L 2 R 3132/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 15 R 2109/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 3132/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 28. September 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand


Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.

Der 1973 geborene Kläger absolvierte erfolgreich eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker. Seit 1993 war er bis zuletzt als Produktionsmitarbeiter/Maschinenführer bei U1 versicherungspflichtig beschäftigt. Nach Angaben des Klägers ruht das Beschäftigungsverhältnis. Der Kläger leidet seit seiner Geburt an Fehldeformitäten beider Füße. Nachdem er im Jahr 2012 einen Leisten- und Bauchnabelbruch erlitt, bezog er zunächst Krankengeld und sodann Leistungen der Bundesagentur für Arbeit. Nach Durchführung einer Berufsfindungsmaßnahme von Dezember 2014 bis März 2015 (Kostenträger Beklagte) machte er von Mitte September 2016 bis Januar 2017 eine Umschulung zum Fachinformatiker (Kostenträger Beklagte), die er krankheitsbedingt vorzeitig abbrach (reguläres Ende der Maßnahme: Ende Juni 2018). Bis April 2018 bezog der Kläger sodann Krankengeld. Seit 01.06.2018 bezieht er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch. Wegen der Einzelheiten der rentenversicherungsrechtlichen Zeiten wird auf den Versicherungsverlauf vom 10.11.2020 (Bl. 44/46 SG-Akte) Bezug genommen. Bei dem Kläger ist ein Grad der Behinderung von 50 und Merkzeichen G seit 07.12.2012 (Bl. 312 VA) anerkannt.

Vom 18.06.2013 bis 23.07.2013 befand sich der Kläger zur medizinischen Rehabilitation in den J1 Kliniken, Abteilung Psychosomatik/Psychotherapie aus der er mit den Diagnosen leichte depressive Episode, kombinierte Persönlichkeitsstörungen, Hallux valgus, Senk-Spreizfuß und vorwiegend allergisches Asthma bronchiale und mit der ärztlichen Einschätzung eines Leistungsvermögens von mehr als sechs Stunden täglich im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche entlassen wurde (ärztlicher Entlassbericht, Bl. 863 ff. VA).

Vom 02.01.2018 bis zum 06.02.2018 war er in stationärer rehabilitativer Behandlung in der Psychosomatischen Klinik J1 in M1. Im Reha-Entlassungsbericht vom 09.02.2018 (Bl. 416 ff. VA) wurden folgende Diagnosen genannt: Dysthymia, soziale Phobie, kombinierte Persönlichkeitsstörung, arterielle Hypertonie, degeneratives Wirbelsäulensyndrom mit Intercostalneuralgie rechts thorakal, Zustand nach rechtsseitigem Schlaganfall mit Hemiparese links 2010, allergisches Asthma mit Pollinose (Heuschnupfen), Adipositas, Hypercholesterinämie, Pes planus congenitus (angeborener Knick-Plattfuß), Nikotinabhängigkeit. Es wurden Einschränkungen in dem qualitativen Leistungsbild getroffen. Als Maschinenschlosser und entsprechend auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt liege, so die dort behandelnden Ärzte, ein arbeitstägliches Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche vor.

Am 28.03.2018 gab Z1 von der Agentur für Arbeit H1 eine gutachterliche Stellungnahme (Bl. 337 ff. VA) ab, wonach für den Kläger trotz seiner Erkrankungen ein „vollschichtiges Leistungsbild überwiegend sitzend mit der Möglichkeit zum Wechsel Sitzen, Gehen, Stehen“ bestehe.

Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 11.12.2018 am 12.12.2018 (Eingang Beklagte) eine Rente wegen Erwerbsminderung (Bl. 108 ff. VA) und gab zur Begründung an, er fühle sich seit Jahren aufgrund einer psychischen Störung, Kreislaufregulationsstörung, hohem Blutdruck, Funktionsstörung der Lunge, Asthma, Allergien und einer Funktionsstörung beider Füße für erwerbsgemindert (Bl. 290 ff. VA).

Die Beklagte zog verschiedene medizinische Unterlagen bei, u.a. Befundberichte des behandelnden M2 aus den Jahren 2016 bis 2018 sowie die gutachterliche Stellungnahme des W1, Agentur für Arbeit H1, vom 17.05.2019 (Bl. 367 ff. VA), wonach bei dem Kläger wesentliche und voraussichtlich längerfristige Einschränkungen der psychischen Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit und ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden für länger als sechs Monate bestünden. Dieser empfahl eine Nachuntersuchung in ca. zwei Jahren. Wegen des laufenden Rentenverfahrens sei die „jetzige Leistungsbeurteilung noch nicht endgültig“.

Auf Veranlassung der Beklagten erstattete die K1 ihr Gutachten vom 04.06.2019 (Bl. 395 ff. VA), die nach Untersuchung des Klägers vom 28.05.2019 auf ihrem Fachgebiet die Diagnosen Dysthymie im Sinne einer leichtgradigen depressiven Verstimmung, soziale Phobie ohne ausgeweitetes Vermeidungsverhalten und kombinierte Persönlichkeitsstörung (in leichter Ausprägung) stellte und zu der Einschätzung gelangte, der Kläger sei in der Lage, leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen (ohne besondere Anforderungen an die Gang- und Standsicherheit, ohne Zeitdruck, ohne Ersteigen von Treppen, Leitern und Gerüsten; ohne Absturzgefahr, ohne Verantwortung für anderen Menschen, ohne Nacht- und Wechselschicht) sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten.

Gestützt auf dieses Gutachten lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung mit Bescheid vom 24.07.2019 (Bl. 95 ff. VA) ab. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 23.07.2020 (Bl. 266 ff. VA) zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 21.08.2020 Klage zum Sozialgericht (SG) Mannheim erhoben.

Das SG hat die den Klägern behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. Der S1 hat mit Schreiben vom 16.11.2020 (Bl. 49 ff. SG-Akte) unter Vorlage kardiologischer Befundberichte aus den Jahren 2015 bis 2020 - aus denen sich ergibt, dass eine Ischämie nicht nachgewiesen worden sei und es keinen Hinweis für eine relevante koronare Herzkrankheit gebe - mitgeteilt, dass er das Leistungsvermögen des Klägers nicht beurteilen könne.
Der M2 hat mit Schreiben vom 25.11.2020 (Bl. 74 ff. SG-Akte) ausgeführt, er behandle den Kläger seit dem Jahr 2013 und seit 2019 alle ein bis zwei Monate. Der Kläger leide unter einer „Double Depression im Sinne einer leichten chronischen Depressivität (Dysthymia)“, auf die sich in regelmäßigen Abständen schwerere depressive Episoden „aufpfropfen“ würden. Über die Jahre habe sich die Erkrankung verkompliziert, so dass am 01.01.2019 weitere phobische Beschwerden hinzugetreten seien. Außerdem zeige der Kläger dauerhafte Erfahrens- und Verhaltensmuster, die eine verzerrte Wahrnehmung und Interpretation von Dingen, Menschen und Ereignissen bedingen würden. Es bestehe eine Störung der Variationsbreite, der Affektivität und der emotionalen Ansprechbarkeit, eine Störung der Bedürfnisbefriedigung sowie der zwischenmenschlichen Interaktion sowie der Motivation und Volition. Solche Störungsmuster würden „mit dem Begriff Persönlichkeitsstörung subsummiert“. Es sei eine Dysthymia, soziale Phobie, kombinierte und andere Persönlichkeitsstörung und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome diagnostiziert worden. Dem Kläger sei es nur noch möglich täglich weniger als drei Stunden zu arbeiten. Es bestünden gesundheitlich bedingte Einschränkungen in Bezug auf Arbeitshaltung, Arbeitsorganisation, Arbeitsschwere, Funktion der Sinnesorgane, Aktivität und Umweltfaktoren.
Die R1 hat mit Schreiben vom 03.12.2020 (Bl. 76 ff. SG-Akte) mitgeteilt, dass der Kläger letztmalig im Februar 2018 vorstellig gewesen sei wegen beidseitigen Klumpfußes, beginnender Coxarthrose links, und beginnender, dezenter Osteochondrose der LWS L5/S1. Der Kläger sei für leichte körperliche Arbeiten belastbar, allerdings nicht mit überwiegendem Stehen oder Gehen. Leidensgerecht seien wechselnd sitzende und stehende Tätigkeiten überwiegend im Sitzen, z.B. Büroarbeiten.

Das SG hat von Amts wegen das Gutachten des S2 vom 24.06.2021 (Bl. 104 ff. SG-Akte) eingeholt, der nach Untersuchung des Klägers am 21.06.2021 auf seinem Fachgebiet keinen Anhalt für eine aktuelle Erkrankung auf neurologischem Fachgebiet gefunden und folgende Diagnosen gestellt hat: Angst und depressive Störung, gemischt; Persönlichkeitsakzentuierung (hierunter gefasst: sozialphobische Symptome), schädlicher Alkoholkonsum, schädlicher Nikotinkonsum. S2 hat ausgeführt, dass der Ausprägungsgrad der seelischen Symptomatik als leicht bis allenfalls mittel einzustufen sei. Die psychische Symptomatik sei nicht derart ausgeprägt bzw. entziehe sich nicht derart der zumutbaren Willensanstrengung, als dass sie ein unüberwindbares Hemmnis für die Aufnahme und Ausführung einer Tätigkeit im Umfang von arbeitstäglich mindestens sechs Stunden bzw. vollschichtig darstellen würde. Es liege ein arbeitstägliches Leistungsvermögen ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit von mindestens sechs Stunden bis zur arbeitsmarktüblichen Höchstdauer von acht Stunden unter Berücksichtigung des qualitativen Leistungsbildes auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche vor. Der Kläger könne eine leidensgerechte Tätigkeit mit der erforderlichen Regelmäßigkeit ausüben. Qualitative Leistungseinschränkungen bestünden für körperlich schwere Arbeiten überwiegend im Stehen/Gehen, aufgrund einer erhöhten seelischen Vulnerabilität Tätigkeiten unter Akkordbedingungen oder in Nachtschicht sowie vermehrte Lärmbelästigung ab einem Dezibel von über 85, weitgehend widrige klimatische Bedingungen und inhalative Belastungen (wegen des Lungenleidens), Tätigkeiten mit vermehrten Anforderungen an die Konzentration oder Reaktion, Tätigkeiten mit vermehrt psychischen Belastungen wie Tätigkeiten mit vermehrt emotionalen Belastungen oder mit einem erhöhten Konfliktpotential. Zusätzliche, betriebsunübliche Pausen seien nicht notwendig. Zusammengefasst könne der Kläger leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne vermehrt geistige und psychische Belastungen in Tagesschicht oder in Früh-/ Spätschicht verrichten. Einschränkungen der Wegefähigkeit bestünden nicht.

Das SG hat auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Gutachten des B1 vom 02.04.2022 (Bl. 170 ff. SG-Akte) eingeholt, der nach Untersuchung des Klägers am 29.03.2022 auf seinem Fachgebiet eine mittelgradige depressive Episode, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen psychischen Faktoren, eine Panikstörung bei Agoraphobie, Nikotinabhängigkeit und chronischen Alkoholabusus diagnostiziert hat. B1 hat ausgeführt, der Kläger sei „nicht mehr in der Lage dazu, sich in irgendeiner Weise an den Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zu beteiligen, und zwar auch nicht halbschichtig oder unter halbschichtig und auch nicht unter drei Stunden pro Tag“. Er sei qualitativ und quantitativ hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit als sehr behindert zu beschreiben. Seine Wegefähigkeit sei insofern eingeschränkt, als er zu Fuß ohnedies nur gehen könne unter erheblichen Schmerzzuständen, die er lediglich durch die Aufnahme dementsprechender Medikamente etwas reduzieren könne. Nahezu bei jeglichem Gehen müsse er besondere Schuheinlagen tragen. Er sei also ständig auf Hilfsmittel angewiesen. Bei dem Kläger sei von einer großen Anzahl von Funktionsstörungen seelischer und körperlicher Art auszugehen. Seine sogenannte Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit sei massiv reduziert, ebenso seine Lebensqualität. Seine Fähigkeit, sich sozial zu integrieren, sei deutlich behindert. Bei der Teilnahme an sozialen Veranstaltungen bestehe für den Kläger die Gefahr, in einen Panikzustand zu geraten. Seine chronische Depressivität vor dem Hintergrund seiner sonstigen Erkrankungen und vor allem „vor dem Hintergrund seiner sehr schwierigen Adoleszenz“ würden es ihm nicht möglich machen, sich unbeschwert in der Gemeinschaft körperlich und seelisch-emotional zu bewegen. Seine allgemeine Leistungsfähigkeit sei massiv beeinträchtigt. Seine Schmerzen und seine körperlichen Behinderungen ansonsten seien dafür verantwortlich zu machen. Er leide unter erheblichen Schwächen seiner unteren Extremitäten. Der Kläger sei, was sein Gehen angehe, sehr behindert. Wegefähigkeit sei nicht gegeben. Dies gelte mindestens seit Rentenantragstellung.

Der Leistungseinschätzung von B1 ist die Beklagte unter Vorlage der sozialmedizinischen Stellungnahme des N1 vom 28.04.2022 und der Sachverständige S2 in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 30.05.2022 entgegengetreten. Insoweit wird auf Bl. 232/234 und Bl. 235/242 SG-Akte Bezug genommen.

Mit Urteil vom 28.09.2022 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, dass auf der Grundlage der maßgeblichen gesetzlichen Regelungen die Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung beim Kläger nicht gegeben seien. Ein Absinken seiner beruflichen und körperlichen Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf ein Leistungsvermögen von weniger als sechs Stunden täglich lasse sich nicht belegen. Dies ergebe sich zur Überzeugung des SG aus dem Gesamtergebnis der medizinischen Ermittlungen, insbesondere den Sachverständigengutachten von S2. Nicht zu überzeugen vermocht hätten die sachverständige Zeugenaussage von M2 sowie das Sachverständigengutachten von B2. Der Schwerpunkt der Erkrankungen des Klägers liege auf psychiatrischem Fachgebiet. Aufgrund der vorhandenen Erkrankungen auf diesem Fachgebiet ergäben sich keine Einschränkung im rentenrechtlichen Ausmaß. Aus neurologischer, psychiatrischer und internistischer Sicht könne der Kläger ohne unmittelbare Gefährdung seiner Gesundheit zumindest leichte körperliche Tätigkeiten in verschiedenen Arbeitshaltungen verrichten. Aufgrund der orthopädischen Leiden sollte die Möglichkeit zum Wechsel der Körperhaltung bestehen. Auch bei den Fußdeformitäten sollten die Tätigkeiten überwiegend zu ebener Erde sein. Es liege die erhöhte seelische Vulnerabilität vor. Daher seien Tätigkeiten unter Akkordbedingungen oder in Nachtschicht nicht leidensgerecht. Es liege auch das Lungenleiden vor, insofern sei auch eine Nachtschichtarbeit bei dem physiologischerweise nachts erhöhten Bronchomotorentonus nicht leidensgerecht. Widrige klimatische Bedingungen seien weitgehend auszuschließen. Gelegentlich seien diese jedoch noch möglich. Inhalative Belastungen seien bei dem Lungenleiden weitgehend zu vermeiden. Eine vermehrte Lärmbelästigung als psychogener Stressor sei ebenfalls zu vermeiden. Lärm gelte ab einer Dezibelzahl von > 85 als psychogener Stressor. Auch seien Tätigkeiten mit vermehrten Anforderungen an die Konzentration oder Reaktion nicht leidensgerecht. Tätigkeiten mit vermehrt psychischen Belastungen seien aufgrund der Persönlichkeitsakzentuierung nicht vertretbar. Hierzu gehörten Tätigkeiten mit vermehrt emotionalen Belastungen oder mit einem erhöhten Konfliktpotential.
Das Gericht folge dem Gutachten von S2, da es schlüssig sei. Der Sachverständige S2 habe ausführliche Befunde erhoben, hierauf gestützt die Diagnosen richtig und vollständig gestellt und hierauf seine Leistungsbeurteilung gestützt. Es ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die von S2 vorgenommene Beurteilung unzutreffend sei. Die gegenteiligen Ausführungen des behandelnden M2 sowie des Sachverständigen B1 würden nicht überzeugen. S2 habe hingegen überzeugend ausgeführt, dass sich unter Berücksichtigung der Aktenlage, der Anamnese und der von ihm erhobenen Untersuchungsbefunde kein ausreichender Grund für die Annahme einer Einschränkung des Durchhaltevermögens bei Berücksichtigung der Einschränkung im qualitativen Leistungsbild ergebe. Die kognitiven Funktionen, insbesondere die Denkfunktionen, seien nicht leistungsrelevant eingeschränkt. Der Kläger sei in der Lage seinen Tagesablauf angemessen zu strukturieren. In dem psychischen Befund habe sich keine signifikante Antriebsminderung oder gar psychomotorische Hemmung gezeigt. Der Kläger sei geistig gut flexibel gewesen. Kognitive oder mnestische Defizite relevanten Ausmaßes hätten nicht erhoben werden können. Für eine hirnorganisch bedingte psychische Symptomatik habe sich kein Anhalt ergeben. In der Grundstimmung habe der Kläger allenfalls leicht niedergestimmt, belastet, ängstlich gewirkt. In seiner Grundpersönlichkeit habe er neurasthenisch und sozialphobisch veranlagt gewirkt. Für eine Persönlichkeitsstörung oder für eine sozialmedizinisch relevante Suchterkrankung habe sich kein Anhalt gezeigt. Es bestünden keine Einschränkungen des Zeitmanagements. Auch lägen keine nachvollziehbaren, relevanten Störungen der sozialen Kompetenzen und der Alltagskompetenzen vor. Eine weitgehende, objektivierbare bzw. ausreichend begründbare Einschränkung der Fähigkeit zur Teilhabe an den Aktivitäten des täglichen Lebens beispielsweise in den Bereichen Mobilität, Selbstversorgung, Kommunikation, Antrieb, Konzentrationsfähigkeit, Interesse und Aufmerksamkeit liege bei dem Kläger nicht vor. Eine organisch bedingte vermehrte Erschöpfbarkeit bestehe nicht. Eine auffallende Erschöpftheit sei in der Gutachtensituation bei S2 nicht erkennbar gewesen. Im Elektroencephalogramm hätten sich keine Vigilanzschwankungen oder gar -minderungen gezeigt. Ein Summationseffekt der Beschwerden, bedingt durch Leiden verschiedener Fachgebiete untereinander, in dem Ausmaß, dass das zeitliche Leistungsvermögen eingeschränkt wäre, liege nicht vor. Die psychische Symptomatik sei nicht derart ausgeprägt, dass dem Kläger nicht mit zumutbarer Willensanstrengung ein unzumutbares Hemmnis für die Ausführung einer Tätigkeit im Umfang von arbeitstäglich mindestens sechs Stunden entgegenstehen würde.
Die gegenteilige Leistungseinschätzung des behandelnden M2 vermöge, so das SG, nicht zu überzeugen. Es handele sich vielmehr um den, den Kläger behandelnden Arzt, der diesem grundsätzlich als Therapeut gegenübertrete und in dieser Rolle die subjektiven Schilderungen des Klägers keiner neutralen objektiven Prüfung unterziehe. Eine schwergradige depressive Störung (episodenweise) habe nach den schlüssigen Darstellungen des Sachverständigen S2 bei dem Kläger nicht erhoben werden können. Insbesondere hätten aktuell die drei Hauptsymptome der Depression (depressiver Affekt, Interessenverlust, Antriebsminderung) nicht im Vollbild vorgelegen. Es habe auch keine depressive Denkstörung bestanden.
Das Sachverständigengutachten von B1 vermöge - so das SG - ebenfalls nicht überzeugen. Der Gutachter beschreibe das Vorliegen von Hinweisen auf einen sogenannten sekundären Krankheitsgewinn. Dieses sei als Anhalt für eine zumindest Beschwerdebetonung zu sehen. Auch an anderer Stelle habe der Sachverständige B1 ausgeführt, bei der Testerhebung sei ein Ergebnis von dem Kläger erzielt worden, welches die Annahme von Aggravationstendenzen unterstreiche. Die Schlussfolgerung von B1, dass die Aggravationstendenzen des Klägers nicht geeignet wären, die eigenen diagnostischen und sozialmedizinischen Schlussfolgerungen zu irritieren, erscheine weder nachvollziehbar noch schlüssig. Wie S2 überzeugend in seiner ergänzenden Stellungnahme dargelegt habe, stelle eine gutachterlich ausgewiesene Aggravation ein Beweisführungshindernis dar. Insbesondere im Rahmen psychiatrischer Gutachten, bei denen die Beschwerdeschilderung des Probanden ein wichtiges Kriterium in diagnostischer Hinsicht und in der Beurteilung von Funktionsbeeinträchtigungen sei, bewirke ein aggravierendes Verhalten, dass dem Gutachten eine zuverlässige Beurteilungsgrundlage entzogen sei. Eine Einschränkung der Wegefähigkeit des Klägers liege nicht vor.

Der Kläger hat am Montag, den 07.11.2022 gegen das - seinem früheren Prozessbevollmächtigten am 06.10.2022 zugestellte - Urteil Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Zu deren Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, S2 habe - anders als B1 - kein Testverfahren zur Feststellung des Schweregrades einer psychischen Erkrankung angewandt. S2 habe sich in erster Linie darauf bezogen, dass er - der Kläger - im Rahmen der Testverfahren Aggravationstendenzen gezeigt habe. Nach Auffassung von S2 würde dies dazu führen, dass das Gutachten von B1 nicht verwertbar sei. Diese Ansicht sei ohne weitere Prüfung der rechtlichen Relevanz vom SG übernommen worden. Allerdings gebe es keinen Erfahrungssatz dahingehend, dass (fachpsychiatrische) Gutachten, sofern die Probanden Verdeutlichungs- und Aggravationstendenzen zeigen, nicht zu verwerten seien. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass die Qualität und Quantität der behaupteten Aggravation und Verdeutlichung anhand des Gutachtens gerade nicht habe festgestellt werden können. Vor diesem Hintergrund könne die Feststellung von S2 und die Feststellung des SG, Gutachten, bei denen der Proband Verdeutlichungs- und Aggravationstendenzen zeige, seien nicht oder nur bedingt verwertbar, keinen Bestand haben. Außerdem habe S2 zur Auswertung der von B1 durchgeführten Testverfahren keine ausreichenden Kenntnisse.



Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 28. September 2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Juli 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. Dezember 2018 Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Im Berufungsverfahren ist auf Antrag und Kosten des Klägers die ergänzende gutachterliche Stellungnahme von B1 vom 11.04.2023 eingeholt worden, in der er an seiner Leistungseinschätzung festgehalten hat. Insoweit wird auf Bl. 55/69 der Senats-Akte ausdrücklich Bezug genommen.

Dem ist die Beklagte mit der sozialmedizinischen Stellungnahme der H2 vom 02.05.2023 entgegengetreten. Insoweit nimmt der Senat auf Bl. 73/76 der Senats-Akte Bezug.

Es wurde sodann die ergänzende gutachterliche Stellungnahme von S2 vom 25.05.2023 eingeholt. Auf diese - Bl. 81/88 der Senats-Akte - wird ebenfalls Bezug genommen.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist unbegründet.

Das SG hat die statthafte kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und Abs. 4 SGG) zu Recht abgewiesen. Dem Kläger steht die geltend gemachte Rente wegen Erwerbsminderung nicht zu. Der Bescheid vom 24.07.2019 in Gestalt des Widerspruchsescheides vom 23.07.2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Rechtsgrundlage für die begehrte Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI). Danach haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser (Abs. 1 der Regelung) bzw. voller (Abs. 2 Satz 1 der Regelung) Erwerbsminderung, wenn sie - u.a. - teilweise oder voll erwerbsgemindert sind. Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Volle Erwerbsminderung besteht über die Regelung des § 43 Abs. 2 SGB VI hinaus, nach der Rechtsprechung des BSG (Großer Senat, Beschluss vom 10.12.1976, u.a. GS 2/75) bei regelmäßig bejahter Verschlossenheit des Arbeitsmarktes auch dann, wenn eine zeitliche Leistungseinschränkung von drei bis unter sechs Stunden vorliegt. Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage

Das SG hat in den Gründen angefochtenen Entscheidung zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die hier begehrte Rente wegen Erwerbsminderung dargelegt und gestützt auf das Sachverständigengutachten von S2 ebenso zutreffend ausgeführt und begründet, dass der Kläger diese Voraussetzungen nicht erfüllt, weil sein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung der von dem Sachverständigen S2 beschriebenen und vom SG zutreffend - oben im Tatbestand - festgestellten qualitativen Einschränkungen nicht weniger als sechs Stunden beträgt. Es hat weiter zutreffend die rechtlichen Grundlagen zur Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung bei eingeschränkter Wegefähigkeit dargelegt und begründet, warum beim Kläger diese Einschränkung nicht vorliegt. Schließlich hat das SG überzeugend dargelegt, dass und warum es der Leistungseinschätzung des Sachverständigen B1 und des behandelnden M2 nicht folgt.

Der Senat schließt sich daher der Begründung des SG nach eigener Prüfung uneingeschränkt an, sieht deshalb insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung gemäß § 153 Abs. 2 SGG aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück.

Ergänzend stellt der Senat fest, dass bei dem Kläger auf Grund seiner Fußdeformitäten qualitativen Einschränkungen derart bestehen, dass keine besonderen Anforderungen an die Gang- und Standsicherheit gestellt werden dürfen und das Ersteigen von Leitern und Gerüsten sowie Tätigkeiten mit Absturzgefahr nicht leidensgerecht sind. Gleiches gilt für Tätigkeiten, die mit Verantwortung für anderen Menschen verbunden sind. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten der K1, das der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet. Rentenrelavante Auswirkungen auf das zeitliche Leistungsvermögen oder auf die Wegefähigkeit (dazu unten) werden hierdurch indes nicht begründet.

Die im Berufungsverfahren durchgeführten Ermittlungen führen zu keiner anderen Beurteilung des klägerischen Leistungsvermögens. Denn sowohl S2 in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 25.05.202023 - ebenso wie bereits in jener vom 30.05.2022 - als auch H2 in ihrer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 02.05.2023 haben für den Senat überzeugend dargelegt, warum bei dem Kläger kein Leistungsvermögen von unter sechs Stunden vorliegt und daher an der Einschätzung von S2 in seinem Gutachten vom 24.06.2021 festgehalten wird. Hierauf nimmt der Senat ausdrücklich Bezug.

S2 hat zutreffend in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 25.05.2023 ausgeführt, dass B1 die von ihm angenommene Einschränkung des Durchhaltevermögens bei Berücksichtigung der von S2 genannten qualitativen Leistungseinschränkungen nicht belegt hat. Gleiches gilt im Übrigen für die von B1 angenommene erheblich eingeschränkte Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit. Dies ist für den Senat angesichts der von S2 erhobenen Befunde bei der gutachterlichen Untersuchung (Kläger auskunftsbereit und kooperativ, im interaktionellen Verhalten freundlich zugewandt und höflich, Sprache regelrecht moduliert, fest; keine Sprechstörungen wie Stammeln oder Stottern; gutes Sprachverständnis und sprachliches Ausdrucksvermögen; keine Störungen des Bewusstseins, der Orientierung, der Auffassung und der Konzentration; in der Gutachtensituation keine Gedächtnisstörungen nachzuweisen; kein Anhalt für eine hirnorganisch bedingte psychische Symptomatik, angemessen im Antrieb, keine signifikante Antriebsminderung oder gar psychomotorische Hemmung; wirkte in der Grundstimmung niedergeschlagen, belastet, leicht depressiv und besorgt bzw. ängstlich; affektive Resonanzfähigkeit allenfalls leicht zum negativen Pol hin verschoben, aber zum positiven Pol nicht aufgehoben; formales Denken nicht verlangsamt, folgerichtig; keine inhaltlichen Denkstörungen, keine Sinnestäuschungen oder Ich-Störungen, keine dissoziativen Störungen, keine relevanten somatoformen Beschwerden; keine endogene circadiane Rhythmik der Stimmungslage; Kläger betonte vor allem auch eine reaktive Komponente des seelischen Befindens bei den Belastungen im Alltag, hat ein sowohl somatisches als auch seelisches Krankheitsgefühl; Kläger beschrieb soziale Rückzugstendenzen; wirkt in seiner Grundpersönlichkeit neurasthenisch veranlagt auch mit sozialphobischen Persönlichkeitsanteilen; für Persönlichkeitsstörung oder für sozialmedizinisch relevante Suchterkrankung kein Hinweis; keine Suizidalität) überzeugend.

Dieser Befund stimmt im Übrigen im Wesentlichen mit dem von K1 bei der gutachterlichen Untersuchung am 28.05.2019 erhobenen Befund überein. Zur Untersuchung erschien dort ein altersentsprechend wirkender, gepflegter Kläger, in allen Qualitäten voll orientiert, zu dem gut Kontakt hergestellt werden konnte. Bezüglich vorbehandelnder Ärzte wirkte er vorwurfsvoll, in der Untersuchung mehrfach klagsam, aber auch zu Scherzen aufgelegt, die affektive Schwingungsfähigkeit war nicht eingeschränkt, affektiv war er leichtgradig dysphorisch herabgestimmt. Der Antrieb war gut, psychomotorisch war er ruhig. Konzentration, Auffassungsvermögen und Mnestik waren vollkommen ungestört. Das formale Denken war geordnet, anamnestisch abends Grübelneigung. Es bestanden keine Ich-Störungen, keine Halluzinationen, kein wahnhaftes Erleben. Angegeben wurden Ängste in Kontakt vor anderen Menschen mit Vermeidung von Sozialkontakten, keine Panikattacken, keine Zwänge, keine lebensmüden Gedanken.

Angesichts der sowohl von K1 als auch von S2 im Wesentlichen übereinstimmend erhobenen Befunde und der darauf basierenden übereinstimmenden Einschätzung des zeitlichen Leistungsvermögens ist der Senat von einem mindestens sechsstündigen Leistungsvermögen des Klägers überzeugt.

Soweit B1 das herabgesetzte zeitliche Leistungsvermögen mit den psychischen Erkrankungen des Klägers begründet hat, überzeugt dies den Senat aus verschiedenen Gründen nicht. Der von B1 erhobene Befund (wirkt verbittert, Sozialkontakt nach eigenen Angaben eingeschränkt, Psychomotorik angespannt, klare Bewusstseinslage, keine Orientierungsstörungen, Wahrnehmungsstörungen, Störungen der Ich-Funktion, des Gedankengangs und des Gedankeninhalts; erheblich eingeschränkte Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit; Auffassungsvermögen korreliert mit durchschnittlicher intellektueller Strukturierung, Gedächtnis und Merkfähigkeit aus objektiver Sicht nicht beeinträchtigt; Aufmerksamkeit angestrengt, jedoch genügend; Konzentrationsfähigkeit angestrengt, jedoch genügend; Kritikfähigkeit erhalten; keine Hinweise auf Zwangssymptomatik; Angstsymptome: Kläger berichtet, in bestimmten Situationen Angstgefühle zu bekommen, z.B. wenn er sich unter vielen Menschen aufhalte; außerdem käme es bei ihm immer wieder zu panikartigen Zuständen in unterschiedlicher Häufigkeit, bei denen er schnell atme und heftig schwitze; Stimmungslage: „subjektiv: seelisch geht es mir schlecht, ich bin depressiv“, objektiv: sehr gedrückte und besorgte Grundstimmung; Affektivität: deutlich eingeengt in Richtung des depressiven Pols, Hinweise auf gewisse Affektlabilität; Antrieb: subjektiv stark vermindert; Hinweise zur Persönlichkeitsstruktur: Kläger habe sich selbst als einen sensiblen Menschen beschrieben, auch als einen solchen, der anderen gegenüber nachtragend und stur auftreten könne; aus objektiver Sicht sensible und depressive Merkmale, nicht jedoch solche anankastischer, hysterischer oder schizoider Art; Hinweise zur Psychodynamik: konflikthafte Adoleszenz vor dem Hintergrund seiner von Geburt an bestehenden Behinderungen, deutliche Somatisierungstendenzen; Hinweise auf einen sogenannten sekundären Krankheitsgewinn) begründet hingegen zur Überzeugung des Senats kein rentenrelevant herabgesunkenes Leistungsvermögen. Zwar weicht der Befund zumindest hinsichtlich Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit, Grundstimmung und Affektivität von den von S2 und K1 insoweit erhobenen Befunden deutlich ab. Indes hat B1 die von ihm selbst im Rahmen der testpsychologischen Untersuchung herausgearbeiteten Aggravationstendenzen und dem von ihm selbst geäußerten Krankheitsgewinn und der dadurch bedingten negativen Antwortverzerrungen - so auch N1 und S2 in ihren Stellungnahmen - zur Überzeugung des Senats nicht hinreichend kritisch gewürdigt. Soweit B1 ausgeführt hat, dass diese Aggravationstendenzen nicht geeignet seien, seine diagnostische und sozialmedizinische Schlussfolgerung zu „irritieren“ und zur Begründung ausgeführt hat, dass diese zu verstehen und von ihm „zu akzeptieren“ seien, da sich der Kläger „von den Bewertungen des S2 nicht genügend verstanden und angenommen“ gefühlt habe, folgt dem der Senat nicht. N1 hat in seiner Stellungnahme überzeugend dargelegt, dass gerade bei Hinweisen auf eine negative Antwortverzerrung zwischen „authentischem" zu „nicht-authentischem" Antwortverhalten nicht zuverlässig unterschieden werden kann, weshalb die Authentizität des Antwortverhaltens in Frage zu stellen ist und daher nicht mit der zu fordernden Sicherheit von wesentlichen abweichenden Verhältnissen im Sinne einer Verschlechterung ausgegangen werden kann. Dies hat auch H2 in ihrer Stellungnahme bestätigt und überzeugend ausgeführt, es sich bei einer auffällig eingeschränkten Offenheit erfahrungsgemäß schwierig gestaltet, eine sichere Diagnose zu stellen, vor allem im Hinblick auf die Ausprägung der psychischen Problematik. Soweit B1 in seinem Gutachten im Zusammenhang mit den durch die testpsychologische Untersuchung untermauerten Aggravationstendenzen zu „bedenken“ gibt, dass der Kläger nicht alle Fragen beantwortet habe, legt er zudem seine Schlussfolgerung dazu nicht dar. Im Übrigen - hierauf verweist N1 zutreffend - ist dadurch nicht ausgeschlossen, dass der erreichte Punktwert bei Beantwortung aller Fragen noch höher hätte liegen können und die Aggravationstendenzen noch mehr untermauert hätte.

Überdies, darauf hat bereits S2 in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 30.05.2022 zutreffend hingewiesen, ist maßgeblich, ob sich die vom Kläger subjektiv angegebenen Beschwerden zum Antrieb, zur Stimmungslage und zu seinen Ängsten im Rahmen der Untersuchung objektivieren lassen. Entgegen den Ausführungen von B1 in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 11.04.2023 (S. 6) ist es mitnichten so, dass der Angabe des Klägers „in aller Regel“ zu folgen ist. Dies mag aus der Sicht eines ärztlichen Behandlers zutreffen, nicht indes aus der Sicht eines ärztlichen Sachverständigen, der subjektive Angaben zu objektivieren hat. Dies gilt umso mehr, wenn der Sachverständige - wie hier - selbst Antwortverzerrungen feststellt. Soweit B1 u.a. auch wegen etwaiger Ängste im Kontakt mit anderen Menschen zu der Einschätzung eines aufgehobenen Leistungsvermögens gelangt ist, überzeugt dies den Senat auch deshalb nicht, weil der Kläger dem Sachverständigen gegenüber selbst angegeben hat (S. 3 des Gutachtens), in der Vergangenheit mehrere Beziehungen gehabt zu haben und auch seine letzte Beziehung (erst) an Silvester 2021/2022 geendet sei. Ein derart ausgeprägtes Rückzugsverhalten, dass einer Erwerbstätigkeit unter Berücksichtigung von qualitativen Leistungseinschränkungen nicht mehr nachgegangen werden könnte, kann daraus nicht abgeleitet werden. Dies wird im Übrigen von K1 bestätigt, die ausführte, dass der Kläger bezüglich einer sozialen Phobie einen geringen Leidensdruck vermittele und sie nicht derart ausgeprägt sei, dass er z.B. seine Wohnung nicht verlassen könnte.

Nicht unerwähnt lässt der Senat in diesem Zusammenhang, dass S2 in seiner letzten Stellungnahme klargestellt hat, dass er die von B1 erhobenen testpsychologischen Untersuchungsergebnisse entgegen dessen Behauptung gerade nicht isoliert, sondern in Zusammenschau mit Aktenlage, aktuell erhobener Anamnese und erhobenen Befunden beurteilt hat und auch die von B1 angeführten AWMF-Leitlinien seiner - des S2 - Beurteilung nicht widersprechen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Woraus der Kläger ableitet, dass S2 keine hinreichenden Kenntnisse zur Beurteilung der testpsychologischen Untersuchungsergebnisse habe, erschließt sich dem Senat nicht.

Soweit B1 das Ausmaß der psychischen Erkrankung des Klägers u.a. mit der seit Geburt gegenwärtigen schwierigen Lebensentwicklung des Klägers wegen der mit den Fußdeformitäten verbundenen gesundheitlichen und sozialen Schwierigkeiten (z.B. Ausgrenzung) begründet und S2 vorgeworfen hat, dieser sei im Zusammenhang mit der von ihm erkannten nur sehr leichten depressiven Stimmung „mit keinem Wort“ auf die „absolut schwierige Lebensentwicklung“ des Klägers eingegangen (S. 34 des Gutachtens B1), hat S2 für den Senat überzeugend ausgeführt, dass eine schwierige Lebensentwicklung indes nicht zwingend ein seelisches Beschwerdebild in einem solchen Ausmaß bewirkt, dass eine psychiatrische Diagnose gestellt werde und er sehr wohl - neben den aktuell erhobenen Befunden - auch die biographische Anamnese des Klägers berücksichtigt habe (S. 5 seiner ergänzenden Stellungnahme vom 25.05.2023).

Die Einwendungen des B1 zum Gutachten und der ergänzenden Stellungnahme des S2 greifen nach alledem nicht durch.

Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass es im Rahmen der Prüfung von Erwerbsminderung nicht maßgeblich auf eine bestimmte Diagnosestellung, die Art und Anzahl von Diagnosen oder auf die Bezeichnung von Befunden ankommt, sondern auf die Beeinflussung des individuellen quantitativen sowie qualitativen Leistungsvermögens durch dauerhafte Gesundheitsstörungen (Bundessozialgericht - BSG -, Beschluss vom 28.02.2017 - B 13 R 37/16 BH –, juris Rn. 15), also auf die durch die Gesundheitsstörungen verursachten funktionellen Beeinträchtigungen. Dementsprechend spielen auch die Ursachen der Gesundheitsstörung keine entscheidende Rolle (BSG, a.a.O.).

Eine schwere, überdauernde depressive oder andere psychische Beeinträchtigung des Klägers mit rentenrelevanten funktionellen Auswirkungen auf das berufliche Leistungsvermögen ist nach alledem somit nicht sicher festzustellen.

Soweit B1 noch auf das Bluthochdruckleiden, eine Neurodermitis und die Medikamenteneinnahme abgestellt hat, begründet auch dies kein rentenrelevant eingeschränktes Leistungsvermögen. S2 hat für den Senat überzeugend in seiner Stellungnahme vom 25.05.2023 dargelegt, dass weder ein medikamentös behandeltes Bluthochdruckleiden ohne relevante Folgeerkrankungen noch eine in Schüben verlaufende Neurodermitis zu einer dauerhaften, zeitlichen Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens führt. Gleiches gilt für den Umstand, dass der Kläger Medikamente nimmt.

Im Übrigen liegt eine Einschränkung der Wegefähigkeit, wie vom SG zutreffend angenommen, nicht vor.

Grundsätzlich setzt eine Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen voraus, eine Arbeitsstelle aufzusuchen. Denn eine Tätigkeit zum Zweck des Gelderwerbs ist in der Regel nur außerhalb der Wohnung möglich. Das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität ist deshalb Teil des nach § 43 SGB VI versicherten Risikos (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.1991 - 13/5 RJ 73/90 -, juris Rn. 16). Erwerbsfähigkeit setzt danach grundsätzlich die Fähigkeit des Versicherten voraus, vier Mal am Tag Wegstrecken von mehr als 500 Meter mit zumutbarem Zeitaufwand, d.h. jeweils innerhalb von 20 Minuten, zu Fuß bewältigen und zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können (vgl. BSG, a.a.O.). Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z.B. Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.1991, a.a.O., Urteil vom 19.11.1997 - 5 RJ 16/97 -, juris).

S2 hat in Erwiderung zum Gutachten und der Stellungnahme von B1 - der davon ausgegangen ist, dass die Wegefähigkeit insofern eingeschränkt sei, als der Kläger zu Fuß nur unter erheblichen Schmerzzuständen gehen könne, die er lediglich durch die Aufnahme dementsprechender Medikamente etwas reduzieren könne; er bei nahezu jeglichem Gehen besondere Schuheinlagen tragen und ständig auf Hilfsmittel angewiesen sei - erneut überzeugend begründet, dass er die Wegefähigkeit des Klägers für gegeben hält. Zum einen, da die Fußdeformitäten des Klägers nicht derart ausgeprägt sind, dass es ihm nicht möglich wäre, viermal täglich Arbeitswege von jeweils etwas mehr als 500 Metern in weniger als 20 Minuten zu Fuß zurückzulegen. Dies hat S2 schlüssig und nachvollziehbar aus dem von ihm erhobenen Befund der unteren Extremitäten abgeleitet (S. 15 des Gutachtens: Bewegungseinschränkungen an den Sprunggelenken beidseits und an den Füßen bei angeborenen Deformitäten, für Paresen an den unteren Extremitäten klinisch kein ausreichender Anhalt, keine Nervendehnungszeichen, Fingerkuppen-Boden-Abstand etwa 20 cm, Gangbild etwas breitbasig, Fußsohlen werden vermindert abgerollt; Schuheinlagen, für neurogene Gangstörung kein Anhalt). Zum anderen ergibt sich die Wegefähigkeit aus der Tatsache, dass der Kläger zur gutachterlichen Untersuchung allein mit öffentlichen Verkehrsmitteln angereist ist und gegenüber S2 angegeben hat, dass er mit dem Auto fahre, wenn er fahren müsse. Dies wird bestätigt durch das im Verwaltungsverfahren eingeholte Gutachten von K1. Zu dieser gutachterlichen Untersuchung war der Kläger ebenfalls mit öffentlichen Verkehrsmitteln angereist. Er gab außerdem an, dass er regelmäßig Auto fahre (sofern er Geld für Sprit habe) und Fahrrad fahre; wenn er seine Eltern besuche, nehme er den Bus oder sein Auto. Selbst bei der Anamnese durch B1 hat der Kläger angegeben, dass er selbst Auto fahre und zur gutachterlichen Untersuchung mit dem Auto angereist sei. Im Übrigen bestehen die Fußdeformitäten des Klägers bereits seit seiner Geburt. Soweit der Kläger - und auch B1 - auf bestehende Arthrosen in Sprung- und Fußgelenken und damit verbundene Schmerzen verwiesen haben, leidet der Kläger auch daran nach eigenen Angaben „schon immer“ (S. 7, 37 des Gutachtens B1). Die Erkrankungen an den unteren Extremitäten haben aber zum einen in der Vergangenheit weder eine regelmäßige Erwerbstätigkeit noch das Zurücklegen der üblichen Arbeitswege verhindert. Im Übrigen hat, worauf S2 zutreffend hingewiesen hat, der Kläger weder bei der Anamnese ihm gegenüber noch gegenüber B1 eine regelmäßige Schmerzmedikation angegeben, die - auch für den Senat - Rückschlüsse auf das subjektive Schmerzempfinden bzw. den Leidensdruck zulassen. Zum anderen kann den durch die Fußdeformitäten verursachten funktionellen Einschränkungen durch die Berücksichtigung qualitativer Leistungseinschränkungen (dazu siehe oben) hinreichend Rechnung getragen werden.

Soweit B1 eine Einschränkung der Wegefähigkeit neben den Fußdeformitäten auch mit „psychischen bzw. seelischen Beeinträchtigungen“ begründet (S. 5 seiner ergänzenden Stellungnahme vom 11.04.2023), vermag auch dies den Senat nicht zu überzeugen. Denn, wie sich aus der Anamnese sowohl des S2 als auch des B1 selbst ergibt, verlässt der Kläger sehr wohl sein Haus und benutzt öffentliche Verkehrsmittel. Selbst die von B1 diagnostizierte „Panikstörung bei Agoraphobie“ sowie die „mittelgradige depressive Episode“ und die „chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ stehen dem offensichtlich nicht entgegen. Auch vor diesem Hintergrund bestehen Zweifel an der von B1 vorgenommenen Leistungseinschätzung.

Nur am Rande merkt der Senat an, dass nicht zuletzt auch die Äußerungen des Klägers gegenüber K1, „falls seine Rente genehmigt würde, würde er sich überlegen, einen Minijob zu suchen, höchstens drei Stunden, Kuchen ausliefern oder so etwas Ähnliches“ belegen, dass er sich selbst für wegefähig hält. Ebenso hat er angegeben, dass er noch Spaziergänge macht (S. 13 des Gutachtens B1).

Nach der Gesamtschau dieser Umstände ist die von B1 angenommene eingeschränkte bzw. aufgehobene Wegefähigkeit widerlegt. Der Kläger ist zur Überzeugung des Senats unter Zuhilfenahme von orthopädischen Hilfsmitteln sowie öffentlicher Verkehrsmittel, dem eigenen Auto und dem Fahrrad in der Lage, die üblichen (dazu s.o.) Wege von und zu einer Arbeitsstelle zurückzulegen.

Soweit B1 in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 11.04.2023 zuletzt kritisiert hat, dass S2 nicht einerseits als unabhängiger Gutachter und andererseits als Beratungsarzt für die Berufsgenossenschaft auftreten könne, verkennt er bereits, dass - sofern er damit die Unabhängigkeit des S2 im Zweifel ziehen will - im vorliegenden Verfahren schon deshalb keine „Abhängigkeit“ bestehen kann, da eine Berufsgenossenschaft gerade nicht beteiligt ist, sondern allein ein Rentenversicherungsträger.

Zuletzt weist der Senat darauf hin, dass das SG entgegen dem Berufungsvorbringen des Klägers nicht von einem Beweisverwertungsverbot bzgl. des Gutachtens von B1 ausgegangen ist, sondern lediglich ausgeführt hat, dass die Aggravationstendenzen ein Beweisführungshindernis - für den hier beweispflichtigen Kläger - begründen. Dies ist zutreffend, da eine zuverlässige Beurteilung aufgrund der negativen Antwortverzerrungen nicht möglich ist.

Aus den vorgenannten Gründen ist die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.  


 

Rechtskraft
Aus
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