Anfechtung eines gerichtlichen Vergleichs zu Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung wegen eines Mehrbedarfs.
I. Es wird festgestellt, dass die Klageverfahren S 46 SO 453/18 und S 46 SO 405/19 am 10. November 2021 durch Vergleich beendet wurden.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
T a t b e s t a n d :
Der am 1940 geborene Kläger hat die österreichische Staatsangehörigkeit. Er bezog bis Februar 2004 Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz.
Mit Schreiben vom 30.12.2005 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Er bezog und bezieht eine Pension aus Österreich und eine Altersrente der Deutschen Rentenversicherung (damals 14 x jährlich 185,76 Euro bzw. monatlich 348,56 Euro). Wegen regelmäßigen Einzahlungen auf das Girokonto, Scheckeinreichungen und fehlenden Abhebungen für den Lebensunterhalt erfolgte der Ablehnungsbescheid vom 26.06.2006, dazu der Widerspruchsbescheid vom 03.09.2007, die erfolglose Klage S 51 SO 417/07 und ein Vergleich am LSG (L 8 SO 31/08).
Eine Bewilligung vom 21.06.2007 für die Zeit von Juli 2007 bis einschließlich Februar 2008, wohl in Vollzug des Beschlusses des LSG im Eilverfahren L 8 B 784/06 SO ER, wurde aufgehoben (Bescheid vom 21.06.2007), aber wohl ohne Rückforderung der Leistungen (Bescheid vom 07.11.2017).
Ein neuer Leistungsantrag vom 25.08.2007 führte zum Versagungsbescheid vom 21.02.2008 nach § 66 SGB I wegen mangelnder Mitwirkung. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 07.09.2011 zurückgewiesen, die Klage S 40 SO 515/11 mit Gerichtsbescheid abgewiesen und die Berufung L 8 SO 248/12 endete am 10.03.2016 mit einer Aufhebung des Versagungsbescheids. Die vom Kläger dort angestrengte Wiederaufnahme blieb erfolglos (B 8 SO 140/15).
Ein weiteres Eilverfahren (S 51 SO 546/07 ER) endete zwischenzeitlich nach Beschwerde zum LSG unter L 8 B 241/08 SO ER am 15.05.2008 mit einem Überprüfungsvergleich. Dieses Überprüfungsverfahren führte zu einem neuen Versagungsbescheid vom 28.07.2008, der aber mit Bescheid vom 07.12.2009 von der Beklagten wieder aufgehoben wurde.
1. Zur Klage S 46 SO 453/18:
Inzwischen erfolgte ein drittes Eilverfahren S 51 SO 357/08 ER bzw. L 8 B 851/08 SO ER ohne Erfolg. Die vom LSG dabei angesprochenen Fragen mündete in einer Mitwirkungsaufforderung der Beklagten an den Kläger vom 28.08.2009, mit der Einzahlungen (bei der Deutschen Bank zusammen 8.650,- Euro), Guthaben (14.000,- Euro bei der Royal Bank of Scottland, 10.200,- Euro bei der Comdirektbank und 20.886,- Euro bei der Deutschen Bank) und Einkünfte (unter anderem 3.604,- Euro Kapitaleinkünfte bei der Deutschen Bank) aufgeklärt werden sollten. Es folgen weitere Anfrageschreiben, wegen des Klage- und Berufungsverfahrens zum Versagungsbescheid vom 21.02.2008 zuletzt mit großen Zeitabstand am 09.10.2017 und am 07.11.2017. Weil der Kläger die Mitwirkung vollständig verweigerte, erfolgte der Versagungsbescheid vom 18.01.2018 wegen mangelnder Mitwirkung für die Zeit von Dezember 2008 bis 29.11.2017. Für die Zeit von 01.07.2007 bis 30.11.2008 erfolgte zuvor ein Ablehnungsbescheid vom 07.11.2017 in der Sache.
Der Kläger erhob sowohl Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 07.11.2017 als auch gegen den Versagungsbescheid vom 18.01.2018. Beide Widersprüche wurden mit Widerspruchsbescheid vom 22.08.2018 als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen erhob der Kläger am 05.09.2018 die Klage S 46 SO 453/18. Der den Kläger zuerst vertretende VdK legte das Mandat im Verlauf der Klage nieder. Aus einer Entscheidung des OLG C-Stadt vom 30.04.2020 ergab sich eine Ablehnung von Prozesskostenhilfe für eine zivilrechtliche Klage des Klägers gegen die schwer demente Frau Edeltraud Kell, die der Kläger auf eine Vergütung in Höhe von 28.000,- Euro verklagte. Dem Kläger wurde durch Beschluss vom 12.10.2021 im Rahmen der Prozesskostenhilfe ein Rechtsanwalt beigeordnet.
2. Zur Klage S 46 SO 405/19:
Der Kläger stellte am 26.01.2019 einen neuen Leistungsantrag. Er gab eine deutsche Rente von monatlich 429,46 Euro und eine österreichische Pension von 238,16 Euro an. Auf das Anforderungsschreiben vom 15.02.2019 antwortete der Kläger, dass er nicht mitwirken werde wegen "betrügerischem amtsmissbräuchlichem Handeln der Behörde". Nachfolgend übermittelte er gleichwohl Kontoauszüge für Januar, Februar und März 2019. Daraus ergab sich eine deutsche Rente von 431,86 Euro (Zahlbetrag) und eine Wohnungsmiete von insgesamt 374,11 Euro. Abhebungen für den Lebensunterhalt waren 30,- Euro im Februar und null Euro im März 2019. Es folgte der Versagungsbescheid vom 23.04.2019 wegen mangelnder Mitwirkung für die Zeit ab 01.01.2019. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 30.07.2019 als unbegründet zurückgewiesen. Der Kläger erhob am 13.08.2019 dagegen die Klage S 46 SO 405/19. Auch dort legte der VdK sein Mandat nieder. Dem Kläger wurde auch dort im Rahmen der Prozesskostenhilfe ein Rechtsanwalt beigeordnet.
3. Mündliche Verhandlung am 10.11.2021:
Am 10.11.2021 wurden die beiden vorgenannten Klagen zur öffentliche Sitzung geladen. Es kam die Klage S 46 SO 453/18 zum Aufruf. Der Kläger war persönlich erschienen und von seinem Rechtsanwalt begleitet. Der Sachverhalt wurde vorgetragen und der Rechtsstreit mit den Beteiligten erörtert. Der Kläger wies darauf hin, dass er aktuell bei seiner Krankenkasse Schulden in Höhe von 7.835,97 Euro habe und kein Vermögen über 5.000,- Euro besitze. Der Vorsitzende unterbreitete den Beteiligten einen Vergleichsvorschlag, den die Beteiligten anschließend genehmigten, laut Protokoll ausdrücklich auch durch den Kläger und dessen Rechtsanwalt.
Der protokollierte Vergleich lautet:
Vergleich:
I. Die Beklagte zahlt die heute offenen Schulden des Klägers bei der Krankenkasse in Höhe von 7.835,97 Euro direkt an die Pronova BKK.
II. Die Beklagte zahlt dem Kläger für die Zeit von 01.11.2021 bis 31.10.2022 Leistungen der Grundsicherungen im Alter und bei Erwerbsminderung in Höhe von monatlich 300,- Euro. Von diesem Betrag gehen die Beiträge an die Kranken- und Pflegeversicherung ab; diese Beträge überweist die Beklagte direkt an die Krankenversicherung. Soweit der Kläger für die Zukunft eine Erhöhung der Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung nachweist, wird diese Erhöhung von der Beklagten zusätzlich übernommen.
III. Außergerichtliche Kosten werden nicht übernommen.
IV. Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass damit die Klageverfahren S 46 SO 453/18 und S 46 SO 405/19 und damit alle Leistungsansprüche für die Zeit von ab Juli 2007 bis aktuell endgültig und abschließend erledigt sind; damit werden auch Überprüfungsverfahren für die Zeit bis aktuell ausgeschlossen. Falls es noch offene Widerspruchsverfahren gibt, sind diese damit erledigt.
4. Fortführung des Verfahrens:
Mit Schreiben vom 02.12.2021 an das Sozialgericht München teilte der Kläger mit, dass er von der Beklagten nach seiner Auffassung monatlich 17,57 Euro zu wenig erhalten würde. Aus Begleitschreiben ergibt sich, dass der Kläger von 190,- Euro für die Kranken- und Pflegeversicherung ausging, die der Vorsitzende Richter in der mündlichen Verhandlung genannt habe, die tatsächlichen aktuellen Beiträge der Kranken- und Pflegeversicherung der Pronova BKK sich aber auf monatlich 207,57 Euro beliefen (so Schreiben der Beklagten an den Kläger vom 25.11.2021). Das Gericht wies den Kläger mit Schreiben vom 17.02.2022 darauf hin, dass im Vergleich gerade keine Festlegung eines Abzugsbetrages für die Kranken- und Pflegeversicherung erfolgt sei.
Mit Schreiben vom 19.02.2022 an das Sozialgericht forderte der Kläger die "Wiedereinsetzung des Verfahrens in den alten Stand" unter "Widderruf der Ziffer II" des Vergleichs vom 10.11.2021. Er habe erst nach der ersten Zahlung der Grundsicherung die tatsächliche Höhe der Versicherungsbeiträge erkennen können. Aktuell lägen diese bei 222,38 Euro.
Mit Schreiben vom 26.02.2022 machte der Kläger geltend, dass ihm auch ein Mehrbedarf wegen Schwerbehinderung mit Merkzeichen G zustehe in Höhe von 17 % des Regelsatzes. Weil das Gericht über die Schwerbehinderung nicht informiert gewesen sei und die Schwerbehinderung im Vergleich nicht erwähnt worden sei, sei Ziffer II. des Vergleichs auch deshalb zu wiederrufen. Die Beklagte schulde seit 26.07.2017 die 17 % des Regelsatzes.
Mit Schreiben vom 11.03.2022 erklärte der Kläger gegenüber dem Gericht, den Vergleich wegen Irrtums anzufechten. Ihm stehe der Mehrbedarf von 17 % schon seit Dezember 2005 zu. Dies seien 194 Monate und damit 12.610,- Euro zuzüglich 4 % Zinsen pro Jahr. Das sei auch der Grund für eine Anfechtung des Vergleichs wegen arglistiger Täuschung (Schreiben vom 26.03.2022).
Die Beteiligten wurden zum beabsichtigten Erlass eines Gerichtsbescheids angehört.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die Klage ist zulässig. Bei Streit über die Wirksamkeit eines Vergleichs wird der Rechtsstreit fortgesetzt. Es ist durch Urteil bzw. Gerichtsbescheid zu entscheiden, ob der Rechtsstreit durch Vergleich beendet ist (dann eben dieses feststellende Urteil) oder, wenn die Beendigung verneint wird, in der Sache zu entscheiden (Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Auflage 2020, § 101, Rn. 17 und 18). Hier wurden die beiden Klageverfahren S 46 SO 453/18 und S 46 SO 405/19 durch den Vergleich vom 10.11.2021 beendet.
Gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind vorher zu hören. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Der Vergleich wurde wirksam und ordnungsgemäß zu Protokoll des Gerichts abgeschlossen. Dieser hat die beiden Klagen beendet (Ziffer IV. des Vergleichs). Es gibt keinen Grund für die Unwirksamkeit des Vergleichs. Zu erwähnen ist, dass der Kläger beim Vergleichsabschluss auch anwaltlich beraten war.
Einen Widerrufsvorbehalt enthält der Vergleich nicht.
Soweit der Kläger auf Mehrkosten der Kranken- und Pflegeversicherung abstellt (zuerst 17,57 Euro monatlich, dann wohl 32,38 Euro) fehlt es schon an einem Irrtum (Anfechtungsgrund). Der Vergleich enthält keine Erklärung zur Höhe der Versicherungsbeiträge. Im Gegenteil, aus dem Vergleichsinhalt ergibt sich, dass die konkreten Beiträge zu den Versicherungen am 10.11.2021 weder den Beteiligten noch dem Vorsitzenden Richter bekannt waren. Nur für den Fall einer Erhöhung der Versicherungsbeiträge aus Sicht des Vergleichsabschlusses, also ab dem 10.11.2021, wurde zusätzlich geregelt, dass die Beklagte die Erhöhung der Versicherungsbeiträge zusätzlich übernimmt. Wenn ein Punkt (konkrete Höhe der Versicherungsbeiträge) niemandem bekannt war, wohl aber die Größenordnung, kann der Kläger nicht anschließend einen Erklärungsirrtum (Bedeutung und Tragweite der Erklärung verkannt; vgl. Palandt, BGB, 76. Auflage 2017, § 119 Rn. 11) geltend machen. Außerdem ist die Anfechtung nicht fristgerecht erfolgt. Nach § 121 Abs. 1 BGB hätte die Anfechtung ohne schuldhaftes Zögern und damit unverzüglich erfolgen müssen. Der Kläger hat erstmals am 19.02.2022 sinngemäß die Anfechtung des Vergleichs erklärt, obwohl er spätestens mit Schreiben der Beklagten vom 25.11.2021 vom angeblichen Anfechtungsgrund informiert wurde.
Soweit sich der Kläger auf den Mehrbedarf wegen Schwerbehinderung mit Merkzeichen G in Höhe von 17 % des Regelsatzes nach § 30 Abs. 1, § 42 Nr. 2 SGB XII beruft, besteht ebenfalls kein Anfechtungsgrund.
Der Vergleich enthält weder eine Berechnung des existentiellen Bedarfs (der Mehrbedarf wäre dabei nur ein Berechnungsposten) noch eine konkrete Einkommensanrechnung. Gegenstand des Vergleichs war vielmehr ein angenommener Leistungsbeitrag von 300,- Euro, von dem noch die nicht konkret bekannten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung abzuziehen waren. Eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung liegt schon nach dem Vortrag des Klägers nicht vor. Wenn er selbst keine entsprechenden Informationen an die Beklagte lieferte (die Antragsformulare fragen die Mehrbedarfe ab), dann führt kein Weg zu einer Täuschungshandlung der Beklagten.
Es liegt auch kein Irrtum über die Vergleichsgrundlage nach § 779 Abs. 1 BGB vor, weil der Mehrbedarf schon kein streitausschließender Umstand war (vgl. Palandt, a.a.O., § 779 Rn. 17). Es war insgesamt strittig, ob der Kläger überhaupt irgendeinen Leistungsanspruch in der strittigen Zeit hatte. Die Hilfebedürftigkeit ab 2007 war bis aktuell nicht nachgewiesen und bei den beiden Versagungsbescheiden war eine Leistungsklage ohnehin ausgeschlossen. Der Kläger hätte ohne den Vergleich wohl keinen Euro bekommen, auch nicht die 7.835,97 Euro für die Krankenkasse. Im Übrigen halten die Überlegungen des Klägers, er könne für gut 16 Jahre (194 Monate) einen Mehrbedarf in Rechnung stellen, obwohl er laut dem Vergleich für die Zeit von Juli 2007 bis Oktober 2021 von vornherein keinerlei Leistungsansprüche hat, selbst kurzem Nachdenken nicht stand.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.