Bei der Hörgeräteversorgung Versicherter stellt sich ein besseres Sprachverstehen von 5 % ohne Störschall und von 2,5 % im Störschall gegenüber dem zuzahlungsfreien Gerät als wesentlicher Gebrauchsvorteil dar und ist nicht wegen Messtoleranzen als unwesentlich zu vernachlässigen.
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 4. April 2022 aufgehoben und der Bescheid der Beklagten vom 20. Oktober 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2021 geändert.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die Versorgung mit dem Hörsystem „KINDduro 3410“ 1.816,30 Euro zu erstatten.
Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Erstattung von Kosten einer beidseitigen Hörgeräteversorgung über den Festbetrag hinaus.
Die im März 1977 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Sie leidet unter einer beidseitigen erheblichen Hörminderung. Die Klägerin beantragte am 16. Oktober 2020 bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für eine beidseitige Versorgung mit dem zuzahlungspflichtigen Hörgerät „KINDduro 3410“. Dem Antrag waren ein Kostenvoranschlag für die beidseitige Versorgung mit dem gewünschten Hörgerät über insgesamt 3.320,04 Euro und Protokolle der Hörgerätetestung beigefügt. Danach erzielte die Klägerin im Störschall < 40 % ohne Hörgerät eine Sprachverständlichkeit von 45 %, mit dem gewünschten Gerät von 95 % und dem eigenanteilsfreien Gerät „KINDinicio 1400“ von 90 %. Sie erzielte mit 60dB Störschall eine Sprachverständlichkeit ohne Hörgerät von 25 %, mit dem gewünschten Gerät von 82,5 % und dem eigenanteilsfreien Gerät von 80 %.
Nach einem Telefonat mit der Klägerin und der Beratung über die Unterschiede der eigenanteilsfreien und kostenpflichtigen Versorgung bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Schreiben vom 20. Oktober 2020 eine pauschale Kostenbeteiligung i.H.v. insgesamt 1.483,74 Euro. Sie erklärte, dass die Klägerin Mehrkosten bei der Entscheidung für ein Hörgerät mit Eigenanteil allein zu tragen habe. Dieses Schreiben enthielt keine Rechtsmittelbelehrung.
Mit Schreiben vom 3. Dezember 2020 beantragte die Klägerin bei der Beklagten erneut die Übernahme der Gesamtkosten für die Hörgeräteversorgung. Die Beklagte wertete diesen Antrag als Widerspruch. Am 4. Dezember 2020 beschaffte sich die Klägerin die Leistung und vereinbarte mit dem Leistungserbringer eine Ratenzahlung über den – nach Abzug der von der Klägerin geleisteten Zuzahlung von 20,00 Euro – verbleibenden Restbetrag von 1.816,30 Euro.
Die Beklagte holte eine audiologische Auswertung der Versorgungsoptionen durch einen Hörakustikermeister ein. Dieser gelangte zu dem Ergebnis, dass es aufgrund von anderen Regelungszeiten, Komfortmodi in der Bedienung und einer kleineren Bauweise nachvollziehbar sei, dass das gewählte Gerät subjektiv angenehmer erscheine. Jedoch seien dies Funktionen, die dem Komfort zuzuschreiben und nicht für einen objektiven Ausgleich erforderlich seien.
Sodann wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 11. Mai 2021 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass die angebotene eigenanteilsfreie Versorgung über die vom Gesetzgeber geforderten Mindestparameter verfüge und einen objektiven Ausgleich der Schwerhörigkeit ermögliche. Das aufzahlungspflichtige Gerät biete keine wesentlichen Gebrauchsvorteile gegenüber einem eigenanteilsfreien Modell. Die Differenz beim Sprachverständnis liege im Rahmen der Messtoleranz, da im normierten Freiburger Sprachtest ein Wort eine Wertigkeit von 5 % habe. Das gewählte Gerät verfüge über eine zusätzliche Ausstattung, die dem Komfort zuzuordnen sei. Die gewährte Basisausstattung reiche für einen vollständigen Funktionsausgleich aus.
Am 26. Mai 2021 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Cottbus Klage erhoben. Sie hat zur Begründung ausgeführt, dass sich aus den Messwerten nicht automatisch ergebe, dass ein bestmögliches Sprachverstehen erreicht werden könne, daher seien auch vergleichende Anpassungen im Alltagstest vorgeschrieben. Die Ergebnisse des Freiburger Sprachtests seien nicht als antizipierte Sachverständigengutachten zu verstehen. Im Unterschied zum eigenanteilsfreien Angebot diene die beschaffte Alternative wegen der Frequenzmodulationstechnologie und der binauralen Signalverarbeitung einem besseren Sprachverstehen und sei nicht bloßer Komfort. Zudem habe der Hörakustiker der Beklagten auf die Unterschiede der getesteten Hörgeräte hingewiesen. Diese hätten sich dahingehend ausgewirkt, dass bei der Klägerin ein wesentlicher Gebrauchsvorteil vorliege. Der Klägerin gehe es nicht um besonders schönes Hören, sondern um ein ausreichendes Sprachverstehen. Sie habe das eigenanteilsfreie Gerät vom 16. Juli 2020 bis 21. August 2020 ernsthaft getestet. Diese Versorgung habe sich als ungeeignet erwiesen, da zu viele Geräusche auf einmal verstärkt worden seien. Entgegen § 19 Abs. 1b der Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (HilfsM-RL) habe das eigenanteilsfreie Gerät das räumliche Hören nicht verbessert.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat darauf verwiesen, dass die technischen Mindestvorgaben der Umsetzung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2009 und der Erfüllung der Zielvorgaben der HilfsM-RL dienten. Ein wesentlicher Gebrauchsvorteil sei angesichts der geringen Messabweichungen nicht gegeben. Die Differenz betrage unter Störgeräuschbedingungen nur 2,5 % und liege im Bereich der Messtoleranzen.
Mit Gerichtsbescheid vom 4. April 2022 hat das Sozialgericht Cottbus die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch seien nicht erfüllt, ein hinreichender Funktionsausgleich habe auch mit den zuzahlungsfreien Geräten erreicht werden können. Ein höherwertiges Hörgerät sei grundsätzlich erforderlich, wenn und soweit es nach dem Stand der Medizintechnik die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaube und im allgemeinen Alltagsleben einen erheblichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen Hörhilfen biete. Aufgrund der Ausführungen des Hörakustikmeisters stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die zuzahlungsfreie Alternative für die Versorgung der Klägerin gleich geeignet gewesen sei. Die Messwerte seien vergleichbar, eine Abweichung von 2,5 % führe nicht zu einem erheblichen Gebrauchsvorteil. Auf die Versorgung mit der Frequenzmodulationstechnologie und der binauralen Signalverarbeitung bestehe kein Anspruch. Zwischen der Beklagten und der Bundesinnung der Hörakustiker bestünden Verträge über die Versorgung mit Hörgeräten, darin seien technische Mindestvoraussetzungen für zuzahlungsfrei angebotene Geräte enthalten sowie Einzelheiten zum Testverfahren im Rahmen der Hörgeräteerprobung festgelegt. Die von der Klägerin begehrten Technologien gehörten nicht dazu. Der Freiburger Sprachtest sei eine zulässige Testmethode. Sofern das subjektive Sprachempfinden der Klägerin nicht durch objektive Anhaltspunkte untermauert werden könne, bleibe der Freiburger Sprachtest die ausschlaggebende Messung. Für einen besseren Funktionsausgleich des von der Klägerin gewählten Modells fehlten Anhaltspunkte.
Gegen die dem Klägervertreter am 11. April 2022 zugestellte Entscheidung hat die Klägerin am 13. April 2022 Berufung zum Landessozialgericht Berlin-Brandenburg erhoben. Zu Unrecht habe das Sozialgericht die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch verneint. Sie, die Klägerin, habe objektive Anhaltspunkte für einen Gebrauchsvorteil vorgetragen und zwar die vom Hörakustikermeister aufgezeigten Unterschiede: die Frequenzmodulations-Technologie, die Technologie einer binauralen Signalverarbeitung, verbessertes Richtungshören, verbesserte Störgeräuschunterdrückung und Nutzschallanhebung, verbessertes räumliches Hören und größere bzw. ausreichende Verstärkungsreserve. Die aktuellen Verträge nach § 127 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) stellten zudem technische Mindestvoraussetzungen auf, die eine nur vierkanalige Signalverarbeitung inzwischen ausschlössen, der Hörakustiker der Beklagten habe eine solche aber noch für ausreichend erachtet. Maßgeblich sei nicht die technische Mindestausstattung, sondern die Eignung und Notwendigkeit für die konkrete Versorgungssituation im Einzelfall. Zu berücksichtigen sei auch, dass der Vertragspreis der Beklagten nicht ausreichend sei. In etwa der Hälfte aller Fälle würden drastische Mehrkosten gezahlt.
Das Gericht hat einen Befundbericht über die Hörgeräteversorgung der Klägerin von der betreuenden Hörakustikermeisterin eingeholt. Diese hat angegeben, dass die Klägerin drei Geräte getestet habe, mit dem eigenanteilsfreien Gerät KINDinicio 1400 ein besseres Sprachverstehen und eine höhere Deutlichkeit als mit dem Altgerät geäußert habe, jedoch Geräusche als störend empfunden habe. Diese würden vom gewählten Gerät KINDduro 3410 durch die Mikrofontechnik und die Störgeräuschunterdrückung deutlich besser verarbeitet. Die Hörminderung habe mit dem eigenanteilsfreien Gerät ausreichend ausgeglichen werden können, die Klägerin habe sich für das gewählte Gerät entschieden, da sie es als subjektiv angenehmer empfunden habe.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 4. April 2022 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 20. Oktober 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2021 zu verurteilen, an die Klägerin 1.816,30 Euro für die Versorgung mit dem Hörsystem KINDduro 3410 zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und sieht ihre Auffassung auch durch die Auskunft der betreuenden Hörakustikmeisterin bestätigt. Die Klägerin habe mit dem begehrten und dem eigenanteilsfreien Gerät nahezu identische Werte erzielt. Ein wesentlicher Gebrauchsvorteil des beantragten Hörgerätes gegenüber dem eigenanteilsfreien liege somit nicht vor (Verweis auf Landessozialgericht [LSG] Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 23. August 2022 – L 16/4 KR 60/20 – unveröffentlicht).
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Über das Berufungsverfahren konnte der Senat eine Entscheidung im schriftlichen Wege ohne mündliche Verhandlung treffen, da die Beteiligten hierzu ihre Zustimmung erklärt haben (vgl. § 124 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]).
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, sie ist gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden sowie statthaft (§§ 143, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG).
Streitgegenstand sind neben der Entscheidung des Sozialgerichts Cottbus vom 4. April 2022 der Bescheid der Beklagten vom 20. Oktober 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2021, mit welchem diese zugleich die Übernahme von Kosten oberhalb des Festbetrages abgelehnt hat. Zutreffend verfolgt die Klägerin ihr Begehren mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage, § 54 Abs. 1 und 4 SGG.
Die Berufung ist auch begründet. Zu Unrecht haben das Sozialgericht die Klage abgewiesen und die Beklagte die Übernahme der über den Festbetrag hinausgehenden Kosten abgelehnt. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Oktober 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Mai 2021 ist rechtswidrig, soweit er eine weiter Kostenübernahme ablehnt, und verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten. Sie hat Anspruch auf Erstattung der entstandenen Mehrkosten.
1.
Anspruchsgrundlage ist § 13 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 SGB V. Danach hat die Krankenkasse Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, soweit die Leistung notwendig war. Der Erstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender – primärer – Sachleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Leistung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
Die Beklagte hat die Übernahme der weiteren Kosten für eine notwendige Leistung zu Unrecht abgelehnt (dazu a). Dadurch sind der Klägerin Kosten entstanden (dazu b).
a) Die Beklagte hat vorliegend ihre Leistungspflicht zu Unrecht auf den Festbetrag begrenzt und die vollständige Erfüllung des gegebenen Leistungsanspruchs rechtswidrig abgelehnt.
Rechtsgrundlage des Sachleistungsanspruchs ist § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach haben Versicherte u.a. Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln wie Hörhilfen, die im Einzelfall erforderlich sind, um u.a. die hier allein in Betracht zu ziehende Behinderung nach § 33 Abs. 1 Satz 1, 3. Alt. SGB V und damit die beeinträchtigte Körperfunktion wie hier das Hören auszugleichen. Die Klägerin ist aufgrund ihrer Schallempfindungsschwerhörigkeit auf eine Hörgeräteversorgung angewiesen. Dass sie zum Ausgleich ihrer Schwerhörigkeit einen Anspruch auf eine Versorgung mit Hörgeräten hat, die nach § 34 Abs. 4 SGB V nicht aus der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen sind, wird von der Beklagten im Grundsatz auch nicht in Frage gestellt.
Das konkret ausgewählte Hörgerät ist grundsätzlich für einen in seiner Hörfähigkeit, eingeschränkten Menschen – wie die Klägerin – erforderlich i.S.v. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V, wenn es nach dem Stand der Medizintechnik (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen normal Hörender erlaubt und damit im allgemeinen Alltagsleben einen erheblichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen Hörhilfen bietet (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R –, juris Rn. 19). Für den sog. unmittelbaren Behinderungsausgleich nach § 33 Abs. 1 Satz 1, 3. Alt. SGB V (hierzu BSG, Urteil vom 14. Juni 2023 – B 3 KR 8/21 R –, juris Rn. 16 f.) gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Teil des von den Krankenkassen nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V geschuldeten, möglichst vollständigen Behinderungsausgleichs ist es, hörbehinderten Menschen im Rahmen des Möglichen auch das Hören und Verstehen in größeren Räumen und bei störenden Umgebungsgeräuschen zu eröffnen und ihnen die dazu nach dem Stand der Hörgerätetechnik jeweils erforderlichen Geräte zur Verfügung zu stellen. Daher kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. Denn der Anspruch auf ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung zum Behinderungsausgleich ist nicht von vornherein auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung beschränkt. Für den Versorgungsumfang, insbesondere die Qualität, aber auch die Quantität und Diversität der Hilfsmittelausstattung kommt es im Ergebnis allein auf den Umfang der mit dem begehrten Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile an (BSG, Urteil vom 15. März 2018 – B 3 KR 18/17 R –, juris Rn. 42).
Begrenzt ist der Anspruch auf Hilfsmittelversorgung nach § 33 SGB V jedoch durch das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V, wonach die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen; darüber hinausgehende Leistungen darf die Krankenkasse nicht bewilligen (vgl. BSG, Urteil vom 10. März 2011 – B 3 KR 9/10 R –, juris Rn. 29). Demzufolge verpflichtet auch § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V nicht dazu, den Versicherten jede – subjektiv – gewünschte und von ihnen für optimal gehaltene Versorgung zur Verfügung zu stellen (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. September 2023 – L 1 KR 181/21 –, juris Rn. 34 m.w.N.).
Die Krankenkasse erfüllt grundsätzlich mit der Zuzahlung des Festbetrags ihre Leistungspflicht. Der für ein Hilfsmittel – hier: Hörsysteme – nach § 36 SGB V festgesetzte einheitliche Festbetrag, der eine besondere Ausprägung des Wirtschaftlichkeitsgebots nach § 12 Abs. 2 SGB V darstellt, begrenzt die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung allerdings dann nicht, wenn er für den Ausgleich der konkreten vorliegenden Behinderung objektiv nicht ausreicht (BSG, Urteile vom 21. August 2008 – B 13 R 33/07 R –, juris Rn. 39 m.w.N. sowie 17. Dezember 2009 – B 3 KR 20/08 R –, juris Rn. 29). Wesentliches Kriterium hierfür ist die Frage, ob das begehrte Hörgerät im Alltag einen erheblichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen, zum Festbetrag erhältlichen Hörhilfen bietet. Ausgeschlossen sind insofern Ansprüche auf teurere Hilfsmittel, wenn eine kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell ebenfalls geeignet ist; Mehrkosten sind bei einer über das Maß des Notwendigen hinausgehenden Versorgung selbst zu tragen (st. Rspr. BSG, Urteil vom 10. September 2020 – B 3 KR 15/19 R –, juris Rn. 19 m.w.N.; vgl. § 33 Abs. 1 Satz 9 SGB V). Die Hörgeräteversorgung muss demnach gewährleisten, dass mit ihr die Funktionsbehinderung in typischen Alltagssituationen der Kommunikation mit anderen Menschen möglichst weitgehend ausgeglichen wird. Dazu gehört, dass der aktuelle Stand des medizinischen und technischen Fortschritts berücksichtigt wird. Es muss aber – gerade bei unterschiedlich aufwändigen, gleichermaßen zur Verfügung stehenden Versorgungsalternativen – für eine höherwertige Versorgung ein relevanter Gebrauchsvorteil für das allgemeine Grundbedürfnis nachgewiesen sein. Ist der bestmögliche Behinderungsausgleich bei dem Versicherten durch ein Hörgerät zum Festbetrag zu erreichen, besteht kein Anspruch auf Erstattung der den Festbetrag übersteigenden Kosten (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. September 2023 – L 1 KR 181/21, juris Rn. 35).
Nach einhelliger Rechtsprechung ist allein der subjektive Eindruck des Versicherten nicht ausreichend, um einen erheblichen Gebrauchsvorteil zu belegen. Vielmehr bedarf es eines messbaren Gebrauchsvorteils (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. November 2021 – L 11 R 3540/20 –, juris Rn. 33; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. November 2020 – L 9 KR 90/18 –, juris Rn. 28; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 19. August 2020 – L 6 KR 36/16 –, juris Rn. 48; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 9. Juli 2019 – L 6 KR 62/19 B ER –, juris Rn. 24).
Das von der Klägerin gewählte Hörgerät bietet im Vergleich zum angebotenen eigenanteilsfreien Gerät einen messbaren Gebrauchsvorteil. Die Klägerin war mit dem gewählten Hörgerät nach den vorliegenden Testergebnissen ohne und mit Störschall besser in der Lage, zu hören und zu verstehen. Sie erzielte mit dem erworbenen Gerät ohne Störschall eine Sprachverständlichkeit von 95 % und mit dem eigenanteilsfreien Gerät von 90 %. Im Störschall erzielte sie mit dem erworbenen Gerät eine Sprachverständlichkeit von 82,5 % und mit dem eigenanteilsfreien Gerät von 80 %. Maßstab der Messung war der sog. Freiburger Sprachtest (Einsilbertest).
Der Freiburger Sprachtest ist nach § 21 Abs. 2 ff. HilfsM-RL ein normiertes Verfahren und ermöglicht einen objektiven Vergleich zwischen den getesteten Hörgeräten. Nach den „Tragenden Gründen“ zum Beschluss über die Änderung der HilfsM-RL vom 24. November 2016 wird der Freiburger Sprachtest im Störgeräusch als geeignet angesehen (vgl. https://www.g-ba.de/downloads/40-268-4059/2016-11-24_HilfsM-RL_Freiburger Einsilbertest_TrG.pdf, Abruf 16. April 2024). Bisher hat kein anderes Verfahren den Freiburger Sprachtest wegen besserer Qualität/Geeignetheit abgelöst (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. November 2021 – L 11 R 3540/20 –, juris Rn. 33).
Zur Überzeugung des Senats ist der durch 5 % besseres Sprachverstehen ohne Störschall bzw. 2,5 % im Störschall zu erlangende Gebrauchsvorteil gegenüber dem zuzahlungsfreien Gerät als wesentlich anzusehen und stellt sich nicht nur – durch Berücksichtigung von Messungenauigkeiten – als unwesentlich dar, was in der Rechtsprechung jedoch umstritten ist (wie hier: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. September 2023 – L 1 KR 181/21 –, Rn. 38; Hessisches LSG, Urteil vom 1. Februar 2023 – L 1 KR 384/21 –, juris Rn. 48; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 14. Oktober 2022 – L 16 KR 336/21 –, juris Rn. 49 f.; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7. April 2021 – L 1 KR 325/19 –, juris Rn. 37; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. März 2021 – L 26 KR 228/19 –, juris Rn. 52; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. August 2020 – L 16 R 974/16 –, juris Rn. 33; andere Ansicht: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20. April 2023 – L 6 VK 2721/21 –, juris Rn. 36; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 18. Januar 2023 – L 4 KR 219/22 –, juris Rn. 47; Sächsisches LSG, Urteil vom 20. Dezember 2022 – L 9 KR 311/19 –, juris Rn. 32; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 19. Oktober 2022 – L 7 R 115/15 –, juris Rn. 47; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. November 2021 – L 11 R 3540/20 –, juris Rn. 33; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 2. Februar 2021 – L 11 KR 2192/19 –, juris Rn. 29; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Januar 2020 – L 5 KR 241/18 –, juris Rn. 42; LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 9. Juli 2019 – L 6 KR 62/19 B ER –, juris Rn. 24).
Dass es sich bei dem festgestellten Messunterschied von 5 % in Ruhe bzw. 2,5 % im Störschall zwischen dem ausgewählten Hörgerät und dem zuzahlungsfreien Gerät um eine zu vernachlässigende, bloße Messtoleranz handeln könnte, kann der Klägerin nach Auffassung des Senats – anders als die Beklagte meint – nicht entgegengehalten werden, da die HilfsM-RL bei der Anwendung des maßgeblichen Freiburger Einsilbertests keine derartigen Abschläge für Messungenauigkeiten oder Schwankungen vorsieht.
Eine ggf. in einem Vertrag mit dem Hilfsmittelerbringer enthaltene Messintoleranz kann nicht relevant sein, weil es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass es sich bei dem festgestellten – gegenüber dem aufzahlungsfreien Gerät erzielten – besseren Hörergebnis lediglich um eine der konkreten Testsituation geschuldete zufällige und daher nicht beachtenswerte Abweichung vom Nennmaß handelt. Anhaltspunkte dafür, dass es in der konkreten Testsituation zu Messungenauigkeiten gekommen sein könnte, sind nicht ersichtlich und von der Beklagten auch nicht vorgetragen. Wenn der Freiburger Sprachtest als derzeit am besten geeignet zur Überprüfung der Sprachverständlichkeit angesehen wird (siehe oben), dann muss er auch tatsächlich zugrunde gelegt werden. Bei der Berücksichtigung pauschaler Messtoleranzen ergäbe sich eine Verschiebung zuungunsten der betroffenen Versicherten. Denn auch wenn man unterstellen würde, dass 5 % im Bereich einer Messtoleranz liege, so ist es in diesen Fällen ebenso gut möglich, dass der tatsächliche Unterschied 5 % mehr, also 10 % beträgt. Die Messtoleranz ohne weitere Überprüfung stets „aufzurunden“ und das getestete (Festbetrags-)Gerät pauschal für gleichwertig im Vergleich zum nächstbesseren zu erklären, erscheint daher willkürlich und nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 14. Oktober 2022 – L 16 KR 336/21 –, juris Rn. 49; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. September 2023 – L 1 KR 181/21 –, juris Rn. 38 m.w.N.).
Zwar ist zutreffend, dass im Freiburger Sprachtest ein (einsilbiges) Wort bei der Austestung eine Wertigkeit von 5 % hat, bei einem Unterschied von 5 % also gerade einmal ein einziges Wort einer Testreihe mehr bzw. weniger verstanden wurde. Angesichts des Umstandes, dass in zwei Testserien (vgl. § 21 Abs. 3 Satz 2 HilfsM-RL) insgesamt lediglich 40 Wörter abgefragt werden, hält der Senat diesen Unterschied jedoch durchaus für erheblich. Wenn – übertragen auf den Alltag der hörgeminderten Klägerin – mit dem aufzahlungspflichtigen Hörgerät ohne Störschall jedes 20. bzw. im Störschall jedes 40. Wort besser verstanden wird als mit dem Vergleichsgerät (das sind bei diesem Urteil etwa 200 Wörter ohne Störschall und 100 Wörter im Störschall mehr), so kann diesem Gerät die Tauglichkeit für einen weitergehenden Ausgleich des Funktionsdefizits und damit eine maßgebliche Verbesserung auf dem Weg zu dem erstrebten Gleichziehen der Klägerin mit dem Hörvermögen gesunder Menschen nicht abgesprochen werden. Es handelt sich dabei nicht um bloße Komfortaspekte, sondern um das zentrale Anliegen eines verbesserten Hörens als solches, weshalb unter Beachtung der Teilhabeziele des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 3 SGB V), insbesondere § 1 SGB IX (Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft) ein großzügiger Maßstab anzulegen ist (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 14. Oktober 2022 – L 16 KR 336/21 –, juris Rn. 50 unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R –, juris Rn 29; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. September 2023 – L 1 KR 181/21 –, juris Rn. 39). Ein Indiz für einen nutzbringenden und damit wesentlichen Gebrauchsvorteil mutmaßlich bereits bei geringfügig besseren Messergebnissen sieht der Senat in dem großen Umfang, in dem Versicherte aufzahlungspflichtige Hörgeräte erwerben. Nach dem Fünften Bericht über die Entwicklung der Mehrkosten bei Versorgungen mit Hilfsmitteln gemäß § 302 Absatz 5 SGB V (https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/hilfsmittel/mehrkostenberichte/2023-06_Mehrkostenbericht-Hilfsmittel_barrierefrei.pdf, Abruf 16. Februar 2024) haben im Jahr 2020 52,06 % der mit Hörhilfen versorgten Versicherten Hörhilfen zu Mehrkosten erworben.
Zusätzlich ergibt sich für die Klägerin ein erheblicher Gebrauchsvorteil aus der binauralen Signalverarbeitung, welche das Raumhören und damit das Sprachverstehen ebenfalls positiv beeinflussen und damit das Hörvermögen der Klägerin dem Hören Gesunder weiter angleicht (ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. September 2023 – L 1 KR 181/21 –, juris Rn. 40).
Zudem gibt die betreuende Hörakustikermeisterin im Befundbericht nachvollziehbar an, dass störende Geräusche vom gewählten Gerät KINDduro 3410 durch die Mikrofontechnik und die Störgeräuschunterdrückung deutlich besser verarbeitet werden als mit dem eigenanteilsfreien Gerät.
Soweit die betreuende Hörakustikermeisterin angibt, der Hörverlust der Klägerin sei „ausreichend ausgeglichen“ worden, bezieht sie sich ersichtlich auf die mit den Krankenkassen vereinbarten vertraglichen Mindestvorgaben. Maßstab für die Angleichung an das Hörvermögen Gesunder ist jedoch die bestmögliche Angleichung, welche die Hörakustikmeisterin gerade nicht mit dem eigenanteilsfreien, sondern nur mit dem aufzahlungspflichtigen Gerät erreichen konnte.
b) Die im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Aufwendungen der Klägerin für das erworbene Hörgerät beruhen auch ursächlich auf der Ablehnung der beantragten Leistung durch die Beklagte, so dass der nach Wortlaut und Zweck des § 13 Abs. 3 SGB V notwendige Ursachenzusammenhang zwischen der Kostenlast der Versicherten und der Leistungsablehnung durch die Krankenkasse besteht. Die Klägerin hat den sog. Beschaffungsweg eingehalten und erst zeitlich nach der Ablehnungsentscheidung vom 20. Oktober 2020 das Hörgerät am 4. Dezember 2020 verbindlich erworben. Die Höhe der entstandenen Kosten beruht auf der Anschaffung des für die Versorgung notwendigen Hilfsmittels. Dass mit dem Erwerb weitere, nicht erforderliche Leistungen beschafft wurden, ist nicht ersichtlich und steht zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit. Anhaltspunkte für eine Vorfestlegung der Klägerin bestehen nicht (hierzu BSG, Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 6/21 R –, juris Rn. 17).
2.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.
3.
Der Senat hat die Revision zugelassen, da in der Rechtsprechung der Landessozialgerichte Uneinigkeit darüber besteht, ob Messabweichungen von bis zu 5 % einen wesentlichen oder nur einen – durch Berücksichtigung von Messungenauigkeiten – unwesentlichen Gebrauchsvorteil darstellen. Die Klärung dieser Rechtsfrage hat grundsätzliche Bedeutung, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.