Die Krankenkasse kann die Dispositionsfreiheit eines Versicherten, der von sich aus einen Reha-Antrag gestellt hatte und der als Rentenantrag gilt, auch nachträglich einschränken. Mit dem entsprechenden bestandskräftigen Bescheid der Krankenkasse verliert der Versicherte die Befugnis, einen späteren Rentenbeginn zu bestimmen.
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 29.11.2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen späteren Beginn der der Klägerin bewilligten Erwerbsminderungsrente im Zusammenhang mit der Umdeutung eines Reha-Antrags in einen Rentenantrag.
Die 1957 geborene Klägerin zog Mitte August 1966 aus Italien kommend in das Bundesgebiet zu. Zuletzt war sie vom 01.06.1999 bis zum Eintritt von Arbeitsunfähigkeit am 24.11.2017 als Justizangestellte u.a. beim Notariat B1 in Teilzeit (19,75 Stunden/Woche) versicherungspflichtig tätig; das Arbeitsverhältnis wurde zum 31.12.2017, nach Angabe der Klägerin durch ihre Kündigung (s. Schreiben der Klägerin an die S1 Klinik B1 vom 28.09.2017), beendet (S. 28 VerwA ÄT). Bis zur Aussteuerung am 26.05.2019 war sie durchgehend arbeitsunfähig erkrankt (S. 86 VerwA ÄT) und bezog vom 01.01.2018 bis 26.05.2019 Krankengeld (S. 35 VerwA) sowie im Anschluss vom 27.05.2019 bis 30.06.2020 Arbeitslosengeld (S. 123 VerwA), wobei im Zeitraum vom 08.01. bis 30.06.2020 erneut Arbeitsunfähigkeit bestand (S. 86 VerwA ÄT). Die Beklagte hatte ihr bereits mit Rentenbescheid vom 19.05.2020 (rückwirkend) Rente wegen voller Erwerbsminderung (bei medizinisch teilweiser Erwerbsminderung) vom 01.06.2018 bis 31.05.2021 bewilligt (dazu noch später), wobei das Befristungsende mit Bescheid vom 06.05.2021 auf den 30.04.2023 verlängert wurde. Seit dem 01.10.2022 bezieht die Klägerin Altersrente für schwerbehinderte Menschen (Bescheid vom 07.12.2022).
Mit Eingang bei der Beklagten am 18.09.2017 beantragte die Klägerin eine stationäre medizinische Rehabilitation (s. dazu auch Schreiben der Klägerin an die Beklagte vom 10.10.2017) und begründete den Antrag mit Arbeitsplatzkonflikten („Mobbing“ seit 2002) sowie mit schmerzenden Händen bei Eingabe von Texten und Daten, Gelenkentzündungen und sehr starken chronischen Kopfschmerzen. Die Beklagte zog ärztliche Befundunterlagen bei (u.a. Befundbericht der M1 vom 09.09.2017: u.a. schmerzhafte Einschränkung der Fingerbeweglichkeit mit zunehmender Fingerdeformierung; „Attest“ der O1 vom 08.11.2017: chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Schlafstörung, Polyarthrose; sie habe der Klägerin geraten, ihre Arbeit als Justizangestellte aufzugeben) und lehnte eine Rehabilitationsmaßnahme zunächst mit Bescheid vom 24.11.2017 mangels Erforderlichkeit - eine ambulante nervenärztliche Behandlung sei ausreichend - ab. Im Widerspruchsverfahren ließ die Beklagte die Klägerin nach Beiziehung der gutachtlichen Stellungnahme der W1 (ärztlicher Dienst der Agentur für Arbeit U1) vom 30.11.2017 (Leistungsvermögen unter drei Stunden täglich, Befürwortung einer Reha-Maßnahme) durch K1 begutachten. Dieser diagnostizierte bei der Klägerin nach Untersuchung Anfang Februar 2018 ein chronisches Schmerzsyndrom bzw. einen atypischen Gesichtsschmerz, differentialdiagnostisch Clusterkopfschmerz, mit zunehmender Häufigkeit und Dauer, eine mittelgradige depressive Episode (teilgebessert schwer), ein chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren, einen unübersichtlichen Schmerzmittelgebrauch, fraglich medikamenteninduziert, sowie eine Polyarthrose. Eine Tätigkeit als Justizangestellte sei der Klägerin nur noch unter drei Stunden täglich möglich, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch drei bis unter sechs Stunden. Der Gutachter empfahl dringend die Durchführung einer stationären Rehabilitation, wobei eine Abschätzung, ob die berufliche Leistungsfähigkeit durch eine solche Maßnahme wesentlich gebessert werden könne, nicht möglich sei.
Vom 14.03. bis 02.05.2018 befand sich die Klägerin in der S2-Klinik in (akut-)stationärer Behandlung, aus der sie (weiter) arbeitsunfähig entlassen wurde. Mit (Abhilfe-)Bescheid vom 19.02.2018 in der Fassung des Bescheids vom 07.05.2018 bewilligte die Beklagte der Klägerin eine fünfwöchige stationäre Rehabilitation in der S2-Klinik.
In einer Stellungnahme vom 03.07.2018 wies der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) vor dem Hintergrund der seit dem 24.11.2017 bestehenden Arbeitsunfähigkeit der Klägerin darauf hin, dass die Voraussetzungen des § 51 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) vorliegen dürften. Daraufhin wandte sich die Krankenkasse der Klägerin (AOK Bezirksdirektion U1, künftig nur: AOK) mit Schreiben vom 30.07.2018 an die Beklagte und teilte mit, dass ein Ende der Arbeitsunfähigkeit nicht absehbar sei und dass man die Klägerin zwar nicht aufgefordert habe, einen Rehabilitationsantrag zu stellen, ihr Dispositionsrecht jedoch nunmehr (im Hinblick auf den Antrag vom 18.09.2017) gleichwohl eingeschränkt sei.
Vom 07.08. bis 11.09.2018 befand sich die Klägerin zur stationären Rehabilitation in der S2-Klinik, aus der sie ausweislich des ärztlichen Entlassungsberichts vom 27.09.2018 arbeitsfähig und mit einem Leistungsvermögen von drei bis unter sechs Stunden, auch für eine Tätigkeit als Justizangestellte, entlassen wurde (Diagnosen: chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, atypischer Gesichtsschmerz, Cluster-Kopfschmerz, Heberden-Knoten mit Arthropathie). Am Tag nach der Entlassung wurde erneut Arbeitsunfähigkeit bescheinigt und die Klägerin bezog erneut Krankengeld (bis 26.05.2019).
In ihrem Befundbericht vom 23.11.2018 führte H1 (Zentrum für Psychiatrie B1 - ZfP -) aus, dass die Klägerin weiterhin nicht arbeitsfähig sei und in ihrem Gesundheitszustand durch die Rehabilitation keine Änderung gegenüber dem Zustand zuvor eingetreten sei. In seiner Stellungnahme vom 04.12.2018 wies der MDK auf die seit dem 12.09.2018 (weiter) durchgehend bestehende Arbeitsunfähigkeit der Klägerin hin und empfahl (erneut) die Prüfung einer Umdeutung des Reha-Antrags. Die AOK wandte sich mit Schreiben vom 05.12.2018 unter Übersendung der MDK-Stellungnahme an die Beklagte, wiederholte ihre Ausführungen aus dem Schreiben vom 30.07.2018 und machte auf eine Umdeutung aufmerksam. Ebenfalls mit Schreiben vom 05.12.2018 teilte die AOK der Klägerin u.a. mit, dass im Hinblick auf den Reha-Antrag vom 18.09.2017 eine erneute Antragstellung nicht erforderlich sei, dass die Klägerin indes für eine Rücknahme dieses Antrags, einen Verzicht auf Rehabilitationsleistungen oder Rente bzw. eine Änderung der Rentenart oder des Rentenbeginns eine vorherige Zustimmung der Krankenkasse benötige; andernfalls drohe, ggf. auch rückwirkend, ein Ruhen der Krankengeldzahlungen. Die Klägerin nahm ausweislich ihrer Rückantwort an die AOK (Erklärung vom 06.12.2018) Kenntnis von dem Schreiben und verzichtete ausdrücklich auf einen Widerspruch.
Die Beklagte holte die beratungsärztliche Stellungnahme der H2 vom 11.01.2019 ein, die sich der Leistungseinschätzung der Ärzte der S2-Klinik anschloss und von einem Leistungsfall der Erwerbsminderung am 24.11.2017 (Beginn der Arbeitsunfähigkeit) ausging; eine Besserung bis voraussichtlich Mai 2021 sei nicht unwahrscheinlich.
Mit Schreiben vom 15.01.2019 wies die Beklagte die Klägerin u.a. darauf hin, dass eine Umdeutung des Reha-Antrags vom 18.09.2017 in Betracht komme und belehrte sie über die rechtlichen Folgen. Die Klägerin teilte der Beklagten im Anschluss mit, dass sie einen Rentenantrag stellen werde, der Reha-Antrag solle allerdings nicht umgedeutet werden. Mit (Form-)Rentenantrag vom 12.03.2019 beantragte die Klägerin sodann Rente wegen Erwerbsminderung, nahm diesen aber dann mit Schreiben vom 20.03.2019 wieder zurück; er sei „irrtümlich“ gestellt worden. Sie wolle frühestens zum Juni 2020 einen Rentenantrag stellen unter der Voraussetzung, dass ihr Grad der Behinderung (GdB) dann 50 betrage. Bis dahin beziehe sie Arbeitslosengeld.
Unter dem 09.07.2019 beantragte die Klägerin auf Aufforderung der Bundesagentur für Arbeit (BA) erneut eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme bei der Beklagten und begründete diese mit einer Verschlimmerung ihres Asthmas bronchiale. Mit Bescheid vom 29.08.2019 bewilligte ihr die Beklagte erneut eine fünfwöchige stationäre Rehabilitation in der S2-Klinik.
Mit Schreiben vom 25.04.2020 teilte die Klägerin der Beklagten dann mit, dass sie jetzt doch eine Erwerbsminderungsrente wolle, möglichst ab Juni/Juli 2020. Sie verwies auf ihre Arbeitsunfähigkeit seit 24.11.2017 „ohne Unterbrechung“, ihren seinerzeitigen „Zusammenbruch“ am Arbeitsplatz und darauf, dass seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit keine Besserung eingetreten sei. Auf eine erneute Reha verzichte sie.
Mit Rentenbescheid vom 19.05.2020 bewilligte die Beklagte der Klägerin auf den umgedeuteten Reha-Antrag vom 18.09.2017 hin (entsprechend dem Votum der H2) Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.06.2018 - ausgehend von einem Leistungsfall am 24.11.2017 - (zunächst, s.o.) befristet bis zum 31.05.2021.
Mit ihrem Widerspruch begehrte die Klägerin die Rente erst ab dem 01.06.2020 und machte geltend, dass sie keinen Rentenantrag, sondern einen Reha-Antrag gestellt habe, dass sie arbeitsfähig aus der Rehabilitation entlassen worden und „im damaligen Zeitraum“ nicht erwerbsgemindert gewesen sei. Außerdem habe man sie nicht aufgefordert, den Reha-Antrag (gemeint den vom 18.09.2017) zu stellen.
In seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 19.01.2021 wies S3 darauf hin, dass auch in Ansehung einer schwankenden Befundlage von einem Leistungsfall der Erwerbsminderung im November 2017 auszugehen sei. Hinsichtlich der Tätigkeit einer Justizangestellten sei das Leistungsvermögen der Klägerin richtigerweise seither aufgehoben (unter drei Stunden täglich), bezüglich leichter Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei die bisherige Leistungsbeurteilung zutreffend (drei bis unter sechs Stunden täglich). Dem schloss sich sodann auch H2 an (sozialmedizinische Stellungnahme vom 22.01.2021).
Mit Widerspruchsbescheid vom 18.03.2021 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Es bleibe bei einem Leistungsfall am 24.11.2017 (Beginn der Arbeitsunfähigkeit) und das Dispositionsrecht der Klägerin sei eingeschränkt, sodass die Umdeutung des Reha-Antrags vom 18.09.2017 in einen Rentenantrag zu Recht erfolgt sei.
Hiergegen hat die Klägerin am 30.03.2021 beim Sozialgericht Ulm (SG) Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren eines späteren Rentenbeginns (01.06.2020 statt 01.06.2018) weiterverfolgt hat. Zur Begründung hat die Klägerseite geltend gemacht, dass eine durchgehende Arbeitsunfähigkeit vom 24.11.2017 bis 30.06.2020 nicht bestanden habe und gemeint, dass die Voraussetzungen für eine Antragsumdeutung nicht vorlägen. Eine Erwerbsminderung sei erst in der „zweiten Jahreshälfte 2020“ eingetreten, nachdem sich der Gesundheitszustand der Klägerin deutlich verschlechtert habe. Ohnehin habe die Beklagte eine volle Erwerbsminderungsrente bewilligt, obgleich der Gutachter K1 „nur“ von einer (medizinisch) teilweisen Erwerbsminderung ausgegangen sei. Seit dem 01.01.2021 sei der Klägerin überdies der Pflegegrad 1 zuerkannt und einen GdB von 50 habe sie erst seit dem 31.01.2020. Die Klägerin sei „derzeit“ erwerbsgemindert.
Das SG hat O1, M2 (des Klinikums B1) sowie H1 schriftlich als sachverständige Zeuginnen gehört. Alle drei haben sich zur beruflichen Leistungsfähigkeit der Klägerin im vergangenen Zeitraum nicht zu äußern vermocht; wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Auskünfte vom 26.07.2021 ( O1, S. 37 SG-Akte), vom 01.09.2021 (M2, S. 114 f. SG-Akte) - beide nebst übersandter Befundunterlagen (namentlich Arztbrief der H1 vom 25.01.2018 nach Untersuchung der Klägerin am 01.12.2017, S. 50 f. SG-Akte, Diagnosen: depressive Episode, gegenwärtig mittelschwer bis schwer ohne psychotische Symptomatik, rezidivierend auftretende unklare Kopfschmerzsymptomatik, differentialdiagnostisch Clusterkopfschmerz, idiopathischer Gesichtsschmerz, [ausgeprägte] chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren) - und vom 30.09.2021 (H1, S. 129 ff. SG-Akte) Bezug genommen.
Das SG hat von Amts wegen das Sachverständigengutachten des T1 vom 09.12.2022 eingeholt, der die Klägerin Ende September 2022 untersucht hat. Der Sachverständige hat eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, chronische Schlafstörungen, atypische Gesichtsschmerzen (differentialdiagnostisch: Clusterkopfschmerzen) sowie ein Asthma bronchiale und eine Polyarthrose diagnostiziert. Er hat sich der Leistungsbeurteilung namentlich des Gutachters K1 angeschlossen (S. 198 SG-Akte) und darauf hingewiesen, dass (auch) zum Zeitpunkt der Reha-Maßnahme das Leistungsvermögen der Klägerin für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit einer Justizangestellten aufgehoben gewesen (S. 195 SG-Akte) sowie dass seither keine wesentliche Änderung im Gesundheitszustand bzw. der Funktionseinschränkungen eingetreten sei.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 29.11.2022 - den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 05.12.2022 zugestellt - abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass die Umdeutung des Reha-Antrags (vom 18.09.2017) in einen Rentenantrag nicht zu beanstanden sei, nachdem die Klägerin in ihrer Dispositionsbefugnis eingeschränkt sei (Hinweis auf das Schreiben der AOK vom 30.07.2018, richtig: 05.12.2018). Auf der Grundlage insbesondere der Äußerung der W1, des Gutachtens des Facharztes K1, des Reha-Entlassungsberichts sowie der beratungsärztlichen Stellungnahmen stehe - bestätigt durch den gerichtlichen Sachverständigen - fest, dass die Klägerin „bereits ab 2018“ (gemeint: November 2017) erwerbsgemindert sei.
Die Klägerseite hat nach Zustellung des Gerichtsbescheids beim SG weitere ärztliche Unterlagen (Arztbriefe des G1 über Untersuchungen der Klägerin im Februar und September 2022, Diagnosen: unklare Diarrhoen, differentialdiagnostisch funktioneller Genese bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Laktoseintoleranz, Ausschluss Fruktoseintoleranz; Arztbrief des K2 vom 15.11.2021 betreffend Untersuchung am 12.11.2021) sowie die „Bescheinigung einer schwerwiegenden chron. Erkrankung gem. § 62 SGB V“ der H1 vom 08.11.2022 vorgelegt und gemeint, dass seit Juni 2018 bei der Klägerin mehrere schwere chronische Erkrankungen hinzugekommen seien.
Am 08.12.2022 hat die Klägerin Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt, mit der sie weiterhin einen späteren Rentenbeginn begehrt hat. Eine Erwerbsminderung sei „frühestens im November/Dezember 2019“ eingetreten, sodass die Rente erst ab Ende des Arbeitslosengeldbezugs beginne. Außerdem sei bei der Klägerin zwischenzeitlich der Pflegegrad auf 2 (seit 2022) und der GdB auf 70 (seit 2023) erhöht worden.
Die Klägerin beantragt (teilweise sinngemäß),
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 29.11.2022 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 19.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.03.2021 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die ihr bewilligte Rente wegen voller Erwerbsminderung erst frühestens ab dem 01.06.2020 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Der Senat hat bei der AOK namentlich das o.a. Schreiben an die Klägerin vom 05.12.2018 (S. 42 f. Senats-Akte) sowie die Rückantwort der Klägerin an die AOK (Erklärung vom 06.12.2018, S. 44 Senats-Akte) beigezogen.
Die Klägerin hat sich zuletzt mit einem Schreiben vom 07.02.2024 (S. 51 Senats-Akte) an die Beklagte und mit Schreiben vom 15.02.2024 (S. 56 Senats-Akte) an ihre Prozessbevollmächtigten gewandt; auf diese Schreiben wird hier Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist zulässig, jedoch unbegründet.
Gegenstand des Rechtsstreits ist der Rentenbescheid der Beklagten vom 19.05.2020 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheids vom 18.03.2021, dies indes nur hinsichtlich des dort verfügten Rentenbeginns am 01.06.2018, denn nur dagegen hat sich die Klägerin (von Anfang an) mit dem Begehren eines späteren Beginns gewandt (vgl. § 99 Abs. 1 Satz 1 und § 101 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI -), weil sie infolgedessen - also nach Festsetzung eines späteren Rentenbeginns - einen höheren Rentenzahlbetrag erwartet (vgl. § 55 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 3 Satz 1 Nr. 3, § 170 Abs. 1 Nr. 2 lit. b; § 64, § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 77 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI). Bei der Festsetzung des Rentenbeginns in einem Rentenbescheid handelt es sich um einen eigenständigen, selbstständig anfechtbaren Verfügungssatz i.S. des § 31 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB X), auf dessen Angriff ein Rechtsschutzgesuch beschränkt werden kann (s. dazu statt vieler nur Bundessozialgericht - BSG - 11.05.2011, B 5 R 8/10 R, in juris, Rn. 13 m.w.N.; Senatsurteil vom 28.09.2006, L 10 R 4911/05, in juris, Rn. 23) und vorliegend auch ausdrücklich beschränkt worden ist.
Das SG hat die dagegen gerichtete Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 19.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.03.2021 ist, soweit er der gerichtlichen Prüfung unterliegt (s.o.), rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf einen späteren Beginn der ihr ab dem 01.06.2018 bewilligten Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Rechtsgrundlage für eine Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 SGB VI. Danach haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser (Abs. 1 Satz 1 der Regelung) bzw. voller (Abs. 2 Satz 1 der Regelung) Erwerbsminderung, wenn sie (u.a.) teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind. Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht über die Regelung des § 43 Abs. 2 SGB VI hinaus nach der Rechtsprechung des BSG bei regelmäßig bejahter Verschlossenheit des Arbeitsmarkts auch dann, wenn eine zeitliche Leistungseinschränkung von drei bis unter sechs Stunden vorliegt (Großer Senat 10.12.1976, GS 2/75 u.a., a.a.O.). Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Gemessen daran hat der Senat keinerlei Zweifel, dass bei der Klägerin bereits mit Beginn der Arbeitsunfähigkeit am 24.11.2017 im Zuge eines „Zusammenbruchs“ am Arbeitsplatz der Leistungsfall der Erwerbsminderung eingetreten und sie seither überdauernd jedenfalls bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids vom 18.03.3021 (die Zeit danach ist in Ansehung des Streitgegenstands und der bestandskräftig bewilligten Rentenart und -dauer ohne Belang) leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch in einem zeitlichen Leistungsumfang von drei bis unter sechs Stunden täglich hat verrichten können; zu einer Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit als Justizangestellte ist die Klägerin nur noch unter drei Stunden täglich in der Lage gewesen (nachfolgend 1). Deshalb hat ihr die Beklagte zu Recht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung (bei medizinisch teilweiser Erwerbsminderung) aus Arbeitsmarktgründen bei Verschlossenheit des (Teilzeit-)Arbeitsmarkts (s.o.) beginnend ab dem 01.06.2018 (§ 101 Abs. 1 i.V.m. § 102 Abs. 2 Satz 1 und 3 Halbsatz 2 SGB VI) bewilligt. Zur Gestaltung eines abweichenden Rentenbeginns (vgl. § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI) ist die Klägerin nicht befugt gewesen, da die Voraussetzungen einer Umdeutung des Reha-Antrags vom 18.09.2017 in einen Rentenantrag erfüllt sind - der Reha-Antrag also als Antrag auf Rente gilt (§ 116 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI) - und eine (notwendige) Zustimmung der AOK zu einer Antragsrücknahme respektive zu einem (gewillkürten) späteren Rentenbeginn entsprechend dem Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1 SGB V zu keinem Zeitpunkt vorgelegen hat (nachfolgend 2); einer Beiladung der AOK nach § 75 Abs. 2 Alt. 1 SGG bedurfte es in der vorliegenden Fallkonstellation nicht, im Streit steht vorliegend allein ein späterer Beginn der von der Beklagten gewährten Rente (vgl. nur BSG 16.12.2014, B 1 KR 31/13 R, in juris, Rn. 13 m.w.N.; 07.12.2004, B 1 KR 6/03 R, in juris, Rn. 19; s. auch LSG Baden-Württemberg 25.01.2023, L 3 AL 1521/22, in juris, Rn. 27).
(1) Die Klägerin hat jedenfalls im November 2017 und in der Zeit danach seitens des orthopädisch-chirurgischen Fachgebiets an einer Polyarthrose bzw. Arthropathie insbesondere mit schmerzhafter Einschränkung der Fingerbeweglichkeit bei zunehmender Fingerdeformierung gelitten - dies stützt der Senat namentlich auf den Befundbericht der M1 vom 09.09.2017 und auf den Entlassungsbericht der Ärzte der S2-Klinik vom 27.09.2018 (beides urkundsbeweislich verwertbar) - sowie von nervenärztlicher Seite im Wesentlichen an einer depressiven Episode mittelschwerer bis schwerer Ausprägung, an einer rezidivierend auftretenden Kopfschmerzsymptomatik, einem idiopathischen Gesichtsschmerz und an einer ausgeprägteren chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, was der Senat namentlich auf die Arztbriefe der H1 vom 25.01.2018 (nach Untersuchung der Klägerin am 01.12.2017) und vom 23.11.2018 (keine Zustandsveränderung ggü. dem Gesundheitszustand vor der Reha), das Gutachten des Facharztes K1 vom 05.02.2018, die beratungsärztlichen Stellungnahmen der H2 vom 11.01.2019 und vom 22.01.2021 sowie auf die beratungsärztliche Stellungnahme des S3 vom 22.01.2021 (jeweils unter Würdigung der aktenkundigen Befundunterlagen) stützt (alles im Wege des Urkundsbeweises verwertbar); auch der gerichtliche Sachverständige T1 hat dies alles retroperspektivisch bestätigt.
Auf der Grundlage der aus diesen Gesundheitsstörungen resultierenden funktionellen Einschränkungen ist die Klägerin auch zur Überzeugung des Senats jedenfalls seit dem 24.11.2017 gesundheitlich nicht mehr in der Lage gewesen, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in einem zeitlichen Umfang von mehr als drei bis unter sechs Stunden täglich zu verrichten. Dies haben sowohl der Gutachter K1 als auch die Ärzte der S2-Klinik als auch der beratungsärztliche Dienst der Beklagten übereinstimmend und in jeder Hinsicht schlüssig und nachvollziehbar dargelegt; dem hat sich T1 ebenfalls angeschlossen. Auch die behandelnde Ärztin H1 hat eine Besserung des Gesundheitszustands der Klägerin in Folge der in der S2-Klinik stattgehabten Rehabilitationsmaßnahme nicht gesehen (Befundbericht vom 23.11.2018), sodass Zweifel an der dortigen Leistungsbeurteilung für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch unter diesem Gesichtspunkt nicht einmal ansatzweise angezeigt sind.
Richtigerweise ist die Klägerin hinsichtlich ihrer zuletzt ausgeübten Tätigkeit einer Justizangestellten seit dem 24.11.2017 nicht mehr leistungsfähig gewesen (Leistungsvermögen unter drei Stunden täglich). Die entsprechende - nicht weiter begründete - entgegenstehende Annahme der Ärzte der S2-Klinik (Leistungsvermögen ebenfalls drei bis unter sechs Stunden täglich) ist für den Senat in Ansehung der Ausführungen des Gutachters K1 und des S3 - dem sich H2 angeschlossen hat - nicht nachvollziehbar und auch T1 hat dies nicht für nachvollziehbar erachtet. Schon O1 („Attest“ vom 08.11.2017) hielt die Klägerin im Übrigen für nicht mehr in der Lage, ihren Beruf als Justizangestellte auszuüben und dem Senat erschließt sich auch nicht, inwiefern es der Klägerin allein in Ansehung ihrer schmerzhaften Fingerbeweglichkeitseinschränkungen und ihrer neurologisch bedingten Defizite noch möglich gewesen sein soll, in einem nennenswerten zeitlichen Umfang Computerschreib- und Bildschirmarbeiten zu verrichten, die für die Tätigkeit einer Justizangestellten prägend sind, was der Senat kraft eigener Sachkunde beurteilen kann und was sich auch aus dem öffentlich zugänglichen berufskundlichen „Berufenet“ der Bundesagentur für Arbeit ergibt (Stichwort: Justizfachangestellte/r, https://web.arbeitsagentur.de/berufenet/beruf/7924#zugangAnforderungen_persoenlicheAnforderungen_gesundheitlicheAspekte, Stand 20.03.2024).
Soweit die Klägerin, nachdem sie nach entsprechender Beratung erkannt hat, dass ein späterer Rentenbeginn für sie wirtschaftlich günstiger wäre, behauptet hat, einer beruflichen Tätigkeit jedenfalls noch bis November/Dezember 2019 ohne zeitliche Einschränkung hätte nachgehen können, ist dies weder im Hinblick auf die o.a. dokumentierten klinischen Befunde und ärztlichen Äußerungen nachvollziehbar, noch mit dem eigenen Vorbringen der Klägerin bzw. ihrer Selbsteinschätzung im (ersten) Rehabilitationsverwaltungsverfahren und im Anschluss an die Reha-Maßnahme vereinbar. Noch mit Schreiben an die Beklagte vom 25.04.2020 verwies die Klägerin selbst auf ihre Arbeitsunfähigkeit seit 24.11.2017 „ohne Unterbrechung“, ihren seinerzeitigen „Zusammenbruch“ am Arbeitsplatz und darauf, dass seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit keine Besserung eingetreten sei, was zutreffend ist.
Soweit die Klägerin gemeint hat, sie sei arbeitsfähig aus der Reha-Maßnahme entlassen worden, geht dies schon deshalb ins Leere, weil bei der Klägerin bereits am Tag nach der Entlassung erneut Arbeitsunfähigkeit bescheinigt wurde und sie wieder Krankengeld bezog. Ohnehin gilt hinsichtlich der Arbeitsunfähigkeitsbeurteilung der Ärzte der S2-Klinik nichts anderes als hinsichtlich ihrer Leistungseinschätzung bezogen auf die Tätigkeit einer Justizangestellten (s.o.).
Soweit die Klägerin ferner gemeint hat, dass keine durchgehende Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum vom 24.11.2017 bis 30.06.2020 bestanden habe, ist schon eine Relevanz dieses Vorbringens für den erhobenen Anspruch nicht erkennbar und ändert im Übrigen nichts an der oben dargestellten, befundgestützten und gutachtlich-beratungsärztlich abgesicherten Bewertung. Ohnehin besagt der Umstand, dass bei der Klägerin im Zeitraum vom 27.05.2019 bis 07.01.2020 eine Arbeitsunfähigkeit nicht bescheinigt war, nicht, dass keine Erwerbsminderung vorgelegen hat.
Soweit die Klägerin darüber hinaus gemeint hat, die Beklagte habe eine volle Erwerbsminderungsrente bewilligt, obgleich der Gutachter K1 „nur“ von einer (medizinisch) teilweisen Erwerbsminderung ausgegangen sei, erschließt sich auch insoweit eine Relevanz für einen späteren Beginn der bewilligten Rente nicht. Nur am Rande merkt der Senat an, dass die Beklagte zu Recht (zugunsten der Klägerin) von einer Verschlossenheit des (Teilzeit-)Arbeitsmarkts ausgegangen ist. Wie oben schon dargelegt, ist die Klägerin jedenfalls seit 24.11.2017 den Anforderungen ihrer seinerzeit noch innegehabten (Teilzeit-)Tätigkeit einer Justizangestellten nicht mehr gewachsen gewesen und von da an ist das nur kurze Zeit später beendete Arbeitsverhältnis nur noch eine leere Hülle gewesen.
Die Hinweise der Klägerin, ihr sei erst zum 31.01.2020 der Schwerbehindertengrad und erst zum 01.01.2021 der Pflegegrad 1 zuerkannt worden, ist ebenfalls ohne jegliche Relevanz; beides sagt nichts zu einer bereits zeitlich früher eingetretenen rentenrechtlichen Erwerbsminderung und ohnehin nichts zur beruflichen Einsetzbarkeit eines Versicherten aus (BSG 19.09.2015, B 13 R 290/15 B, in juris, Rn. 5; Senatsurteil vom 14.12.2023, L 10 R 2331/23, in juris, Rn. 44).
Das übrige Vorbringen der Klägerin ist schon am eigentlichen Thema gänzlich vorbeigegangen. Ob seit 2018, 2019 oder in der Zeit danach eine wesentliche Verschlimmerung in ihrem Gesundheitszustand eingetreten respektive weitere (namentlich internistisch-gastroenterologische) Gesundheitsstörungen hinzugetreten sind, ist ohne Belang, weil auch dies nichts darüber aussagt, ob bei ihr zuvor bereits ein Funktionszustand bestanden hat, der eine Erwerbsminderung begründet, was vorliegend entsprechend der obigen Ausführungen der Fall ist. Deswegen spielen auch die nach Zustellung des angefochtenen Gerichtsbescheids vorgelegten ärztlichen Unterlagen betreffend die Jahre 2021 und 2022 keinerlei Rolle, ebenso wenig wie der gegenwärtige Gesundheitszustand der Klägerin und ihre - zuletzt in ihren Schreiben vom 07.02.2024 und 15.02.2024 wiederholend dargelegte Selbsteinschätzung, die ohnehin an den rechtlichen Maßstäben vorbeigeht. Insbesondere hat die Klägerin scheinbar nicht verstanden (s. ihr persönliches Schreiben vom 15.02.2024), dass eine medizinisch teilweise Erwerbsminderung bei Verschlossenheit des (Teilzeit-)Arbeitsmarkts in eine volle Erwerbsminderung umschlägt; auf die diesbezügliche höchstrichterliche Rechtsprechung ist bereits eingangs hingewiesen worden. Ungeachtet dessen ist die mit dem (teil-)angefochtenen Rentenbescheid (eigenständig) verfügte Rentenart nicht Gegenstand des Rechtsstreits.
Unter Zugrundelegung all dessen steht für den Senat mithin fest, dass die Klägerin jedenfalls seit dem 24.11.2017 erwerbsgemindert (gewesen) ist.
(2) Ausgehend davon hat die Beklagte die (volle) Erwerbsminderungsrente der Klägerin zu Recht unter Beachtung des § 101 Abs. 1 und § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI beginnend ab dem 01.06.2018 bewilligt. Der erforderliche Rentenantrag als Anspruchsvoraussetzung für den Rentenbeginn (§ 115 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI) liegt vor, weil der am 18.09.2017 bei der Beklagten eingegangene Reha-Antrag als Antrag auf Rente gilt. Der (Form-)Rentenantrag der Klägerin vom 12.03.2019 ist ebenso bedeutungslos wie ihre Rücknahme dieses Antrags (Schreiben der Klägerin vom 20.03.2019), ihr späterer Rentenantrag vom 25.04.2020 sowie ihre Erklärungen, die Rente erst zu einem späteren Zeitraum („möglichst Juni/Juli 2020“, s. z.B. S. 96 VerwA) beziehen zu wollen, denn auf der Grundlage des am 06.12.2018 durch Widerspruchsverzicht der Klägerin bestandskräftig gewordenen Bescheids der AOK vom 05.12.2018 (um einen solchen handelt es sich bei diesem Schreiben der Sache nach, s. dazu noch sogleich) stand und steht der Klägerin eine irgendwie geartete Dispositionsbefugnis (Rücknahme, neuer Rentenantrag bzw. Hinausschieben des Rentenbeginns) nicht zu.
Gemäß § 116 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI gilt der Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (hier also der Antrag vom 18.09.2017) als Antrag auf Rente, wenn Versicherte vermindert erwerbsfähig sind und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nicht erfolgreich gewesen sind, weil sie die verminderte Erwerbsfähigkeit nicht verhindert haben.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. Die Klägerin ist bereits vor Durchführung der stationären medizinischen Rehabilitation in der S2-Klinik im August/September 2018 vermindert erwerbsfähig gewesen und die ihr gewährte medizinische Rehabilitation war nicht erfolgreich, weil sie die verminderte Erwerbsfähigkeit nicht verhindert hat (s.o.). Auf welcher Grundlage die Klägerseite noch im Klageverfahren gemeint hat, dass die Voraussetzungen des § 116 Abs. 2 SGB VI nicht vorlägen, ist unerfindlich. Sollte die Klägerseite darauf abgestellt haben, dass die Klägerin bereits vor der Reha-Maßnahme erwerbsgemindert gewesen ist - was zutreffend ist (s.o.) -, widerspräche dies gerade dem eigenen Vorbringen, eine Erwerbsminderung sei erst Jahre später eingetreten. Ungeachtet dessen regelt § 116 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI gerade den Fall, dass eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation an der Erwerbsminderung nichts geändert hat (vgl. nur BSG 26.06.2008, B 13 R 141/07 R, in juris, Rn. 20; Brinkhoff in jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 51 Rn. 23 m.w.N., Stand 27.05.2021). Entscheidend ist dabei nur, dass beim Versicherten eine Erwerbsminderung vor oder jedenfalls während der Maßnahme eingetreten ist, was bei der Klägerin unzweifelhaft der Fall ist; wann das Vorliegen von Erwerbsminderung festgestellt wird, ist hingegen ohne Belang (Steigner in Reinhardt/Silber, SGB VI, 5. Aufl. 2021, § 116 Rn. 4; Pflüger in jurisPK-SGB VI, 3. Aufl., § 116 Rn. 20 f., Stand 01.04.2021).
Mit dem (bestandskräftig gewordenen) Bescheid der AOK vom 05.12.2018 hat die Klägerin ihr Dispositionsrecht über den kraft Gesetzes fingierten Rentenantrag vom 18.09.2017, namentlich die Befugnis, einen späteren Rentenbeginn zu bestimmen, verloren.
Gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 SGB V kann die Krankenkasse Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert ist, eine Frist von zehn Wochen setzen, innerhalb der sie einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen haben. Eine solche Aufforderung, bei der es sich um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 31 Satz 1 SGB X handelt, führt zu einer Einschränkung der Dispositionsbefugnis des Versicherten im oben dargestellten Sinne, d.h. ein Reha- oder Rentenantrag kann dann nur noch mit Zustimmung der Krankenkasse wirksam zurückgenommen oder beschränkt werden (BSG 26.06.2008, B 13 R 141/07 R, a.a.O. Rn. 23, 25 m.w.N., st. Rspr.).
Vorliegend forderte die AOK freilich die Klägerin nicht dazu auf, den Reha-Antrag vom 18.09.2017 bei der Beklagten zu stellen, sondern die Klägerin beantragte die Reha-Leistung vielmehr aus freien Stücken. Dies ist aber nicht entscheidend, denn die Krankenkasse darf die Dispositionsbefugnis des Versicherten, der bereits einen Reha- oder Renten-Antrag gestellt hat, auch mit einer „nachträglichen (nachgeschobenen) Aufforderung“ einschränken, bei der es sich denklogisch ebenfalls um einen Verwaltungsakt handelt (BSG a.a.O. Rn. 23 a.E.); diese hat dann insoweit dieselbe Rechtswirkung wie die Aufforderung nach § 51 Abs. 1 Satz 1 SGB V, einen Reha-Antrag zu stellen (BSG a.a.O. Rn. 25 m.w.N.). Eine abweichende Beurteilung würde „die Einwirkungsmöglichkeiten der Krankenkassen im Rahmen des beschriebenen Verfahrens ad absurdum führen“ (BSG a.a.O. Rn. 27 m.w.N.).
Unter Zugrundelegung dessen verfügte die AOK gegenüber der Klägerin, nachdem der MDK (wie zuvor bereits W1, der Gutachter K1 und die Ärzte der S2-Klinik) eine erhebliche Gefährdung bzw. Minderung der Erwerbsfähigkeit festgestellt hatte (weitere Voraussetzungen statuiert § 51 Abs. 1 SGB V insoweit nicht; BSG a.a.O. Rn. 28), ausdrücklich mit Bescheid vom 05.12.2018, dass namentlich eine Antragsrücknahme und/oder Änderung des Rentenbeginns ohne ihre Zustimmung nicht in Betracht kommt; dieser Bescheid ist gegenüber der Klägerin bindend geworden und hat mithin auch die Beklagte im Rahmen ihrer Rentenbewilligungsentscheidung - da auch nicht „offensichtlich fehlerhaft“ - gebunden (vgl. nur BSG a.a.O. Rn. 17, 30 ff., 34, 37), unabhängig davon, dass die AOK die Beklagte auch beizeiten auf die Umdeutung des Reha-Antrags in einen Rentenantrag und die Beschränkung des klägerischen Dispositionsrechts hinwies.
Eine Zustimmung zum Hinausschieben des Rentenbeginns - die ohnehin im Ermessen der Krankenkasse steht und nur ausnahmsweise „aus besonderen Gründen“ (vgl. dazu BSG 07.12.2004, B 1 KR 6/03 R, in juris, Rn. 24 m.w.N.; 04.06.1981, 3 RK 50/80, in juris, Ls. und Rn. 20) verlangt werden kann - erklärte die AOK zu keinem Zeitpunkt; die Klägerin hat auch nicht einmal auch nur behauptet, mit einem solchen Begehren auf förmliche Zustimmung überhaupt jemals an die Krankenkasse herangetreten zu sein.
Nach alledem verbleibt es bei dem von der Beklagten mit Bescheid vom 19.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.03.2021 verfügten Rentenbeginn am 01.06.2018.
Der medizinische Sachverhalt ist hinreichend geklärt. Namentlich das Gutachten des Facharztes K1, der Entlassungsbericht der Ärzte der S2-Klinik, die beratungsärztlichen Stellungnahmen der H2 und S3 sowie das Sachverständigengutachten des T1 haben dem Senat die erforderlichen Grundlagen für seine Überzeugungsbildung vermittelt. Aus den Auskünften (gegenüber dem SG) der O1, M2 und H1 hat sich nichts entscheidungserheblich Abweichendes ergeben. Einen (prozessordnungsgemäßen) förmlichen Sachverständigenbeweisantrag hat die rechtskundig vertretene Klägerin zu keinem Zeitpunkt gestellt und ihr Prozessbevollmächtigter hat die „Meinung“ der Klägerin (zuletzt Schreiben vom 15.02.2024), es müsse wegen Ende 2019 hinzugetretener weiterer chronischer Erkrankungen (Gastritis und Reizdarm) noch ein gastroenterologisches „Zusatzgutachten“ eingeholt werden, zu Recht nicht (mehr) aufgegriffen, sondern stattdessen das bereits zuvor erteilte Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung bekräftigt. Wie bereits oben ausgeführt, ist es für die Frage einer bereits im November 2017 bei der Klägerin eingetretenen Erwerbsminderung vollkommen unerheblich, ob sich in der Zeit danach respektive seit Ende 2019 ihr Gesundheitszustand (weiter) verschlechtert hat. Eine Erwerbsminderung aus internistisch-gastroenterologischen Gründen Ende 2019 oder später würde nichts am Leistungsfall der Erwerbsminderung insbesondere aus psychiatrisch-neurologischen Gründen im November 2017 ändern. Dass ein solcher eingetreten ist, ist oben dargelegt worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.