L 1 U 365/22

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 10 U 360/19
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 1 U 365/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

 § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII, § 40 SGB V

Gesetzliche Unfallversicherung - Arbeitsunfall -  - Entgegennahme medizinischer Maßnahmen – ambulante Physiotherapie - medizinische Rehabilitation -

1. Für ambulante Maßnahmen besteht nur hinsichtlich der Rehabilitation Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII.

2.Leistungen ambulanter (§ 40 SGB V) medizinischer Rehabilitation werden erbracht durch besondere Rehabilitationseinrichtungen. Da auch ambulante Rehabilitationsleistungen nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB V generell in „Rehabilitationseinrichtungen“ erbracht werden, gilt auch hier, dass der Inhalt der medizinischen Leistungen auf der Grundlage eines ganzheitlich orientierten, komplexen und individuellen (vgl. §§ 4 Abs. 1 Nr. 4 u. Abs. 2, 8 Abs. 1 u. 3, 42 Abs. 3 SGB IX) unter ärztlicher Verantwortung und Mitwirkung des Reha-Teams (vgl. § 107 Abs. 2 Nr. 2 SGB V) erstellten Konzepts zu erfolgen hat. Diese Kriterien erfüllt eine physiotherapeutische Praxis nicht. 

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 20. Januar 2022 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

T a t b e s t a n d

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger am 21. August 2017 einen Arbeitsunfall erlitten hat.

Am 22. Oktober 2018 ging bei der Beklagten der Durchgangsarztbericht des K vom 17. Oktober 2018 ein, wonach der Kläger am 21. August 2017 mit dem Motorrad auf dem Weg zur Physiotherapie unterwegs war, als ein entgegenkommender Pkw links abbog, ihm die Vorfahrt nahm, er stürzte und Trümmerbrüche an beiden Handgelenken erlitt. Der Kläger teilte der Beklagten telefonisch ergänzend mit, er habe seit dem 24. Juli 2017 nach einer vorangegangenen Schultererkrankung eine stundenweise betriebliche Wiedereingliederung im eigenen Betrieb absolviert. Der Beginn der vollen Arbeitsaufnahme sei für den 4. September 2017 geplant gewesen. Die Schultererkrankung sei keine Verletzung infolge eines Arbeitsunfalls gewesen. Die I teilte der Beklagten mit, der Kläger sei bereits seit dem 16. März 2017 arbeitsunfähig gewesen. Vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit habe er ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bei der Firma S GmbH ausgeübt. Sie habe am Unfalltag keine Kosten für eine medizinische Rehabilitation bzw. Heilmittel übernommen. Die Behandlung sei höchstwahrscheinlich vom Rentenversicherungsträger gezahlt worden. Die Praxis W bestätigte einen vereinbarten Termin zur ambulanten Physiotherapie in der Praxis am 21. August 2017. Der Kläger sei bereits seit 2015 bei ihr in physiotherapeutischer Behandlung. Grund hierfür sei eine Rotatorenmanschettenverletzung der rechten Schulter.

Mit Bescheid vom 29. November 2018 teilte die Beklagte dem Kläger mit, er habe am 21. August 2017 keinen Versicherungsfall erlitten. Ein Anspruch auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung bestehe nicht. Der grundsätzlich mögliche Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 15a des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) greife nicht ein. Bei der ihm verordneten ambulanten Krankengymnastik handle es sich nicht um eine interdisziplinäre, komplexe und ganzheitlich ausgerichtete Rehabilitationsmaßnahme, sondern um eine isolierte, kurative (heilende) Behandlung als ergänzende Leistung zur medizinischen Rehabilitation auf der Grundlage des § 43 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) i.V.m. § 44 Abs. 1 Nr. 3 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX). Die Durchführung auf dieser gesetzlichen Grundlage sei nicht vom Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung erfasst. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und vertrat die Ansicht, auch für ambulant durchgeführte Therapien bestehe Versicherungsschutz. Insoweit dürfte es nicht ausschließlich darauf ankommen, wie die konkrete Leistung zu bezeichnen sei, sondern vielmehr auf den Sinn und Zweck der Vorschrift und die Intention des Gesetzgebers. Er verweise hierzu auf das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober 2014 (L 14 U 702/13). Der Versicherte solle gegen die besonderen Risiken geschützt werden, die sich aus der Entgegennahme der Behandlung bzw. dem Verweilen in fremder Umgebung ergäben und denen er bei im Normalfall anzutreffenden häuslichen Gegebenheiten nicht begegnet wäre. Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Januar 2019 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die zitierte Entscheidung sei nicht einschlägig, weil es sich dort um eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme gehandelt habe.

Im Klageverfahren wiederholt der Kläger seine Argumente aus dem Widerspruchsverfahren. Eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme sei seinerzeit nicht durchgeführt worden. Er habe lediglich physiotherapeutische Behandlungen auf Kosten der Krankenkasse erhalten.

Mit Urteil vom 20. Januar 2022, zugestellt am 20. April 2022, hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Soweit der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung gesetzlicher Leistungen begehre, sei die Klage unzulässig. Im Übrigen sei die Klage unbegründet. Erforderlich für den Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung sei, dass ambulante Behandlungen im Rahmen eines Rehabilitationskonzepts erfolgten. Die schlichte Verordnung von Krankengymnastik durch einen behandelnden Arzt ohne zugrundeliegendes Rehabilitationskonzept oder entsprechender Leistungsbewilligung durch den Rehabilitationsträger erfülle die Voraussetzungen im Sinne der Vorschrift nicht.

Hiergegen hat der Kläger am 17. Mai 2022 Berufung eingelegt. Er wiederholt im Wesentlichen seinen Vortrag aus dem erstinstanzlichen Verfahren. Den erstinstanzlich gestellten Leistungsantrag hat er nicht aufrechterhalten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 20. Januar 2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. November 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Januar 2019 aufzuheben und den Unfall vom 21. August 2017 als Arbeitsunfall festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf den Akteninhalt und die Feststellungen des angefochtenen Verwaltungsaktes sowie auf das zutreffende Urteil des Sozialgerichts vom 20. Januar 2022. Die vom Kläger zum Unfallzeitpunkt anvisierte Maßnahme sei eine schlichte physiotherapeutische Behandlungsmaßnahme gewesen, die nicht vom Versicherungsschutz des § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII umfasst sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der Entscheidung war.

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]).

Die Berufung des Klägers ist zulässig, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Der Kläger verfolgt sein Begehren hier mit der statthaften kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1, § 56 SGG. Die Anfechtungsklage zielt auf die gerichtliche Aufhebung der Ablehnungsentscheidung in dem angefochtenen Bescheid (§ 95 SGG), die Feststellungsklage auf die gerichtliche Feststellung des Ereignisses vom 21. August 2017 als Arbeitsunfall.

Der Bescheid der Beklagten vom 29. November 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Januar 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat am 21. August 2017 keinen Arbeitsunfall erlitten.

Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass der Verletzte durch eine Verrichtung vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb Versicherter ist. Seine Verrichtung zur Zeit des Unfalls muss der versicherten Tätigkeit zuzurechnen sein (innerer oder sachlicher Zusammenhang). Die Verrichtung muss zu einem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis geführt haben (Unfallkausalität) und das Unfallereignis muss dadurch einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht (haftungsbegründende Kausalität) haben (st. Rspr; vgl. BSG, Urteil vom 30. März 2023 - B 2 U 3/21 R, m.w.N., Rn. 11, nach juris).

Der Kläger hat zum Zeitpunkt des Motorradunfalls keine, hier einzig in Betracht kommende, versicherte Tätigkeit nach § 2 Nr. 15a SGB VII ausgeübt.

Nach § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII sind kraft Gesetzes versichert Personen, die auf Kosten einer Krankenkasse oder eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung oder der landwirtschaftlichen Alterskasse stationäre oder teilstationäre Behandlung oder stationäre, teilstationäre oder ambulante Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erhalten.

Danach sind Personen versichert, die auf Kosten bestimmter Träger eine stationäre oder teilstationäre Krankenhausbehandlung bzw. Rehabilitationsmaßnahme oder eine ambulante Rehabilitationsmaßnahme durchführen (Riebel in: Hauck/Noftz, SGB VII, 4. Ergänzungslieferung 2023, § 2 SGB VII, Rn. 216).

Der Kläger war am 21. August 2017 auf dem Weg zur Inanspruchnahme einer ärztlich verordneten ambulanten physiotherapeutischen Behandlung bei der Physiotherapeutin W. Kostenträger war nach dem Vortrag des Klägers, dem der Senat folgt, die Krankenkasse. Die gewährte Leistung zählt nicht zu den in § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII genannten Leistungen.

Leistungen stationärer, teilstationärer oder ambulanter (§ 40 SGB V) medizinischer Rehabilitation werden durch besondere Rehabilitationseinrichtungen erbracht. Hierzu zählen die Einrichtungen nach § 107 Abs. 2 SGB V. Nach § 107 Abs. 2 SGB V sind Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen Einrichtungen, die (1) der stationären Behandlung der Patienten dienen, um (a) eine Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde, zu beseitigen oder einer Gefährdung der gesundheitlichen Entwicklung eines Kindes entgegenzuwirken (Vorsorge) oder (b) eine Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern oder im Anschluss an Krankenhausbehandlung den dabei erzielten Behandlungserfolg zu sichern oder zu festigen, auch mit dem Ziel, eine drohende Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern (Rehabilitation), wobei Leistungen der aktivierenden Pflege nicht von den Krankenkassen übernommen werden dürfen, (2) fachlich-medizinisch unter ständiger ärztlicher Verantwortung und unter Mitwirkung von besonders geschultem Personal darauf eingerichtet sind, den Gesundheitszustand der Patienten nach einem ärztlichen Behandlungsplan vorwiegend durch Anwendung von Heilmitteln einschließlich Krankengymnastik, Bewegungstherapie, Sprachtherapie oder Arbeits- und Beschäftigungstherapie, ferner durch andere geeignete Hilfen, auch durch geistige und seelische Einwirkungen, zu verbessern und den Patienten bei der Entwicklung eigener Abwehr- und Heilungskräfte zu helfen, und in denen (3) die Patienten untergebracht und verpflegt werden können.

Da auch ambulante Rehabilitationsleistungen nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB V generell in „Rehabilitationseinrichtungen“ erbracht werden, gilt auch hier, dass Inhalt der medizinischen Leistungen auf der Grundlage eines ganzheitlich orientierten, komplexen und individuellen (vgl. §§ 4 Abs. 1 Nr. 4 u. Abs. 2, 8 Abs. 1 u. 3, 42 Abs. 3 SGB IX) unter ärztlicher Verantwortung und Mitwirkung des Reha-Teams (vgl. § 107 Abs. 2 Nr. 2 SGB V) erstellten Konzepts sämtliche Hilfen sind, die der rehabilitationsspezifischen Diagnostik, der Verbesserung oder Stabilisierung des - häufig durch Krankenbehandlung bereits erreichten - Zustands der Behinderung und der Aktivierung oder Modifizierung von Selbstheilungs- und -hilfekräften bzw. Eigenmotivation (Hilfe zur Selbsthilfe) dienen (vgl. Noftz in: Hauck/Noftz, SGB VII, 4. Ergänzungslieferung 2023, § 40 SGB V, Rn. 16a, nach juris).

Bei der Praxis W handelt es sich nicht um eine Rehabilitationseinrichtung im Sinne des § 107 Abs. 2 SGB V. Ebenso handelt es sich bei der dem Kläger verordneten Physiotherapie nicht um eine Komplexleistung im oben genannten Sinne. Dem Kläger wurde (nur) wiederholt Physiotherapie verordnet. Ein weiteres Konzept ist nicht ersichtlich oder vorgetragen. Es handelt sich daher um (ambulante) Krankenbehandlung, zu der nach § 27 Abs. 1 Nr. 3 SGB V auch die Versorgung mit Heilmitteln nach § 32 SGB V - hier der Physiotherapie - gehört und die nicht vom Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 15a SGB VII erfasst wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 SGG sind nicht gegeben.

Rechtskraft
Aus
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