L 10 R 3543/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 8 R 511/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 3543/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 05.11.2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten steht (erneut) die Gewährung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung im Streit.

Der1965 geborene Kläger wuchs in der Türkei auf, verzog im Jahr 1978 in die Bundesrepublik Deutschland und erlernte nach eigenen Angaben keinen Beruf (S. 150 ff. VA). Seit September 1982 war er sozialversicherungspflichtig beschäftigt, zuletzt von September 1990 bis zum 31.03.2015 als Laufkontrolleur (S. 31, 59 VA). Im Zeitraum vom 01.04.2015 bis zum 01.11.2015 bezog er Arbeitslosengeld (S. 504 VA) und vom 02.11.2015 bis zum 19.03.2017 Krankengeld (S. 503 VA), ausgenommen den Zeitraum vom 18.05.2016 bis zum 21.06.2016, in dem sich der Kläger in stationärer medizinischer Rehabilitation in der M1Klinik in K1 befand und Übergangsgeld bezog (S. 503 VA). Vom 20.03.2017 bis zum 17.02.2018 bezog er erneut Arbeitslosengeld und vom 01.03.2018 bis zum 31.08.2018 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Vom 01.09.2018 bis zum 11.03.2019 war der Kläger nochmals versicherungspflichtig beschäftigt. Seit April 2018 erhält er wieder Leistungen nach dem SGB II. Es besteht ein Grad der Behinderung von 50 (S. 582 VA). Auf den Versicherungsverlauf vom 02.03.2021 (S. 32 ff. SG-Akte S 8 R 511/21) wird hinsichtlich der Einzelheiten der von dem Kläger zurückgelegten rentenrechtlichen Versicherungszeiten verwiesen. 

In dem Entlassungsbericht der M1Klinik vom 27.06.2016 wurden als Diagnosen eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung mitgeteilt. Die Leistungsfähigkeit des Klägers wurde für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als zeitlich nicht eingeschränkt angesehen. Schwere Arbeiten könnten überwiegend im Stehen, überwiegend im Gehen und ständig im Sitzen, in Tages-/Früh- und Spätschicht ausgeübt werden (S. 26 ff. VA).

Am 30.01.2017 stellte der Kläger einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten (S. 494 ff. VA), den die Beklagte mit Bescheid vom 03.03.2017 ablehnte (S. 2 ff. VA).

Der Kläger befand sich vom 18.02. bis zum 23.02.2017 und am 05.04 und 06.04.2017 wegen einer koronaren Drei-Gefäß-Erkrankung in stationärer Krankenhausbehandlung. Es erfolgte die Implantation von Stents (Entlassungsbriefe der S1 Kliniken vom 23.02.2017 und vom 29.04.2017, S. 48 ff. VA und S. 134 ff. VA).

Auf den Widerspruch des Klägers (S. 536, 538 f. VA) ließ die Beklagte ihn durch die B1 begutachten (S. 101 ff. VA, Untersuchungstag 06.06.2017). B1 diagnostizierte eine Angststörung. Es bestehe ein über sechsstündiges Leistungsvermögen für mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne längere Zwangshaltungen (S. 111 VA). Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 24.07.2017 zurück (S. 372 ff. VA). 

Hiergegen erhob der Kläger am 28.07.2017 Klage (S 3 R 2421/17) zum Sozialgericht Heilbronn (SG). Das Gericht befragte die behandelnden Ärzte des Klägers (S. 115 ff. VA) und veranlasste eine Begutachtung durch den S2. Der Sachverständige (S. 150 ff. VA, Untersuchungstag: 29.05.2018) diagnostizierte eine chronisch depressive Verstimmung reaktiver Genese bei belastender sozialer Situation, akzentuierte Persönlichkeitszüge, Spannungskopfschmerzen, eine koronare Drei-Gefäßerkrankung mit Stent-Implantation, ein Bluthochdruckleiden (medikamentös eingestellt), eine Stoffwechselstörung und Beschwerden des Bewegungs- und Haltungsapparats ohne relevantes neurologisches Defizit. Es bestünden in qualitativer Hinsicht aufgrund der koronaren Herzerkrankung folgende Einschränkungen: Zu vermeiden sei eine Tätigkeit bei Kälte, Hitze und mit starken Temperaturschwankungen, der Umgang mit gefährdenden Stoffen, Schichtdienst mit gestörtem Tag-/ Nachtrhythmus ebenso wie Akkordarbeit und Tätigkeiten mit permanentem Zeitdruck. Auch aus den psychischen Leiden ergebe sich eine Einschränkung der qualitativen Leistungsfähigkeit des Klägers. Tätigkeiten mit vermehrten geistigen und psychischen Belastungen seien zu vermeiden, ebenso wie Arbeiten mit vermehrten emotionalen Belastungen und Konfliktpotentialen. Auch eine erhöhte Lärmexposition sei nicht leidensgerecht. Bei Beachtung der benannten Einschränkungen könne der Kläger leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in einem Umfang von mindestens sechs Stunden täglich verrichten.

Das SG wies die Klage mit Gerichtsbescheid vom 30.10.2018 hauptsächlich gestützt auf das Gutachten des Sachverständigen S2 ab.

Am 04.08.2020 stellte der Kläger erneut einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten (S. 549 ff., 589 ff. VA). Mit Bescheid vom 14.08.2020 lehnte die Beklagte den Antrag nach Einholung einer sozialmedizinischen Stellungnahme (S. 242 VA) mit der Begründung ab, der Kläger sei nach den getroffenen Feststellungen - Vorliegen einer Anpassungsstörung - nach wie vor in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (S. 616 f.).

Den dagegen eingelegten Widerspruch (S. 655 f. VA) wies die Beklagte nach Beiziehung der im Vorverfahren vorgelegten ärztlichen Unterlagen und Gutachten sowie von neu vorgelegten Befundberichten der behandelnden Ärzte, namentlich der B2 vom 11.11.2020 (S. 249 VA) und der kardiologischen Gemeinschaftspraxis O1 und Kollegen vom 13.11.2019, 19.08.2020 und 24.11.2020 (S. 251 ff., 256 f. VA) sowie der Hausärztlichen Gemeinschaftspraxis I1 und Kollegen vom 09.11.2020 (S. 248 VA) mit Widerspruchsbescheid vom 25.01.2021 zurück (S. 699 ff. VA). Die zeitliche Leistungsfähigkeit des Klägers für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sei unter Beachtung qualitativer Einschränkungen - Tätigkeiten ohne Schichtdienst mit gestörtem Tag-/Nachtrhythmus, ohne Akkordarbeit und Tätigkeiten mit permanentem Zeitdruck, ohne vermehrte Anforderungen an die Konzentration und Reaktion oder andere vermehrte geistige und psychische Belastungen, ohne vermehrte emotionale Belastung und erhöhtes Konfliktpotenzial, ohne Tätigkeiten in atmosphärischem Unter-/oder Überdruck bzw. im Flugzeug, ohne besondere Belastung durch Hitze, Kälte, Lärm oder starke Temperaturschwankungen sowie ohne Umgang mit gefährdenden Stoffen - noch sechs Stunden und mehr täglich gegeben.

Hiergegen hat der Kläger am 19.02.2021 Klage beim SG erhoben. Zur Begründung hat er u.a. ausgeführt, neben der festgestellten Depression und anhaltenden somatoformen Schmerzstörung liege auch eine generalisierte Angststörung vor. Diese multiplen und psychiatrischen Erkrankungen führten dazu, dass er krankheitsbedingt nicht emotional belastbar sei. Durch die vorhandene Drei-Gefäß-Erkrankung und die Herzrhythmusstörung bestehe latent eine hohe Gefährdung, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. 

Vom 16.02.2021 bis 16.03.2021 hat der Kläger eine stationäre Rehabilitation in der M2Klinik am S3 in N1 (im Folgenden: M2Klinik) absolviert. Im Entlassungsbericht vom 16.03.2021 (S. 40 ff. SG-Akte) wurde eingeschätzt, dass der Kläger als Mitarbeiter im Qualitätsmanagement/Laufkontrolle und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mittelschwere Tätigkeiten, überwiegend im Stehen, überwiegend im Gehen, überwiegend im Sitzen in Tagschicht, Früh-/Spätschicht und Nachtschicht verrichten könne (Diagnosen: Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, anhaltende somatoforme Schmerzstörung, essentielle Hypertonie, atherosklerotische Herzkrankheit [Drei-Gefäß-Erkrankung mit Stentimplantation] und linksventrikuläre Hypertrophie).

Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. Der O1 hat mit Schreiben eingegangen am 05.08.2021 mitgeteilt (S. 71 f. SG-Akte), interventionsbedürftige Koronarstenosen seien im Februar und April 2017 mittels PTCA und Stentimplantation behandelt worden. Seitdem sei der Verlauf stabil, es sei weder eine Progression, noch eine Verbesserung festzustellen. Die Pumpfunktion sei erhalten. Die B2 hat am 05.08.2021 angegeben, sie habe bei dem Kläger die Diagnosen rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode und anhaltende somatoforme Schmerzstörung gestellt (S. 79 f. SG-Akte). Seit Juni 2018 sei in dem Gesundheitszustand des Klägers keine Verbesserung eingetreten. In der Sprechstunde habe er innerhalb der letzten Jahre durchgehend über depressive Stimmung, reduzierten Antrieb, verminderte affektive Schwingungsfähigkeit, Lustlosigkeit, Konzentrationsstörungen, verminderte emotionale und physische Belastbarkeit geklagt. Der L1 hat in seiner Auskunft vom 10.08.2021 ausgeführt (S. 81 ff. SG-Akte), dass er 2016 Epicondylitis radialis humeri, Cervicalneuralgie, Gelenkschmerz: Knöchel und Fuß [Fußwurzel, Mittelfuß, Zehen, Sprunggelenk, sonstige Gelenke des Fußes], Gelenkschmerz: Unterschenkel [Fibula, Tibia, Kniegelenk] und Enthesiopathie, nicht näher bezeichnet, 2017 Radikulopathie im Lumbalbereich, 2018 somatoforme Schmerzstörung, 2020 chronisch-degeneratives Cervicalsyndrom, Verdacht auf chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und 2021 NPP C5/6 diagnostiziert habe. Es sei bei jährlicher Vorstellung keine wesentliche Verschlechterung feststellbar.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage - in erster Linie gestützt auf das im Wege des Urkundsbeweises verwertete Gutachten des S2 - mit Gerichtsbescheid vom 05.11.2021 unter Bezugnahme auf die Ausführungen im Gerichtsbescheid vom 30.10.2018 im Verfahren S 3 R 2421/17 abgewiesen. Als im Vordergrund stehend hat es die Erkrankungen des Klägers auf psychiatrischem Fachgebiet angesehen. Aus den Stellungnahmen der behandelnden Ärzte ergebe sich schlüssig, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers seit der letzten Begutachtung im vorangegangenen Gerichtsverfahren nicht wesentlich verschlechtert habe. Entgegen der Einschätzung des Klägers halte es auch die Aussage von B2 in diesem Punkt für eindeutig. Auch der Entlassungsbericht der M2Klinik bestätige die Einschätzung, dass keine wesentliche Verschlechterung vorliege. Die Diagnose einer Angststörung durch B2 stelle schon deshalb keine wesentliche Änderung dar, weil diese bereits von B1 im ersten Gutachten berücksichtigt worden sei. Zudem komme es im vorliegenden Kontext nicht maßgeblich auf die gestellten Diagnosen als solche, sondern auf die Befundlage und die sich daraus ergebenden Leistungseinschränkungen an. Insoweit seien keine relevanten Änderungen erkennbar. Die Leistungsbeurteilung von S2 sei daher weiterhin aktuell.

Gegen den - seinen Prozessbevollmächtigten am 08.11.2022 zugestellten Gerichtsbescheid - hat der anwaltlich vertretene Kläger am 18.11.2021 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und dargelegt, zusätzlich zu seiner Begründung im Verfahren vor dem SG sei die Diagnose der generalisierten Angststörung hinzugekommen. Zudem verhalte sich der Entlassungsbericht der M2Klinik nicht zu der festgestellten Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung, angesprochen werde lediglich die Möglichkeit einer therapeutischen Aufarbeitung. Der Kläger sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr als drei Stunden arbeitsfähig, ohne seine Gesundheit zu gefährden (S. 34 f. Senatsakte). Inzwischen habe sich der Gesundheitszustand des Klägers weiter verschlechtert (unter Vorlage eines Attestes von B2 vom 03.08.2023).



Der Kläger beantragt,
           
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 05.11.2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 14.08.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.01.2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung ab 01.08.2020 zu gewähren,

hilfsweise bei dem Sachverständigen S4 eine ergänzende Stellungnahme einzuholen zum Beweis der Tatsache, dass der Kläger wegen der auf S. 50 der Senatsakte benannten Krankheitsbilder nicht in der Lage ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Tätigkeit von 3 Stunden oder mehr zu verrichten, ohne seine Gesundheit zu gefährden, insbesondere unter Berücksichtigung der Stellungnahmen des N2 vom 11.11. und 29.11.2022.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf ihren Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren und die Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat der Senat das Gutachten des S4 vom 21.10.2022 eingeholt (S. 89 ff. Senatsakte). Dieser hat nach ambulanter Untersuchung beim Kläger eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelschwere bis schwere Episode auf dem Boden einer Dysthymia im Sinne einer Double Depression, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit regressiven narzisstischen und emotional instabilen Anteilen diagnostiziert. Fachfremd würden die Diagnosen koronare Drei-Gefäß-Erkrankung, extrasystoler Zustand nach PDCA/NSTMIDS, arterielle Hypertonie, Hypercholesterinämie, Epicondylitis radialis humeri, degeneratives Halswirbelsäulen(HWS)-Syndrom und Lendenwirbelsäulen(LWS)-Syndrom sowie Coxarthrose links vorliegen. Der Kläger könne seit Antragsstellung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte, phasenweise mittelschwere Tätigkeiten im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen, im Freien und in geschlossenen Räumen nur unter drei Stunden täglich durchführen. Es bestehe aktuell eine aufgehobene Stress- und Frustrationstoleranz, keine Belastbarkeit, keine Stabilität, keine nötige innere Ruhe und ausreichende emotionale Ausgeglichenheit, um eine berufliche Tätigkeit über drei Stunden täglich durchführen zu können. Der Kläger sei nicht teamfähig. In kürzester Zeit würde es zu erheblichen Konflikten mit möglicher Aggression und sogar Straffälligkeit des Klägers gegenüber Dritten kommen.

In den sozialmedizinischen Stellungnahmen vom 11.11.2022 und 29.11.2022 (S. 145 f. und 153 ff. Senatsakte) hat der Beratungsarzt der Beklagten N2, eingewandt, die Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung und einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung seien bereits in der M2Klinik im Jahr 2021 gestellt worden und stünden - auch nach der Beurteilung der dortigen Reha-Ärzte - einem mehr als sechsstündigen Leistungsvermögen sowohl für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als auch für jedenfalls leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht entgegen. Eine abweichende Leistungsbeurteilung erschließe sich nicht, da wesentliche neue Anknüpfungspunkte nicht vorlägen. Auch die vom Wahlsachverständigen diagnostizierte kombinierte Persönlichkeitsstörung mit verschiedenen Anteilen, die sich typischerweise im Jugendalter herausbilde, habe den Kläger im Übrigen nicht daran gehindert seit 1982 über Jahrzehnte hohe Jahresarbeitsentgelte zu erzielen. Es sei insgesamt weiterhin von einem vollschichtigen Leistungsvermögen auszugehen.

Der Bevollmächtigte des Klägers hat namentlich gefordert, bei dem Sachverständigen S4 eine ergänzende Stellungnahme zu den Ausführungen des N2 einzuholen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch unbegründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Bescheid der Beklagten vom 14.08.2020 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheids vom 25.01.2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er ist weder voll noch teilweise erwerbsgemindert, weswegen ihm die begehrte Rente nicht zusteht.

Rechtsgrundlage für die hier begehrte Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI). Danach haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser (Abs. 1 Satz 1 der Regelung) bzw. voller (Abs. 2 Satz 1 der Regelung) Erwerbsminderung, wenn sie - u.a. - teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind.

Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht über die Regelung des § 43 Abs. 2 SGB VI hinaus nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Großer Senat 10.12.1976, u.a. GS 2/75, zitiert - wie alle nachfolgenden Entscheidungen - nach juris) bei regelmäßig bejahter Verschlossenheit des Arbeitsmarktes auch dann, wenn eine zeitliche Leistungseinschränkung von drei bis unter sechs Stunden vorliegt. Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Der Kläger ist zur Überzeugung des Senats noch in der Lage, jedenfalls leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung mindestens sechs Stunden arbeitstäglich zu verrichten. Nicht mehr zumutbar sind Arbeiten bei Kälte, Hitze und mit starken Temperaturschwankungen. Ebenso soll der Umgang mit gefährdenden Stoffen vermieden werden. Schichtdienst mit gestörtem Tag-/Nachtrhythmus ist ebenfalls zu vermeiden, ebenso wie Akkordarbeit und Tätigkeiten mit permanentem Zeitdruck. Tätigkeiten mit vermehrten emotionalen Belastungen und Konfliktpotentialen kommen ebenfalls nicht mehr in Betracht, z.B. Arbeiten in Teams, mit Publikumsverkehr oder mit erhöhter Anforderung an die Konzentrationsfähigkeit. Auch eine erhöhte Lärmexposition ist nicht leidensgerecht. Zu vermeiden sind auch Überkopfarbeiten und Arbeiten in Zwangshaltungen. Der Senat stützt sich insoweit auf das im Vorprozess erstattete Gutachten von S2, das im Wege des Urkundsbeweises verwertet wird und den - ebenfalls urkundsbeweislich verwertbaren - Entlassungsbericht der Ärzte der M2Klinik.

Bei dem Kläger bestehen Beschwerden auf internistischem Gebiet in Form einer essentiellen Hypertonie (medikamentös behandelt), einer atherosklerotischen Herzkrankheit in Form einer Drei-Gefäß-Erkrankung mit Stent-Implantation und eine linksventrikuläre Hyperthrophie. Diese Gesundheitsstörungen führen zu einem Teil zu den oben genannten qualitativen Einschränkungen, bewirken jedoch keine Einschränkung des Leistungsvermögens in zeitlicher Hinsicht. Der Senat stützt sich insoweit neben dem Gutachten des S2, insbesondere auf die sachverständige Zeugenauskunft von O1 von August 2021, der einen stabilen kardialen Verlauf und eine erhaltene Pumpfunktion nach der Stentimplantation im Februar und April 2017 beschreibt, sowie den Entlassungsbericht der Ärzte der S1 Kliniken vom 19.09.2023 (S. 178 ff. Senatsakte), in dem von einer weiteren Stentimplantation ohne Komplikationen nach V.a. Progress (klinisch kompensiert) bei Drei-Gefäß-Erkrankung berichtet wird. Eine wesentliche Änderung des kardialen Gesundheitszustands des Klägers in funktioneller Hinsicht lässt sich mithin nicht herleiten, sodass es bei der zeitlichen Leistungsbeurteilung des S2 und der Ärzte der M2Klinik verbleibt. 

Zudem leidet der Kläger von psychischer Seite an einer rezidivierenden depressiven Störung in unterschiedlichem Ausmaß und an einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung. Dies entnimmt der Senat insbesondere dem Gutachten des S2, dem Entlassungsbericht der Ärzte der M2Klinik, den in dem Gutachten des Sachverständigen S4 dokumentierten objektiv-klinischen Befunden und der sozialmedizinischen Stellungnahme von N2 (die als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen verwertet wird). Aufgrund der psychischen Erkrankung des Klägers sind wiederholt stationäre Rehabilitationsmaßnahmen erforderlich geworden (2016, 2021), ohne dass sich hieraus eine überdauernde zeitliche Leistungseinschränkung ableiten lässt, worauf N2 zusammenfassend und überzeugend hingewiesen hat.

Bereits in dem Entlassungsbericht der M1Klinik vom 27.06.2016 wurden als Diagnosen eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung mitgeteilt, die Leistungsfähigkeit des Klägers wurde für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gleichwohl als zeitlich nicht eingeschränkt angesehen.

Im Rahmen der Untersuchung am 29.05.2018 hat S2 einen im Wesentlichen unauffälligen psychischen Befund beschrieben („keine Antriebsminderung oder gar psychomotorische Hemmung, im Gegenteil eher lebhaft“, „kognitive bzw. mnestische Defizite relevanten Ausmaßes konnten nicht erhoben werden“, „in der Grundstimmung in der Längsschnittbetrachtung allenfalls subdepressiv“, „keine tiefgehende oder vitale depressive Stimmungslage“, „affektive Resonanzfähigkeit nicht eingeschränkt“, „konnte durchaus spontan und authentisch lächeln und kurzzeitig lachen“, „in der Grundpersönlichkeit narzisstisch und histrionisch veranlagt“), eine chronisch depressive Verstimmung reaktiver Genese bei belastender sozialer Situation sowie akzentuierte Persönlichkeitszüge diagnostiziert und gut nachvollziehbar auch insoweit eine quantitative Leistungseinschränkung verneint und die von ihm angeführten qualitativen Einschränkungen als erforderlich, aber auch hinreichend erachtet.

Die Ärzte der M2Klinik haben in ihrem Entlassungsbericht vom 16.03.2021 sodann keinen wesentlich anderen psycho-pathologischen Befund beschrieben, als zuvor S2 („wach und allseits vollständig orientiert“, „kognitive Störungen bestehen klinisch nicht“, „im formalen Denken geordnet“, „gelegentlich grübelnd“, „inadäquate stark ausgeprägte Zukunftsängste“, „keine inhaltlichen Denkstörungen, keine Halluzinationen oder Ich-Störungen“, „Affekt ist deprimiert und jammerig“, „psychomotorisch unruhig“, „Antrieb leicht vermindert“, „sozialer Rückzug“), diesen in Ermangelung höhergradiger funktioneller Defizite von psychischer Seite diagnostisch als rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, bei anhaltender somatoformer Schmerzstörung eingeordnet und überzeugend - da befundgestützt - eine zeitliche Leistungslimitierung verneint, ebenso wie bereits zuvor S2.

Der von dem Wahlsachverständigen S4 erhobene klinische Befund (wach, bewusstseinsklar und voll orientiert, im Kontakt - freilich nur - anfangs „doch deutlich misstrauisch, abwehrend, zum Teil dann wieder unterwürfig klagsam zugewandt“, Rapport spontan, - nur - phasenweise verzögert und durch Hyperventilation und Weinen erschwert, Konzentration und Merkfähigkeit klinisch nicht wesentlich gestört, Kläger unaufmerksam, ablenkbar und suggestibel, Auffassung durch Misstrauen erschwert - mithin vorhanden -, deutlich ausgeprägte Gestik bei weniger ausgeprägter Mimik, im negativen Rahmen modulierbar, keine schmerzbedingte Psychomotorik, Psychomotorik nicht gehemmt) weichen gerade nicht von den in dem Vorgutachten und Entlassungsberichten erhobenen Befunden wesentlich ab, worauf der Beratungsarzt N2 zu Recht hingewiesen hat. Auch die Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung und einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung sind bereits in der M2Klinik im Jahr 2021 - wie auch schon in der M1Klinik im Jahr 2016 - gestellt worden und haben einem mehr als sechsstündigem Leistungsvermögen für (leichte) Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht entgegengestanden und stehen dem auch weiterhin nicht entgegen, worauf N2 ebenfalls zutreffend hingewiesen hat.

Soweit der Wahlsachverständige S4 bei Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelschwere bis schwere Episode auf dem Boden einer Dysthymia im Sinne einer double Depression, einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit regressiven narzisstischen und emotional instabilen Anteilen von einem aufgehobenen Leistungsvermögen ausgegangen ist, überzeugt dies den Senat nicht.

Unabhängig davon, dass es im Rahmen der Prüfung von Erwerbsminderung schon nicht entscheidend auf eine bestimmte Diagnosestellung, die Art oder Anzahl von Diagnosen oder auf die Bezeichnung von Befunden ankommt, sondern auf die Beeinflussung des individuellen quantitativen sowie qualitativen Leistungsvermögens durch dauerhafte Gesundheitsstörungen (BSG 28.02.2017, B 13 R 37/16 BH, Rn. 15), also auf die durch die Gesundheitsstörungen verursachten funktionellen Beeinträchtigungen, sodass auch die Ursachen der Gesundheitsstörung nicht maßgeblich sind (BSG a.a.O.), steht der vom Wahlsachverständigen dokumentierte psychopathologische Befund, soweit objektiviert, gerade einer Annahme höhergradiger funktioneller Defizite von seelischer Seite entgegen.

Auch die Schlussfolgerungen des Wahlsachverständigen überzeugen nicht, da inkonsistent. So hat der Gutachter namentlich die Antriebsstörung des Klägers als nicht derart ausgeprägt beschrieben, als dass nicht möglicherweise ein Arbeitsversuch getätigt werden könnte, was sich mit der von ihm diagnostizierten mittelschweren bis schweren depressiven Episode kaum in Einklang bringen lässt. Tatsächlich sieht der Wahlsachverständige allerdings auch gar nicht die depressive Erkrankung als führend für die von ihm angenommene Einschränkung der Leistungsfähigkeit, sondern vielmehr eine aufgehobene Stress- und Frustrationstoleranz (S. 134 Senatsakte). Soweit er ein Aggressionspotential und eine Gewaltbereitschaft des Klägers als ausschlaggebend für die „Arbeitsunfähigkeit“ des Klägers ansieht und gar mögliche Straftaten gegen Dritte im Falle einer beruflichen Tätigkeit drohen sieht, bewegt er sich völlig im Bereich der Spekulation. Der Kläger selbst hatte ihm gegenüber angegeben, er habe einem anderen eine tatsächliche Verletzung noch nicht zugefügt; auch sind für den Verlauf der Untersuchung keine Verhaltensweisen beschrieben worden, welche die Interaktion gestört hätten. Im Entlassungsbericht der M2Klinik werden keine aggressiven Verhaltensweisen geschildert, vielmehr konnte sich der Kläger auch auf die Gruppentherapie gut einlassen, nahm regelmäßig und motiviert an der Ergotherapie teil und brachte sich in den Gruppenprozess offen und hilfsbereit ein, wenn auch insgesamt (bei laufendem Rentenverfahren) eine ambivalente Motivation bestand.

Die als Hauptgrund für eine fehlende berufliche Leistungsfähigkeit angenommene aufgehobene Stress- und Frustrationstoleranz begründet der Wahlsachverständige letztlich mit einer Persönlichkeitsstörung. Auch insoweit überzeugt das Gutachten indes nicht, denn einerseits manifestieren sich Persönlichkeitsstörungen typischerweise schon im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter und haben den Kläger überdies auch nicht gehindert, über Jahrzehnte erfolgreich seiner Beschäftigung nachzugehen, was N2 zutreffend darlegt hat. Unabhängig davon lassen sich aus dem im Gutachten dokumentierten klinischen Befund noch nicht einmal Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung entnehmen, wenn hier lediglich ausgeführt wird: „Die Persönlichkeit des Klägers wirkte einerseits regressiv verändert zum anderen zeigte sich die Persönlichkeit des Klägers auf deutlich narzisstisch und emotional instabil geprägt, bis hin zum Ausmaß einer Persönlichkeitsstörung.“ Auch insoweit bezieht sich der Senat auf die sozialmedizinischen Stellungnahmen des N2. Zudem hat der Wahlsachverständige S4 ohnehin auch Konzentrationsstörungen im Rahmen seiner Leistungseinschätzung zugrunde gelegt, die in einem relevanten Ausmaß überhaupt nicht vorliegen, nachdem auch der Wahlsachverständige bei seiner Untersuchung Entsprechendes gerade nicht hat objektiv-klinisch belegen können.

Dem Gutachten des Wahlsachverständigen S4 fehlt darüber hinaus auch eine mehr als nur rudimentäre Konsistenzprüfung der klägerischen Beschwerdeangaben, die insbesondere aufgrund der unübersehbaren Diskrepanzen zwischen der Selbsteinschätzung und dem klinischen Bild aber auch angesichts früherer Einlassungen des Klägers in Untersuchungssituationen erforderlich gewesen wäre, da sich insbesondere nach mehreren Begutachtungen und entsprechender Würdigung (hier durch die Gerichtsbescheide des SG) ein entsprechender „Lerneffekt“ bei begehrensorientierter Interessenlage aufdrängt. Der Wahlsachverständige S4 hat selbst erkannt, dass die Verlaufsschilderung des Klägers auf Grundlage der dokumentierten klinischen Befunde nicht nachvollziehbar und sein Beschwerdevorbringen in wesentlichen Punkten nur äußerst defizitär geblieben ist. Dies hat auch der Wahlsachverständige ausdrücklich eingeräumt, aber gemeint, dies sei kein Ausdruck von Simulation, sondern „kontextual“ rational erklärbar, wobei er (nur pauschal) „kulturelle Besonderheiten“ erwähnt und (ebenfalls nur pauschal) eine störungsbedingte erhebliche negative Selbstwahrnehmung des Klägers gepaart mit einem erheblichen Selbstmitleid behauptet hat. Unabhängig davon, dass sich ein defizitärer und mit dem klinischen Befund nicht übereinstimmender Beschwerdevortrag nicht dadurch wegdiskutieren lässt, dass Gründe angeführt werden, warum das Vorbringen (möglicherweise) defizitär ist, spricht auch schon die Einlassung des Klägers, dass er täglich in den Schrebergarten geht und dort „gelegentlich Besuch von Bekannten bekommt und mit diesen ein Bier trinkt“, entgegen dem Beschwerdevortrag insbesondere für eine erhaltenes Sozialleben, was der Wahlverständige indes wiederum nicht gewürdigt bzw. in Ansehung des Beschwerdevorbringens auch nur kritisch hinterfragt hat.

Auch ansonsten hat der Wahlsachverständige keinerlei Konsistenzprüfung der Beschwerdeangaben vorgenommen, ebenso wenig eine Beschwerdevalidierung, was der N2 in seinen sozialmedizinischen Stellungnahmen vom 11.11.2022 und 29.11.2022 ebenfalls zutreffend kritisiert hat. Gegen die Validität der Leistungseinschätzung des Wahlsachverständigen insgesamt spricht auch die Annahme eines aufgehobenen Leistungsvermögens bereits seit Antragstellung, was angesichts des Entlassungsberichts der Ärzte der M2Klinik von 2021 mit dem dort geschilderten nur leichtgradig gestörten psychischen Befund nicht nachvollzogen werden kann sowie die weitgehend unveränderte Medikation seit Beginn der Behandlung. Nach alledem stellt sich der Gesundheitszustand des Klägers seit 2018 im Wesentlichen unverändert dar, so dass die Beurteilung durch S2 nach wie vor Bestand hat.

Soweit die behandelnde B2 von einem aufgehobenen beruflichen Leistungsvermögen des Klägers ausgeht, überzeugt dies den Senat nicht. Sie hat keine Befunde oder Funktionseinschränkungen mitgeteilt, die eine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens begründen könnten. Eine allein auf die subjektiven Angaben des eigenen Patienten gestützte Leistungseinschätzung kann den Senat nicht überzeugen. Eine wesentliche Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustands des Klägers lässt sich mithin auch nicht aufgrund der Äußerungen der B2 objektivieren.

Sonstige (somatische) Gesundheitsstörungen, insbesondere von orthopädischer Seite, die Auswirkungen auf das zeitliche Leistungsvermögen des Klägers für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts haben könnten, liegen nicht vor. Dies stützt der Senat auf die sachverständige Zeugenauskunft (gegenüber dem SG im Vorprozess) von L1 von Oktober 2017, in welcher er das quantitative Leistungsvermögen des Klägers als nicht beeinträchtigt ansah und auf seine im hiesigen Rechtsstreit (gegenüber dem SG) erstattete Auskunft von August 2021, in der er von einer (bloß) jährlichen Vorstellung des Klägers berichtet und mitgeteilt hat, dass es von Seiten seines Fachgebiets beim Kläger zu keiner wesentlichen Verschlechterung gekommen ist. Außer den jährlichen Kontrolluntersuchungen befindet sich der Kläger auch nicht in fachorthopädischer Behandlung.

Unter Zugrundelegung all dessen hat der Senat keine ernsthaften Zweifel, dass der Kläger noch in der Lage ist, jedenfalls leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung der oben festgestellten qualitativen Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten, sodass er weder voll noch teilweise erwerbsgemindert ist (§ 43 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB VI). Dabei ist es unerheblich, ob ein dem Leistungsvermögen entsprechender Arbeitsplatz vermittelt werden kann, weil nach § 43 Abs. 3 Halbsatz 2 SGB VI die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.

Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist vorliegend nicht erforderlich (vgl. BSG 14.09.1995, 5 RJ 50/94, auch zum Nachfolgenden). Denn nach der Rechtsprechung des BSG steht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine so große Anzahl von Tätigkeitsarten zur Verfügung, dass das Vorhandensein einer geeigneten Verweisungstätigkeit offensichtlich ist. Nur ausnahmsweise ist für einen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbaren Versicherten wie dem Kläger mit zumindest sechsstündigem Leistungsvermögen für leichte Arbeiten die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderlich, wenn die Erwerbsfähigkeit durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert ist. In der Rechtsprechung des BSG sind bestimmte Fälle anerkannt (z.B. Einarmigkeit, vgl. BSG a.a.O., m.w.N.), zu denen der vorliegende Fall aber nicht gehört. Vielmehr braucht eine Verweisungstätigkeit erst benannt zu werden, wenn die gesundheitliche Fähigkeit zur Verrichtung selbst leichter Tätigkeiten in vielfältiger, außergewöhnlicher Weise eingeschränkt ist. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn ein Versicherter noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten ohne Heben und Tragen von Gegenständen über 5 kg, ohne überwiegendes Stehen und Gehen oder ständiges Sitzen, nicht in Nässe, Kälte oder Zugluft, ohne häufiges Bücken, ohne Zwangshaltungen, ohne besondere Anforderungen an die Fingerfertigkeit und nicht unter besonderen Unfallgefahren zu verrichten vermag (BSG a.a.O.; BSG 27.04.1982, 1 RJ 132/80). Denn ein Teil dieser Einschränkungen stimmt bereits mit den Tätigkeitsmerkmalen einer körperlich leichten Arbeit überein. Diese zur früheren Rechtslage entwickelten Grundsätze sind auch für Ansprüche auf Renten wegen Erwerbsminderung nach dem ab dem 01.01.2001 geltenden Recht weiter anzuwenden (vgl. zuletzt BSG 11.12.2019, B 13 R 7/18 R). Nicht anders liegt der Fall des Klägers. Auch bei ihm wird den qualitativen Einschränkungen (s.o.) im Wesentlichen bereits dadurch Rechnung getragen, dass ihm nur noch leichte Arbeiten zugemutet werden.

Unerheblich ist, dass bei dem Kläger die Schwerbehinderteneigenschaft anerkannt ist. Denn der Schwerbehinderteneigenschaft eines Versicherten kommt hinsichtlich seiner zumutbaren beruflichen Einsetzbarkeit keinerlei Aussagekraft zu (BSG 19.09.2015, B 13 R 290/15 B). Ebenso unmaßgeblich für den erhobenen Anspruch ist, ob der Kläger weiterhin wegen Krankheit oder Behinderung behandlungsbedürftig oder arbeitsunfähig ist (vgl. nur BSG 31.10.2012, B 13 R 107/12 B).

Abschließend stellt der Senat noch fest, dass bei dem Kläger auch keine schwere spezifische Leistungsbehinderung in Gestalt einer Einschränkung seiner Wegefähigkeit (vgl. dazu nur BSG 12.12.2011, B 13 R 79/11 R, Rn. 20 m.w.N.) vorliegt. S2 und auch der Wahlsachverständige S4 haben die Wegefähigkeit ausdrücklich bestätigt.

Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats vom 02.07.2012 (L 10 R 4698/11), ist es ureigene Aufgabe des Senats, die Überzeugungskraft vorliegender Gutachten und (beratungs-) ärztlicher Stellungnahmen zu prüfen, denn nur überzeugende ärztliche Äußerungen vermögen die richterliche Beurteilung zu beeinflussen. Dass und aus welchen Gründen das Gutachten des Wahlsachverständigen nicht überzeugend ist, ist oben im Einzelnen dargelegt worden. Ebenfalls zum richterlichen Aufgabenbereich gehört die Bewertung mehrerer Gutachten, auch und gerade wenn sie sich in der Beurteilung der streitentscheidenden Frage des Vorliegens einer Erwerbsminderung widersprechen. Eine solche Beweiswürdigung ist Kernbereich der Tatsacheninstanz. Eine vorherige Befassung jedes Gutachters mit widersprechenden nachfolgenden gutachterlichen oder sozialmedizinischen Beurteilungen ist hierfür nicht erforderlich (vgl. BSG 01.04.2014, B 9 V 54/13 B; 26.06.2001, B 2 U 83/01 B; vgl. auch Senatsurteil vom 25.05.2023, L 10 R 2805/19, n.V.). Der Senat hat daher auch keinen Anlass gesehen, auf Antrag des Klägers eine ergänzende Stellungnahme des Wahlsachverständigen einzuholen und lehnt diesen Antrag ab. Allein der Umstand, dass vorliegend hinsichtlich der Beurteilung des Leistungsvermögens sich widersprechende Gutachten vorliegen, zwingt nicht zur Einholung eines weiteren Gutachtens. Einem Wahlsachverständigen muss nicht generell das „letzte Wort“ verbleiben und ein besonderer Grund, der eine ergänzende gutachtliche Stellungnahme eines Sachverständigen im Einzelfall erforderlich machen kann, liegt namentlich nicht vor, wenn ein Gutachten Mängel in der (wissenschaftlichen) Begründung enthält (vgl. dazu statt vieler nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 109 Rn. 10b m.w.N. unter Hinweis auf die Rspr. des BSG). So verhält es sich aber vorliegend, demnach hat weder nach § 109 Abs. 1 SGG noch von Amts wegen eine Veranlassung bestanden, den Wahlsachverständigen zu den beratungsärztlichen Stellungnahmen des N2 vom 11.11.2022 und 29.11.2022, in der der Beratungsarzt auf diese Mängel hingewiesen hat, ergänzend zu hören (vgl. Senatsentscheidung vom 27.06.2023, L 10 U 961/21, n.v.). Erst recht bedurfte es nicht der persönlichen Anhörung des Beratungsarztes N2. Wie schon oben dargelegt, handelt es sich bei dessen sozialmedizinischen Stellungnahmen um qualifiziertes Beteiligtenvorbringen. Dass N2 den Kläger nicht untersucht hat, ist klar, liegt in der Natur der Sache und ändert nichts an seinen zutreffenden sachlich-inhaltlichen Einwänden gegen die Leistungseinschätzung des Wahlsachverständigen. Wie ebenfalls schon dargelegt, muss einem Wahlsachverständigen nicht das „letzte Wort“ verbleiben und die Ausführungen des N2 ändern ohnehin auch nichts an dem vom Wahlsachverständigen dokumentierten klinischen Befund, der für die sozialmedizinische Beurteilung maßgeblich ist und der eine zeitliche Leistungslimitierung gerade nicht trägt (s.o.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
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