprechung des BSG seit jeher in engeren Grenzen bestimmter Ausnahmen von den Vorgaben und Grundsätzen anerkannt. So seien dem Versicherten gleichwohl Krankengeldansprüche zuerkannt worden, wenn die ärztliche Feststellung (oder die rechtzeitige Meldung der AU nach § 49 Abs 1 Nr 5 SGB V) durch Umstände verhindert oder verzögert worden ist, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen und nicht dem Verantwortungsbereich des Versicherten zuzurechnen sind. Derartiges habe das BSG zB bei Fristversäumnissen wegen Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit des Versicherten, im Fall des verspäteten Zugangs der AU-Meldung bei der Krankenkasse aufgrund von Organisationsmängeln, die diese selbst zu vertreten habe, für Fälle einer irrtümlichen Verneinung der AU aufgrund ärztlicher Fehlbeurteilung sowie bei einem von der Krankenkasse rechtsfehlerhaft bewerteten Maßstab für die Beurteilung der AU nach Aufgabe des letzten Arbeitsplatzes bejaht. Das BSG habe es insofern als entscheidend angesehen, dass der Versicherte die ihm von Gesetz übertragende Obliegenheit, für eine zeitgerechte ärztliche Feststellung der geltend gemachten AU Folge zu tragen, erfülle, wenn er alles in seiner Macht stehende tue, um die ärztliche Feststellung zu erhalten. Nach Auffassung der Kammer habe der Kläger aber nicht alles in seiner Macht stehende getan, um die Feststellung der AU rechtzeitig zu erhalten. Denn nach den durch das Gericht eingeholten Befundberichten stehe fest, dass bei ihm am 31.08. und 01.09.2016 keine Geschäftsunfähigkeit vorgelegen habe. Auch die Aussage von H., dass die Handlungsfähigkeit phasenweise krankheitsbedingt durch die depressive Erkrankung und die Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung deutlich eingeschränkt gewesen sei, so dass er offensichtlich auch im Zeitraum vom 31.08. bis 02.09. nicht in der Lage gewesen sei, seine Angelegenheit zu erledigen, begründet keine Handlungsunfähigkeit im Sinne der genannten Rechtsprechung bei dem Kläger. Denn aus dem ärztlichen Bericht von H. ergebe sich nicht, weshalb die Handlungsfähigkeit des Klägers gerade an diesen Tagen so eingeschränkt gewesen sein soll, dass er nicht in der Lage war, sich beim Arzt vorzustellen oder zumindest telefonisch Kontakt mit ihm aufzunehmen. Weder habe eine Umstellung in der Medikation in diesem Zeitraum stattgefunden, noch haben, wie von der Mutter des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung am 21.08.2018 geltend gemacht, durch sie Telefongespräche mit dem behandelnden Arzt stattgefunden. Darüber hinaus weise das Gericht darauf hin, dass der behandelnde Arzt nicht beschrieben habe, in welcher Ausprägung sich der Befund bei dem Kläger vom 31.08. bzw 01.09.2016 zum 02.09.2016 verändert habe. Insgesamt habe sich das Gericht nach den vorliegenden ärztlichen Unterlagen nicht davon überzeugen können, dass der Gesundheitszustand des Klägers am 31.08. und 01.09.2016 bedingt habe, dass er sich weder persönlich noch telefonisch bei seinem behandelnden Arzt wegen der weiteren Bescheinigung seiner AU habe vorstellen können.

 

Gegen das am 16.04.2019 zugestellte Urteil hat der Kläger am 13.05.2019 Berufung eingelegt. Zur Begründung wiederholt er sein bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor, es könne ihm nicht vorgeworfen werden, er habe nicht alles in seiner Macht stehende unternommen, um eine AU-Bescheinigung zu erhalten. Er habe weder am 31.08.2016 noch am 01.09.2016 irgend etwas unternehmen können. Das Sozialgericht habe weder seine Einlassung noch die Aussage seiner Mutter in seiner Entscheidungsfindung einbezogen. Seine Mutter habe in dem Erörterungstermin am 21.08.2018 vor dem SG ausgesagt, er sei am 31.08 und 01.09.2016 nicht in der Lage gewesen, das Bett oder Wohnung zu verlassen. Diese Aussage decke sich mit der Dokumentation des H..

 

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 05.02.2019 und den Bescheid der Beklagten vom 06.09.2016 in der Gestalt des Widerspruchbescheides vom 07.12.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger über den 31.08.2016 hinaus bis zum 30.12.2016 sowie vom 10.01.2017 bis zum 10.04.2017 Krankengeld im gesetzlichem Umfang zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die angefochtene Entscheidung für rechtmäßig. Soweit H. ganz allgemein Zeiträume beschreibe, in denen der Kläger teilweise nicht in der Lage gewesen sei, die Wohnung zu verlassen oder sich um wichtige Angelegenheiten zu kümmern, könnten diese Zeiträume nicht detailliert benannt und konkretisiert werden. Darüber hinaus ruhe der Anspruch auf Krankengeld wegen verspäteter Vorlage der AU-Bescheinigung vom 30.12.2016 am 10.01.2017 in der Zeit vom 31.12.2016 bis 09.01.2017.

 

Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes einen Befundbericht von H. vom 17.10.2019 eingeholt und in der nichtöffentlichen Sitzung am 22.01.2020 die Mutter des Klägers zu dessen Zustand Ende August/Anfang September 2016 als Zeugin vernommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 22.01.2020 Bezug genommen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der Entscheidung gewesen ist.

 

 

 

Entscheidungsgründe:

 

Die zulässige Berufung, über die Berichterstatter mit Zustimmung der Beteiligten gemäß

§ 155 Abs 3 und 4 iVm § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) anstelle des Senats ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet.

 

Der Bescheid der Beklagten vom 06.09.2016 in Gestalt des Widerspruchbescheides vom 07.12.2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Krankengeld gegenüber der Beklagten auch für die Zeit vom 01.09. bis 30.12.2016 und vom 10.01. bis 10.04.2017, weil er in dieser Zeit arbeitsunfähig war und dies ärztlich festgestellt worden ist.

 

Nach § 44 Abs 1 SGB V haben Versicherte ua Anspruch auf Krankengeld, wenn Krankheit sie arbeitsunfähig macht. Ob und in welchem Umfang Versicherte Krankengeld beanspruchen können, bestimmt sich nach dem Versicherungsverhältnis, das im Zeitpunkt des jeweils in Betracht kommenden Entstehungstatbestandes für Krankengeld vorliegt (vgl BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 32/13 R – in juris Rn 15 mwN). Nach § 46 Abs 2 Satz 1 in der vom 23.07.2015 bis 10.05.2019 gültigen Fassung des Gesetzes zur Stärkung der Versorgung in der GKV (BGBl I 1211), welche vorliegend anzuwenden ist, bleibt der Anspruch auf Krankengeld abweichend von dem hier nicht vorliegenden Fall der Krankenhausbehandlung oder Behandlung in einer Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung (§ 23 Abs 4, 24, 40 Abs 2 und 41 SGB V) jeweils bis zu dem Tag bestehen, an dem die weitere AU wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wird, wenn diese ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolgt;  Samstage gelten als Werktage.

 

Die Mitgliedschaft Versicherungspflichtiger, hier die auf dem Beschäftigungsverhältnis beruhende Pflichtmitgliedschaft mit Anspruch auf Krankengeld, besteht nach dem Wegfall des Beschäftigungsverhältnisses zum 31.07.2016 unter den Voraussetzungen des § 192 SGB V fort. Sie bleibt nach § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V ua erhalten, solange Anspruch auf Krankengeld besteht (vgl BSG, Urteile vom 26.06.2007 – B 1 KR 8/07 R – in juris Rn 16 und vom 04.03.2014 – B 1 KR 17/13 R in juris Rn 15). § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V verweist damit auf die Vorschriften über den Krankengeld-Anspruch, die ihrerseits voraussetzen, dass ein Versicherungsverhältnis mit Anspruch auf Krankengeld vorliegt. Um diesen Anforderungen zu genügen reicht es aus, das Versicherte spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der AU – hier also am 01.09.2016 – alle Voraussetzungen erfüllen, um spätestens an diesem Tag einen Krankengeld-Anspruch entstehen zu lassen (vgl LSG NRW, Urteil vom 26.04.2018 – L 16 KR 353/17 – in juris Rn 29 f).

 

Ausgehend von dieser Rechtslage musste dem Kläger für die Gewährung von Krankgengeld über den 31.08.2016 hinaus grundsätzlich AU bereits am 01.09.2016 ärztlich bescheinigt worden sein, was tatsächlich nicht der Fall war. Obwohl die AU-Feststellung des behandelnden Arztes H. vom 24.08.2016 mit dem 31.08.2016 endete und durch ihn erst am 02.09.2016 eine neue formelle AU-Feststellung erfolgte, trat allerdings (ausnahmsweise) keine Unterbrechung des Krankengeld-Anspruchs mit der Folge der Beendigung der auf dem Beschäftigungsverhältnis beruhenden Pflichtmitgliedschaft (§ 190 Abs 2, § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V) ein.

 

Zwar obliegt es nach ständiger Rechtsprechung des BSG dem Versicherten grundsätzlich, zur Vermeidung einer Unterbrechung von Krankengeldansprüchen für eine Folge-AU-Bescheinigung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der AU Sorge zu tragen. Maßgebend für den Krankengeld-Beginn ist dabei nicht der „wirkliche“ oder „ärztlich attestierte“ Beginn der AU, sondern der Tag der ärztlichen Feststellung. Es obliegt allein dem Versicherten, die Feststellung der AU herbeizuführen und ggf fortgesetzt rechtzeitig feststellen zu lassen. Dies kann regelmäßig anlässlich der ärztlichen Behandlung und Diagnostik geschehen und stellt auch in den übrigen Fällen keine unzumutbaren Anforderungen an den Versicherten (vgl BSG, Urteile vom 16.12.2014 - B 1 KR 37/14 R -, vom 04.03.2014 – B 1 KR 17/13 R und vom 10.05.2012 – B 1 KR 20/11 R – jeweils in juris).

 

Diese Grundsätze greifen jedoch nicht zum Nachteil des Klägers ein, denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme liegt ein diese Grundsätze verdrängender und zu Krankengeld – Ansprüchen führender Ausnahmefall vor.

 

Trotz der gebotenen grundsätzlich strikten Anwendung der oa gesetzlichen Regelungen hat die Rechtsprechung des BSG seit jeher in engen Grenzen bestimmte Ausnahmen von den Vorgaben und den Grundsätzen anerkannt, wenn die rechtzeitige ärztliche Feststellung (oder die fristgerechte Meldung der Arbeitsunfähigkeit nach § 49 Abs 1 Nr 5 SGB V) durch Umstände verhindert oder verzögert worden ist, die entweder auf einer Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit des Versicherten beruhten oder dem Verantwortungsbereich der Krankenkasse und nicht demjenigen des Versicherten zuzurechnen sind (vgl zusammenfassend BSG, Urteil vom 11.05.2017 – B 3 KR 22/15 R – in juris Rn 22 mwN). Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit für den weiteren Bewilligungsabschnitt kann ausnahmsweise – rückwirkend – nachgeholt werden, wenn der Versicherte aufgrund von Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit an einer Wiedervorstellung beim Arzt gehindert gewesen ist (vgl BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 1 KR 37/14 R – in juris Rn 24 mwN).

 

Für eine fehlende Geschäftsunfähigkeit liegen im Fall des Klägers keine Anhaltspunkte vor. Auch eine Handlungsunfähigkeit im rechtlichen Sinne hat nicht vorgelegen. Eine solche wird zB angenommen bei Bergunfällen mit Rettung erst nach einigen Tagen oder Ohnmachtsanfällen Alleinstehender mit Auffinden erst Tage später (vgl Sonnhoff in Schlegel/Voelske, juris PK – SGB V, 3. Aufl 2016, § 46 SGB V Rn 42). Darüber hinaus kann eine tatsächliche Handlungsfähigkeit vorliegen, wenn der Versicherte sich in einem gesundheitlichen Ausnahmezustand befindet, der in derart lähmt, dass er gerade noch in der Lage ist, sich um die körperlichen Grundbedürfnisse zu kümmern, nicht hingegen einen Arzt aufzusuchen oder anzurufen (vgl Hessisches LSG, Urteil vom 04.04.2019 – L 1 KR 588/18 in juris Rn 22; SG Aachen, Urteil vom 14.03.2017 – S 13 KR 312/16 – in juris Rn 26).  Gerade bei psychischen Erkrankungen kann es zumindest vorübergehend zu einem solchen oder vergleichbaren Zustand kommen, in welchem dem Versicherten krankheitsbedingt eine Meldung nicht möglich ist. Denn maßgeblich kann nur sein, ob der Versicherte zu einer entsprechenden Willensanspannung überhaupt noch in der Lage war, um die für eine Feststellung erforderlichen Handlungen vorzunehmen. Ob hieraus eine vorübergehende Geschäftsunfähigkeit folgt, kann nicht im Vordergrund stehen und wird sich im Einzelfall nur schwer ermitteln lassen (vgl Sonnhoff, aaO). Dies kann insbesondere beim Vorliegen einer schweren Depression der Fall sein. Bereits bei einer mittelgradigen depressiven Episode hat der Betroffene bereits „meist große Schwierigkeiten alltägliche Aktivitäten fortzusetzen“ (vgl Hessisches LSG, aaO).

 

Im Falle des Klägers liegt ein solcher Ausnahmefall vor, der es im Hinblick auf die vom BSG aufgestellten Kriterien rechtfertigt, dass die am 31.08./01.09.2016 unterbliebene ärztliche Feststellung der AU ausnahmsweise rückwirkend nachgeholt werden konnte und dies krankenversicherungsrechtlich anzuerkennen ist. Der behandelnde Arzt des Klägers, H., hat in seinen Befundberichten eingehend dargelegt, dass bei diesem im gesamten Behandlungszeitraum erhebliche Zustandsschwankungen bestanden und seine  Handlungsfähigkeit phasenweise krankheitsbedingt durch die depressive Erkrankung sowie die Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung deutlich eingeschränkt war, so dass er offensichtlich im Zeitraum vom 31.08. bis 01.09.2016 nicht in der Lage war, seine Angelegenheiten zu erledigen. Zwar konnte H. zum konkreten Zustand des Klägers an diesen Tagen keine Angaben aus eigener Anschauung machen. Die von ihm beschriebenen Stimmungsschwankungen mit möglicher (faktischer) Handlungsunfähigkeit des Klägers für den 31.08. und 01.09.2016 sieht der Senat aber aufgrund der glaubhaften Aussage der Zeugin Stechow in dem Termin am 22.01.2020 als erwiesen an. Die auf den Senat äußerst glaubwürdig wirkende Zeugin hat ausgeführt, dass der Zustand des Klägers Anfang September so gewesen sei, dass er nur im Bett gelegen habe. Obwohl die Zeugin ihn auf die Problematik der nahtlosen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hingewiesen und ihm angeboten habe, ihn zu begleiten, habe dieser nicht einmal klar geantwortet. Er sei an diesem Tag überhaupt nicht in der Lage gewesen, aufzustehen. Zwar hat die Zeugin angegeben – was die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage unterstreicht – dass sie zu dem Zustand des Klägers am 31.08.2016 keine konkreten Angaben machen könne. Vielmehr könne sie sich nur an das Bild und ihr Gefühl am letzten Tag der Frist erinnern. Sie hat aber dargelegt, dass es wohl so war, dass es ihm da schon schlechter gegangen sei und er wahrscheinlich den Arztbesuch deshalb auf den letzten Tag verschoben habe. Insgesamt hat sie die Stimmung ihres Sohnes als sehr schwankend beschrieben und mit ihrer Aussage die aufgrund seiner Behandlungserfahrung durch H. geäußerte Vermutung, der Kläger sei am 31.08./01.09.2016 faktisch handlungsunfähig gewesen, bestätigt. Auch der Kläger selber hat in seiner Einlassung gegenüber dem Senat vom 22.01.2020 glaubhaft dargelegt, dass er sich einfach nicht habe aufraffen können, die Wohnung zu verlassen und sich auch nicht in der Lage gefühlt habe, Gespräche zu führen. Erst am 02.09.2016 sei es ihm etwas besser gegangen  und  er habe sich aufraffen können. Insgesamt habe es sich seinerzeit um  extreme Stimmungsschwankungen gehandelt.

 

Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme ist der Senat davon überzeugt, dass sich der Kläger in einem durch seine psychische Situation ausgelösten Zustand der Passivität („Lähmung“) befunden hat, der es ihm unmöglich machte, am 01.09.2016 zum Arzt zu gehen, ja sogar nur die Praxis anzurufen. Dieser Zustand mag im rechtlichen Sinne noch keine (zeitweilige) Geschäfts- oder Handlungsunfähigkeit bedingt haben. Eine tatsächliche Handlungsunfähigkeit des Klägers am 01.09.2016 ist zur Überzeugung der Kammer jedoch plausibel und glaubhaft.

 

Im Falle des Klägers lag daher ein Ausnahmefall vor, der es rechtfertigt, dass die am 31.08. und 01.09.2016 unterbliebene ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ausnahmsweise rückwirkend nachgeholt werden konnte. Unerheblich ist insofern, dass der konkrete Zustand am 31.08.2016 nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden konnte. Nach den gesetzlichen Vorgaben konnte der Kläger die AU rechtswirksam auch noch am 01.09.2016 feststellen lassen. Es kann insofern nicht zu seinen Lasten gehen, wenn er die gesetzliche Frist voll ausschöpfen wollte und dann krankheitsbedingt an diesem Tage gehindert war, den Arzt aufzusuchen. Dadurch, dass er sich am 02.09.2016 bei seinem behandelnden Arzt vorgestellt hat, hat er das ihm zumutbare getan, um den Krankengeldanspruch über den 31.08.2016 hinaus sicherzustellen.

 

Allerdings scheidet die Zahlung von Krankengeld für die Zeit vom 31.12.2016 bis 09.01.2017 aus, da er die am 30.12.2016 ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erst am 10.01.2017 bei der Beklagten und damit verspätet vorgelegt hat. Der Kläger hat sein Klagebegehren daher insofern zuletzt auch nicht weiterverfolgt.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 SGG nicht vorliegen. Insbesondere kommt den im vorliegenden Rechtsstreit maßgeblichen Rechtsfragen nach der am 11.05.2019 in Kraft getretenen Änderung des § 46 Abs 2 SGB V (Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung – Terminservice – und Versorgungsgesetz – vom 06.05.2019 BGBl I 646) keine grundsätzliche Bedeutung (mehr) zu.

 

Rechtskraft
Aus
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