Die Rechtsfrage, ob die Hinderung der endgültigen Leistungsfestsetzung nach § 67 Abs 2, 4 SGB II auch eine nachträgliche Korrektur der Leistungsbewilligung über die §§ 45, 48 SGB X sperrt, ist bislang ungeklärt und bezogen auf die Frage der Prozesskostenhilfebewilligung als rechtlich schwierig einzuschätzen.
Auf die Beschwerden der Kläger werden die Beschlüsse des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 7. März 2022 aufgehoben. Dem Kläger wird für das Klageverfahren S 7 AS 448/21 und der Klägerin für das Klageverfahren S 7 AS 462/21 Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwältin K. als Prozessbevollmächtigte bewilligt.
Gründe:
I.
Die Beschwerdeführer und Kläger (im Folgenden: Kläger) wenden sich jeweils gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe (PKH) für ein Klageverfahren, in dem sie sich gegen die teilweise Aufhebung und Erstattung zuvor bewilligter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für die Zeit vom 1. August bis zum 31. Oktober 2020 wenden.
Die 1966 geborene Klägerin und der 1959 geborene Kläger sind miteinander verheiratet und leben in einer Mietwohnung, für die sie im August und September 2020 monatlich eine Gesamtmiete von 473,94 € (Grundmiete von 297,61 € zzgl. Vorauszahlungen für Betriebskosten von 94,33 € und für Heizkosten von 82 €) und im Oktober 2020 eine Gesamtmiete von 480,61 € (Grundmiete von 297,61 € zzgl. Vorauszahlungen für Betriebskosten von 99 € und für Heizkosten von 84 €) zu zahlen hatten.
Mit Bescheid vom 17. Mai 2020 bewilligte der Beklagte den Klägern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 1. Juni bis zum 30. November 2020 in Höhe von monatlich 1.190,70 €. Dabei berücksichtigte er als Kosten der Unterkunft und Heizung insgesamt 412,70 € und rechnete kein Einkommen an. Die Vorläufigkeit beruhe auf § 67 Abs. 5 SGB II der damaligen Fassung.
Auf den Antrag des Klägers vom 27. April 2020 bewilligte ihm die Bundesagentur für Arbeit (BA) mit Bescheid vom 6. Juli 2020 Arbeitslosengeld gemäß § 136 Drittes Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung (SGB III) vom 5. Mai 2020 bis zum 3. Mai 2022 in Höhe von kalendertäglich 25,84 €. Zugleich informierte sie den Beklagten über die Leistungsbewilligung ab dem 5. Mai 2020 und räumte diesem für die Zeit bis zum 31. Juli 2020 die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs ein. Die Leistung werde für diesen Zeitraum vorläufig nicht an den Kläger ausgezahlt.
Am 31. August 2020 und in der Folgezeit kontaktierten die Kläger den Beklagten mehrfach telefonisch, um auf eine Überzahlung von Leistungen hinzuweisen. Hierzu wird auf die von den Klägern erstellte Übersicht vom 17. November 2021, jeweils Blatt 33 der Gerichtsakten S 7 AS 448/21 und S 7 AS 462/21, verwiesen.
Mit jeweils an den Kläger und die Klägerin gesondert gerichteten Bescheiden vom 1. Juni 2021 hob der Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen für die Zeit vom 1. August bis zum 31. Oktober 2020 teilweise in Höhe von jeweils monatlich 350,60 € auf und forderte von den Klägern die Erstattung eines Betrags von jeweils 1.051,80 €. Bei dem Kläger sei Einkommen (Arbeitslosengeld) anzurechnen, welches zur Minderung des Anspruchs geführt habe. Auf ein persönliches Verschulden des Klägers komme es nicht an. Zudem hätten die Kläger gewusst bzw. wissen müssen, dass der ihnen zuerkannte Anspruch teilweise weggefallen sei.
Die dagegen erhobenen Widersprüche der Kläger vom 11. Juni 2021 wies der Beklagte jeweils mit Widerspruchsbescheid vom 6. August 2021 als unbegründet zurück. Bezüglich des Klägers richte sich die Aufhebung der Leistungen nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Hinsichtlich der Klägerin beruhe die Aufhebung auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X.
Dagegen haben die Kläger jeweils am 2. September 2021 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Dessau-Roßlau erhoben (Kläger: S 7 AS 448/21 und Klägerin: S 7 AS 462/21) und die Aufhebung der Aufhebungs- und Erstattungsbescheide vom 1. Juni 2021 begehrt: Ein etwaiges Einkommen des Klägers sei dem Beklagten rechtzeitig mitgeteilt worden. Die Kläger hätten sich auf die Berechnungen des Beklagten verlassen und das Vorliegen einer Überzahlung nicht erkennen können.
Mit Beschlüssen vom 7. März 2022 hat das SG hinsichtlich des Klägers und der Klägerin jeweils die Bewilligung von PKH abgelehnt. Die Klagen hätten nach summarischer Prüfung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Kläger habe Einkommen erzielt, welches auf den Leistungsbedarf anzurechnen sei. Subjektive Aspekte wie Verschulden oder Bösgläubigkeit seien nicht entscheidend. Die Klägerin habe Kenntnis von dem Einkommen ihres Ehemanns gehabt und hierzu den Beklagten auch mehrfach kontaktiert. Mithin könne ihrem Vortrag, sie habe die Überzahlung nicht erkennen können, nicht gefolgt werden.
Gegen die ihnen am 14. März 2022 zugestellten Beschlüsse des SG haben die Kläger jeweils am 16. März 2022 Beschwerde beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (LSG) eingelegt: Es sei unklar gewesen, welche Zahlungen dem Kläger tatsächlich zustünden. Es liege weder eine arglistige Täuschung noch eine Geheimhaltung vor. Ihnen sei mehrfach mündlich mitgeteilt worden, es liege ein Fehler seitens des Beklagten vor.
Die Kläger beantragen nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Beschlüsse des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 7. März 2022 aufzuheben sowie dem Kläger für das Klageverfahren S 7 AS 448/21 und der Klägerin für das Klageverfahren S 7 AS 462/21 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Rechtsanwältin K. zu bewilligen.
Unter dem 12. Mai 2023 haben die Kläger ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse betreffend die Bewilligung von PKH glaubhaft gemacht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten, auch die der Klageverfahren S 7 AS 448/21 und S 7 AS 462/21, und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten ergänzend Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der Beratung des Senats gewesen.
II.
Die nach § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegten Beschwerden sind nach § 172 Abs. 1 SGG statthaft. Das SG hat die Bewilligung von PKH ausschließlich wegen der mangelnden Erfolgsaussicht verneint, sodass kein Fall des Ausschlusses der Beschwerde nach § 172 Abs. 3 Nr. 2a SGG vorliegt. Der nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 2 Satz 2 Zivilprozessordnung (ZPO) für die Zulässigkeit notwendige Beschwerdewert von 750 € ist überschritten. Denn streitig ist die Aufhebung und Erstattung von Leistungen nach dem SGB II in Höhe von jeweils 1.051,80 €.
Die Beschwerden sind auch begründet. Zu Unrecht hat das SG die Bewilligung von PKH abgelehnt. Die Kläger haben Anspruch auf Bewilligung von PKH unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten. Die Rechtsverfolgung in den Klageverfahren vor dem SG bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg und ist nicht mutwillig (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 114 ZPO). Die Erfolgsaussichten waren zum Zeitpunkt der PKH-Entscheidung zumindest offen.
Nach § 73a Abs. 1 SGG in Verbindung mit den §§ 114 ff. ZPO ist auf Antrag PKH zu bewilligen, soweit der Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder -verteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Als hinreichend sind die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels einzustufen, wenn der Erfolg in der Hauptsache zwar nicht gewiss, eine Erfolgschance jedoch nicht unwahrscheinlich ist (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 13. März 1990, 1 BvR 94/98, juris). PKH kommt hingegen nicht in Betracht, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 17. Februar 1998, B 13 RJ 83/97 R, juris Rn. 26).
Unter Anwendung dieses Maßstabs bieten die Klageverfahren eine hinreichende Erfolgsaussicht. Es ist zumindest offen, ob der Beklagte die den Klägern zuvor mit Bescheid vom 17. Mai 2020 vorläufig bewilligten Leistungen zurecht teilweise aufheben und deren Erstattung verlangen durfte.
Der Beklagte hat seine Aufhebungsentscheidung hier trotz der vorläufigen Leistungsbewilligung auf § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II (in der Fassung vom 29. April 2019) in Verbindung mit § 330 SGB III und § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und Nr. 4 SGB X gestützt. Außerhalb des erleichterten Bewilligungsverfahrens nach § 67 Abs. 1 SGB II (in der Fassung vom 27. März 2020) müssen Änderungen im Verlauf des vorläufigen Leistungsbezugs im Zuge der endgültigen Bewilligung berücksichtigt werden; eine auf § 48 SGB X gestützte Aufhebung der vorläufigen Bewilligung ist rechtswidrig (BSG, Urteil vom 29. April 2015, B 14 AS 31/14 R, juris; Geiger/Thie in LPK SGB II, 7. Auflage 2021, § 67 Rn. 51). Nachträgliche Änderungen werden also im Normalfall ausschließlich im Rahmen der endgültigen Leistungsbewilligung berücksichtigt.
Hier sind jedoch die Regelungen des § 67 SGB II zu berücksichtigen. Nach § 67 Abs. 5 SGB II ist für Leistungen, deren Bewilligungszeitraum in der Zeit vom 31. März 2020 bis vor dem 31. August 2020 endet, für deren Weiterbewilligung abweichend von § 37 kein erneuter Antrag erforderlich. Der zuletzt gestellte Antrag gilt insoweit einmalig für einen weiteren Bewilligungszeitraum fort. Soweit bereits die vorausgegangene Bewilligung nach § 41a vorläufig erfolgte, ergeht abweichend von Satz 3 auch die Weiterbewilligungsentscheidung nach § 41a aus demselben Grund für sechs Monate vorläufig. § 60 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil (SGB I) sowie die §§ 45, 48 und 50 SGB X bleiben unberührt. Der Beklagte hat die vorläufige Leistungsbewilligung vom 17. Mai 2020 zurecht auf § 67 Abs. 5 SGB II gestützt.
Nach § 67 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 4 SGB II ist den Leistungsträgern eine endgültige Leistungsbewilligung hier jedoch von Amts wegen versagt. Sie dürfen eine abschließende Entscheidung über den monatlichen Leistungsanspruch nur auf Antrag der leistungsberechtigten Person treffen. Die in § 41a Abs. 3 Satz 1 SGB II vorgesehene Möglichkeit der abschließenden Entscheidung aufgrund eines entsprechenden Interesses der Behörde ist hingegen grundsätzlich ausgeschlossen. Das gilt auch bezogen auf vorläufige Weiterbewilligungsentscheidungen, sofern der Beginn des Bewilligungszeitraums - wie hier - in die Zeit vom 1. März bis zum 30. Juni 2020 fällt. Wie sich die Einkommensverhältnisse tatsächlich entwickelt haben, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Mit dieser Regelung sollten Leistungsberechtigte und die Jobcenter von einer Überprüfung der tatsächlichen Einkommensverhältnisse entlastet werden und ein verlässliches Einkommen sichergestellt werden (vgl. Gesetzesbegründung BT-Drucksache 19/18107, S. 26).
Ob diese Hinderung der endgültigen Leistungsfestsetzung auch eine nachträgliche Korrektur der Leistungsbewilligung über die §§ 45, 48 SGB X sperrt, ist in der Rechtsprechung bislang nicht geklärt und bezogen auf die Frage der PKH-Bewilligung nach Auffassung des Senats als rechtlich schwierig einzuschätzen. Mithin waren die Erfolgsaussichten der Klage zum Zeitpunkt der Entscheidung über den PKH-Antrag zumindest offen.
Gegen eine Aufhebungs- bzw. Rücknahmesperre spricht, dass nach dem Sinn und Zweck der Regelung nicht gewollt sein kann, schuldhaft verursachte Überzahlungen oder unvorhergesehene nachträgliche Einkommenszuwächse, die nicht Grund für den Vorläufigkeitsvorbehalt der Leistungsbewilligung waren, aufgrund der Sonderregelung des § 67 Abs. 4 Satz 2 SGB II dem Leistungsempfänger zu überlassen, obwohl die Leistungsbewilligung offensichtlich rechtswidrig ist. Dies führt gerade bei schuldhaftem Verhalten zu sinnwidrigen Ergebnissen (so auch Geiger/Thie, a.a.O. § 67 Rn. 50). Dieser Ansicht folgend können die SGB II-Leistungsträger dann nach den §§ 45 ff. SGB X vorgehen, wenn die Leistungsbezieher keine abschließende Bewilligung beantragen (Geiger in Gestaltungsmöglichkeiten und Leistungsstörungen im vereinfachten Bewilligungsverfahren nach § 67 SGB II, ZFSH/SGB 2020, S. 496, 499). Hierfür spricht auch die Verweisung in § 67 Abs. 5 Satz 5 SGB II auf die Mitteilungspflichten nach § 60 SGB I und die bei unterlassener Mitteilung möglichen Folgen aus §§ 45, 48 und 50 SGB X.
Der Auffassung folgend, § 48 SGB X sei im vorliegenden Fall anwendbar, läge hier sowohl für den Kläger als auch die Klägerin ein Fall des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X vor, der kein Verschulden voraussetzt. Aber auch ein Fall des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X dürfte hier vorliegen, da die Kläger nach eigenen Angaben den Beklagten mehrfach auf die Überzahlung (teilweise rechtswidrige Leistungserbringung) hingewiesen haben und somit bösgläubig im Sinne der Vorschrift waren.
Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung der PKH liegen vor.
Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von PKH sind nicht erstattungsfähig (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO).
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).