I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Leistungen der Eingliederungshilfe durch Kostenübernahme für den Besuch der heilpädagogischen Tagesstätte der L. im X. unter Zugrundelegung der Hilfebedarfsgruppe 1 bis zum 04.03.2023 zu erbringen.
II. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
G r ü n d e :
I.
Die Antragstellerin begehrt in Wege der einstweiligen Anordnung die Kostenübernahme für den Besuch einer heilpädagogischen Tagesstätte als Leistung der Eingliederungshilfe für Ausländer.
Die am xx.xx.xxxx geborene Antragstellerin ist uk. Staatsbürgerin. Es besteht bei ihr u.a. eine Trisomie 21. Sie ist am 13.03.2022 zusammen mit ihrer Mutter und einer älteren Schwester als Flüchtling aus der U. (K.) nach Deutschland eingereist und besitzt eine bis 04.03.2024 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG. Vormittags besucht sie die Y. der L. in L., eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.
Am 04.05.2023 beantragte die Antragstellerin beim Antragsgegner die Kostenübernahme für den (nachmittäglichen) Besuch der an der Schule angeschlossenen heilpädagogischen Tagesstätte der L. X.. Die Mutter der Antragstellerin hatte in der U. Deutsch studiert und viele Jahre für eine deutsche Firma gearbeitet. Zurzeit arbeitet sie als Dolmetscherin für das J. und bezieht ergänzend Leistungen nach dem SGB II.
In der Verwaltungsakte des Antragsgegner finden sich ein sonderpädagogisches Gutachten der Y. vom 22.10.2022 und ein Entwicklungsbericht zum Antrag zur Hilfebedarfsgruppe der heilpädagogischen Tagesstätte der L. vom 27.06.2023, wonach bei der Antragstellerin - trotz guter Ansätze bzgl. der Selbstversorgung (z.B. An- und Ausziehen, Toilettengang, Essen) - ein hoher, umfänglicher Förderbedarf in den Bereichen Selbstversorgung, Kommunikation und Sprache, Denken und Lernen sowie Wahrnehmung und Bewegung bestehe. Die Antragstellerin weise einen erhöhten sonderpädagogischen Förderbedarf in mehreren zentralen Entwicklungsbereichen auf und bedürfte einer umfänglichen und ganzheitlichen Förderung. Für die Antragstellerin sei eine kleine, überschaubare Gruppe mit klaren Strukturen, individueller Unterstützung in allen Bereichen und dem Wechsel zwischen Arbeit, Spiel und Bewegung notwendig, um ihre Selbstständigkeit, ihre Kommunikationsfähigkeit sowie ihr Sprachverständnis weiter zu fördern. Die Antragstellerin habe Defizite sowohl im fein- als auch im grobmotorischen Bereich, sie habe Probleme mit dem Gleichgewicht und der Orientierung und ihr Gefahrenbewusstsein sei noch nicht ausgeprägt. Durch die heilpädagogische Förderung könnten diese Defizite reduziert werden, die Antragstellerin hätte auch die Möglichkeit der medizinisch-therapeutischen Förderung in Form von Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie. Der sozialmedizinische Dienst des Antragsgegners stellte unter dem 19.09.2023 grundsätzlich einen Förderbedarf der Antragstellerin fest, der der Hilfebedarfsgruppe 1 in heilpädagogischen Tagesstätten entspricht. Ein außerordentlich hoher Hilfebedarf besteht aus Sicht des sozialmedizinischen Dienstes nach Aktenlage nicht.
Nach Anhörung der Antragstellerin lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 18.10.2023 den Antrag auf Übernahme der Kosten der Eingliederungshilfe für die teilstationäre Betreuung der Antragstellerin in der heilpädagogischen Tagesstätte der L. ab. Die Antragstellerin sei mit ihrer Mutter aus der U. vor dem Krieg geflohen. Es sei daher von einem begrenzten Aufenthalt in Deutschland auszugehen. Die Aufenthaltserlaubnis sei bis 04.03.2024 befristet. Gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 SGB IX könne die Antragstellerin als Ausländerin mit begrenztem Aufenthalt in Deutschland deshalb (nur) Eingliederungshilfe als Ermessensleistung erhalten, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt sei. Hierfür genüge nicht ein bestehender Bedarf, weil dieser ohnehin für jede Hilfe vorausgesetzt werde. Vielmehr müssten besondere Umstände hinzukommen, die es darüber hinaus gerechtfertigt erscheinen ließen, dass weitergehende Hilfen geleistet würden. Die bei der Antragstellerin festgestellte Hilfebedarfsgruppe 1 bedeute einen geringen Hilfebedarf. Jedenfalls liege ein außerordentlich hoher Hilfebedarf nicht vor. Es werde deshalb davon ausgegangen, dass die aufgrund der Behinderung bestehenden Bedarfe bzw. das Recht auf Schulbildung der Antragstellerin bereits durch den Besuch des Förderzentrums ( Y.) ausreichend gedeckt würden. Die Betreuung und Förderung der Antragstellerin in einer heilpädagogischen Tagesstätte sei nicht erforderlich und nicht angemessen.
Die Antragstellerin legte dagegen am 06.11.2023 Widerspruch ein.
Am 09.01.2023 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Nürnberg den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt und zur Begründung ausgeführt, § 100 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sei verfassungskonform und europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass es unzulässig sei, die Antragstellerin nach Ermessen von Eingliederungshilfe auszuschließen. Hier sei der Aufenthalt der Antragstellerin auf unabsehbare Zeit in Deutschland, sodass ohne weiteres von einem dauerhaften Aufenthalt auszugehen sei. Selbst wenn vorliegend Ermessen eröffnet wäre, läge eine Ermessensreduzierung auf null vor, weshalb der geltend gemachte (Anordnungs)anspruch auf Eingliederungshilfe bestehe. Der Anordnungsgrund ergebe sich aus der dringenden Eilbedürftigkeit, um eine möglichst vollständige soziale Integration und individuelle Entfaltung der Antragstellerin zu ermöglichen. Zeiten ohne Förderung im Kindesalter gefährdeten diese Ziele unter Umständen auf nicht mehr reparable Weise.
Der Antragsgegner hat mit Schriftsatz vom 15.11.2023 erwidert, aus der Regelungssystematik des § 100 SGB IX ergebe sich, dass die Gewährung von Eingliederungshilfe für Ausländer grundsätzlich im Ermessen der Behörde stehe. Aufgrund der gegenwärtig erteilten befristeten Aufenthaltserlaubnis bis 04.03.2024 gehe der Antragsgegner aktuell nicht von einem voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt im Sinne von § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX aus. Ein Aufenthaltstitel nach § 24 AufenthG wie derjenige der Antragstellerin sei nach dem erkennbaren gesetzgeberischen Willen nur auf vorübergehende Dauer angelegt. Im Falle des Endes des völkerrechtswidrigen Überfalls R. auf die U. würde der Aufenthaltsgrund entfallen und der Aufenthaltstitel würde widerrufen werden. Als Anordnungsgrund könne im vorliegenden Fall nicht die Eilbedürftigkeit angeführt werden, da eine vormittägliche Beschulung und Förderung bereits erfolge.
Im Rahmen eines Erörterungstermins am 23.11.2023 hat der Antragsgegner ausgeführt, es sei auch aus seiner Sicht unstreitig, dass die Antragstellerin einen Anspruch auf Besuch der heilpädagogischen Tagesstätte mit Hilfebedarfsgruppe 1 hätte, wenn sie Deutsche wäre. Bzgl. der Dauerhaftigkeit des Aufenthalts der Antragstellerin in Deutschland könne man keine Prognose abgeben, es stehe jedenfalls nicht sicher fest, dass die Aufenthaltserlaubnis verlängert werde.
Die Mutter der Antragstellerin hat in dem Termin erklärt, sie arbeite momentan halbtags als Dolmetscherin beim J. und verdiene dadurch weitgehend den Lebensunterhalt für die Familie. Ob der Vertrag beim J. verlängert werde, stehe noch nicht fest. Aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse und ihrer beruflichen Qualifikation gehe sie davon aus, dass sie beruflich in Deutschland gut Fuß fassen könne. Sie habe zuletzt bei Firma B. im Bereich Public Relations und Kommunikation gearbeitet. In ihrer Heimatstadt K. seien alle Möglichkeiten der Eingliederungshilfe für ihre Tochter vernichtet und zerstört. Sie erwäge, im kommenden Jahr statt eines Aufenthaltstitels zur Gewährung von vorübergehendem Schutz (§ 24 AufenthG) einen Aufenthaltstitel zum Zwecke der Erwerbstätigkeit zu beantragen.
Die Antragstellerin beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, an die Antragstellerin vorläufig Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für den Besuch der heilpädagogischen Tagesstätte der L. für Menschen mit Behinderung, Kreisvereinigung X. e.V., unter Zugrundelegung der Hilfebedarfsgruppe 1 zu erbringen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Sinne des § 86b Abs. 2 SGG ist zulässig, insbesondere liegt kein Fall des Abs. 1 der Vorschrift vor, weil die Hauptsache nicht im Wege der isolierten Anfechtungsklage zu verfolgen wäre. Es besteht auch ein Rechtsschutzbedürfnis - die Antragstellerin hat sich (bislang erfolglos) bereits an den Antragsgegner gewandt (vgl. insg. MKS/Keller, 14. Aufl. 2023, SGG § 86b Rn. 26, 26b).
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet.
Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) in Verbindung mit § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen. Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann (vgl. z.B. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 31.10.2023, L 3 AS 2391/23 ER-B).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat die Antragstellerin das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht.
Rechtsgrundlage für die begehrte Leistung der Eingliederungshilfe zur Teilhabe an Bildung in Form des Besuchs der heilpädagogischen Tagesstätte ist § 99 Abs. 1 SGB IX in Verbindung mit § 102 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX und § 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 und 3 SGB IX.
Gemäß § 99 Abs. 1 SGB IX erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 SGB IX erfüllt werden kann. Dass die Antragstellerin grundsätzlich zum leistungsberechtigten Personenkreis gehört, weil bei ihr eine wesentliche Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB IX vorliegt und ein grundsätzlicher Bedarf an Leistungen der Eingliederungshilfe besteht (nach Hilfebedarfsgruppe 1), ist zwischen den Beteiligten unstreitig.
Nach § 100 Abs. 1 Satz 1 SGB IX können Ausländer, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Nach § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX gilt die Einschränkung auf Ermessensleistungen nach Satz 1 der Vorschrift nicht für Ausländer, die im Besitz einer Niederlassungserlaubnis oder eines befristeten Aufenthaltstitels sind und sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet aufhalten. Andere Rechtsvorschriften, nach denen Leistungen der Eingliederungshilfe zu erbringen sind, bleiben nach § 100 Abs. 1 Satz 3 SGB IX unberührt.
Das Gericht ist der Auffassung, dass vorliegend die Voraussetzungen des § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX glaubhaft gemacht sind.
Die Antragstellerin ist im Besitz eines bis 04.03.2024 befristeten Aufenthaltstitels nach § 7 und § 24 AufenthG (Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz).
Sie hat auch glaubhaft gemacht, dass sie sich voraussichtlich dauerhaft im Bundesgebiet im Sinne von § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX aufhält. Die Tatsache, dass ihr (vorerst) nur ein (auf zwei Jahre) befristeter Aufenthaltstitel erteilt wurde, steht einer solchen Prognose nicht entgegen. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz, weil § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX gerade das Vorliegen eines befristeten Aufenthaltstitels (oder einer Niederlassungserlaubnis) neben einem voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt im Bundesgebiet fordert.
Ob der Aufenthalt in Deutschland voraussichtlich dauerhaft ist, ist im Rahmen einer Prognoseentscheidung unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls durch die zuständige Behörde (bzw. im gerichtlichen Verfahren) festzustellen. Es handelt sich um einen voll gerichtlich überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff. Gesichtspunkte sind berufliche, soziale und finanzielle Bindungen an Deutschland. Die Dauerhaftigkeit setzt voraus, dass aufgrund der genannten Bindungen nicht damit zu rechnen ist, dass der Ausländer die Bundesrepublik Deutschland in absehbarer Zeit verlässt (vgl. Dr. Stephan Gutzler in: Hauck/Noftz SGB IX, 3. Ergänzungslieferung 2023, § 100 SGB 9 2018, Rn. 14).
Im Erörterungstermin am 23.11.2023 hat der Antragsgegner darauf hingewiesen, er könne bezüglich der Zukunft keine Prognose abgeben, es stehe aber jedenfalls nicht sicher fest, dass die Aufenthaltserlaubnis der Antragstellerin verlängert werde. Damit verkennt der Antragsgegner die Bedeutung des Wortes voraussichtlich in § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX bzw. das Wesen einer Prognoseentscheidung als einer in die Zukunft gerichteten und damit immer mit Unsicherheiten behafteten Entscheidung. Voraussetzung für einen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX ist gerade nicht, dass der Antragsteller sich sicher dauerhaft im Bundesgebiet aufhält, sondern nur, dass dies voraussichtlich der Fall sein wird. Dabei ist "dauerhaft" nicht gleichbedeutend mit "für immer", sondern mit "auf nicht absehbare Zeit" (siehe oben).
Für eine fundierte Prognose der Aufenthaltsdauer genügt auch nicht der pauschale Hinweis des Antragsgegners im Bescheid vom 18.10.2023, die Antragstellerin sei aus der U. vor dem Krieg geflohen, weshalb von einem begrenzten Aufenthalt in Deutschland auszugehen sei. Der Antragsgegner hat dabei keinerlei Erwägungen bzgl. der konkreten Umstände angestellt. Angesichts des über 21-monatigen Verlaufs und der aktuell eher festgefahrenen Situation des Krieges zwischen R. und der U. ist nicht mit dessen baldigem Ende zu rechnen. Prognostisch ist somit eher davon auszugehen, dass die im März 2024 für uk. Flüchtlinge auslaufenden Aufenthaltserlaubnisse nach § 24 AufenthG verlängert werden. Lediglich ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass die diesbezüglichen allgemeinen Erwägungen des Antragsgegners auch der (allerdings weder den Antragsgegner noch das Gericht bindenden) Auffassung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in seinem Informationsschreiben vom 29.04.2022 zur Anwendung des § 100 Abs. 1 SGB IX bei geflüchteten Menschen mit Behinderungen aus der U. entgegenstehen. Danach wird allgemein davon ausgegangen, dass uk. Geflüchtete länger, u.U. dauerhaft in Deutschland bleiben werden und deshalb § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX so auszulegen ist, dass aus der U. geflüchtete Menschen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG einen Rechtsanspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe bei entsprechendem Bedarf haben.
Im konkreten Fall der Antragstellerin kommt entscheidend hinzu, dass nach der glaubhaften Darstellung der Mutter die Infrastruktur für eine angemessene Betreuung und Förderung ihrer behinderten Tochter in K. nicht mehr existiert. Dies sei für sie, die Mutter, Grundlage ihrer Überlegung, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Angesichts ihrer sehr guten Deutschkenntnisse und beruflichen Qualifizierung erwäge sie, evtl. ab kommendem Jahr nicht die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG zu beantragen, sondern einen Aufenthaltstitel zum Zweck der Erwerbstätigkeit nach § 18 ff. AufenthG anzustreben. Gerade auch vor diesem speziellen Hintergrund geht das Gericht davon aus, dass sich die Antragstellerin voraussichtlich dauerhaft im Sinne von § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX - und damit jedenfalls die nächsten, ihre physische und psychische Entwicklung besonderes prägenden Jahre - im Bundesgebiet aufhalten wird.
Die Antragstellerin hat auch glaubhaft gemacht, dass sie die Voraussetzungen für einen Anspruch auf die begehrte Leistung der Eingliederungshilfe in Form des Besuchs der heilpädagogischen Tagesstätte / Hilfebedarfsgruppe 1 nach § 102 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX und § 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 und 3 SGB IX erfüllt.
Leistungen zur Teilhabe an Bildung umfassen nach 112 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 und 3 SGB IX Hilfen zu einer Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu. Diese Hilfen schließen Leistungen zur Unterstützung schulischer Ganztagsangebote in der offenen Form ein, die im Einklang mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule stehen und unter deren Aufsicht und Verantwortung ausgeführt werden, an den stundenplanmäßigen Unterricht anknüpfen und in der Regel in den Räumlichkeiten der Schule oder in deren Umfeld durchgeführt werden. Die Hilfen umfassen auch heilpädagogische und sonstige Maßnahmen, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, der leistungsberechtigten Person den Schulbesuch zu ermöglichen oder zu erleichtern.
Diese Voraussetzungen erfüllt die Antragstellerin gemäß Aktenlage. Denn laut sozialmedizinischem Dienst des Antragsgegners besteht bei der Antragstellerin grundsätzlich ein Förderbedarf nach der Hilfebedarfsgruppe 1 in heilpädagogischen Tagesstätten. Dies stellt der Antragsgegner auch nicht in Abrede. Dass die Antragstellerin wohl keinen besonders hohen Bedarf an Leistungen der nachmittäglichen Eingliederungshilfe hat, steht einem Anspruch nach § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX nicht entgegen. Diesen Aspekt könnte der Antragsgegner nur in Ermessenserwägungen nach Satz 1 der Vorschrift einfließen lassen. Im Rahmen des Satzes 2 steht der Antragstellerin dagegen ein zwingender Anspruch auf die für sie erforderlichen und geeigneten Maßnahmen - hier heilpädagogische Tagesstätte / Hilfebedarfsgruppe 1 zur Erleichterung des Schulbesuchs - zu.
Da das Gericht nach der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Antragstellerin einen - gebundenen - Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 101 Abs. 1 Satz 2 SGB IX hat, kann im vorliegenden Verfahren offenbleiben, ob der Antragstellerin angesichts der Regelungen der MassenzustromRL (RL 2001/55/EG), der UN-KRK oder der UN-BRK ggf. ein entsprechender Anspruch nach § 100 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wegen Ermessensreduzierung auf null oder ein Anspruch nach anderen - inner- oder zwischenstaatlichen - Rechtsvorschriften im Sinne von § 100 Abs. 1 Satz 3 SGB IX zustehen könnte (vgl. Wehrhahn in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 100 SGB IX (Stand: 10.09.2019), Rn. 8; Dr. Stephan Gutzler in: Hauck/Noftz SGB IX, 3. Ergänzungslieferung 2023, § 100 SGB 9 2018, Rn. 15).
Die Antragstellerin hat schließlich auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Da vorliegend aus Sicht des Gerichts viel für den Erfolg einer etwaigen Klage in der Hauptsache spricht, sind an den Anordnungsgrund im Sinne einer Eilbedürftigkeit keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Angesichts des hohen Förderbedarfs der Antragstellerin in mehreren zentralen Entwicklungsbereichen, gepaart mit den besonderen Anforderungen bzgl. sprachlicher und sozialer Integration, erscheint ein Zuwarten bis zum Ergehen einer rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung nach ggf. mehrjährigen Gerichtsverfahren nicht hinnehmbar, zumal die notwendige heilpädagogische Förderung der Antragstellerin mit Blick auf deren kindliches und damit besonders entwicklungsrelevantes Alter zu einem späteren Zeitpunkt nicht nachholbar ist. Aus den vorgelegten PKH-Unterlagen ergibt sich, dass die Familie der Antragstellerin die Kosten des Besuchs der heilpädagogischen Tagesstätte nicht vorfinanzieren kann.
Das Gericht befristet in Ausübung seines Ermessens nach § 86b Abs. 4 SGG in Verbindung mit § 938 ZPO die einstweilige Anordnung auf den Zeitraum bis zum 04.03.2024 (d.h. auf die aktuelle Dauer des befristeten Aufenthaltstitels der Antragstellerin, der Voraussetzung für einen Anspruch nach § 100 Abs. 1 Satz 2 SGB IX ist). Danach wird sich zeigen, mit welchen Aufenthaltstiteln die Familie der Antragstellerin weiter in Deutschland leben wird.
Dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz war damit im tenorierten Umfang stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193.