L 2 AS 1811/23 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 5 AS 2308/22
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 AS 1811/23 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 06.12.2023 aufgehoben.

 

 

Gründe:

 

I.

 

Die Klägerin wendet sich gegen einen Beschluss, mit dem das Sozialgericht den Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgelehnt hat.

 

Mit Bescheid vom 23.05.2022 bewilligte der Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 01.06.2022 bis zum 30.11.2022 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 23.06.2022 Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, dass der Bescheid insoweit rechts- und verfassungswidrig sei als die Regelbedarfe für das Jahr 2022 das grundrechtliche Existenzminimum unterschritten. Die Fortschreibung der Regelbedarfe für das Jahr 2022 mit einer Veränderungsrate von 0,76 % sei offensichtlich zu niedrig. Mit Widerspruchsbescheid vom 29.07.2022 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

 

Die Klägerin hat am 23.08.2022 Klage vor dem Sozialgericht Dortmund erhoben und beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 23.05.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.07.2022 insoweit aufzuheben und abzuändern, als der Klägerin Regelleistungen nicht in verfassungskonformer Weise mit einem Mischindex in Höhe von 4 % zum 01.01.2022 fortgeschrieben worden sind. Zur Begründung hat sie ergänzend ausgeführt, dass der Gesetzgeber die ab Sommer 2022 einsetzende Inflation nicht ausreichend berücksichtigt habe. Der niedrigen Regelbedarfsanpassung von 0,76 % stehe eine Inflationsrate von 3,1 % im Jahresdurchschnitt gegenüber. Es ergebe sich eine erhebliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung. Um die Grenzen des eng gefassten verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums nicht zu unterschreiten, müsse die Diskrepanz durch eine realitätsgerechte Fortschreibung des Regelbedarfs geschlossen werden. Ergänzend hat die Klägerin auf die Studie „Ermittlung eines angemessenen Inflationsausgleichs 2021 und 2022 für Grundsicherungsbeziehende, Expertise im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes, von U. vom 25.11.2022 (aktualisiert am 22.03.2023) verwiesen und vorgetragen, dass diese Studie ein monatliches Bruttodefizit in der Deckung des soziokulturellen Existenzminimums in Höhe von 47,89 Euro festgestellt habe. Auch unter Berücksichtigung der im Sommer 2022 erfolgten Einmalzahlung von 200,00 Euro gemäß § 73 SGB II verbleibe es bei einer erheblichen Leistungslücke.

 

Mit Gerichtsbescheid gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vom 02.11.2023 hat das Sozialgericht die Klage (nach Anhörung der Beteiligten mit Verfügung vom 19.10.2023) abgewiesen. Die Klägerin sei durch die angefochtenen Bescheide nicht beschwert, da sie keinen Anspruch auf die begehrten höheren Regelsatzleistungen habe. Die allein streitige Bemessung der Regelsätze für 2022 entspreche den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Dem Gesetzgeber stehe bei der Ausgestaltung der Leistungen ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Die verfassungsrechtliche Kontrolle bei der Prüfung der Höhe des Regelsatzes beschränke sich darauf, ob die Leistungen evident unzureichend seien. Dies sei für 2022 nicht der Fall. Jedenfalls unter Berücksichtigung des von der Bundesregierung auf den Weg gebrachten Entlastungspakets 2022 mit der damit erfolgten Einmalzahlung in Höhe von 200,00 Euro seien die festgesetzten Regelleistungen nicht evident unzureichend und anhand des gewählten Berechnungsverfahrens rechtlich nicht zu beanstanden. Der Gerichtsbescheid enthält die Rechtsmittelbelehrung, dass dieser mit der Berufung angefochten werden kann.

 

Die Klägerin hat gegen den ihr am 16.11.2023 zugestellten Gerichtsbescheid am 20.11.2023 einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gestellt. Auf den Hinweis des Sozialgerichts vom 23.11.2023, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht möglich sei, da das erstinstanzliche Verfahren durch berufungsfähigen Gerichtsbescheid erledigt worden sei, hat die Klägerin erwidert, dass der Rechtsstreit durch Erlass des Gerichtsbescheids nicht beendet sei. Entgegen der Rechtsmittelbelehrung habe die Beschwer 750,00 Euro nicht erreicht.

 

Mit Beschluss vom 06.12.2023 hat das Sozialgericht den Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgelehnt. Der Antrag sei unstatthaft, denn der Gerichtsbescheid könne mit der Berufung angefochten werden. Der Antrag sei unbeziffert gewesen und bei einer Schätzung nach § 202 SGG i.V.m. § 3 Zivilprozessordnung (ZPO) sei nach dem Meistbegünstigungsprinzip davon auszugehen, dass sämtliche nach Lage des Falles ernsthaft in Betracht kommenden Leistungen geltend gemacht würden. Sei der Beschwerdewert nicht zu klären, gehe dies zu Lasten des Berufungsführers. Lasse sich nicht eindeutig feststellen, dass die Voraussetzungen für eine Beschränkung der Berufung erfüllt seien, müsse im Ergebnis die Grundregel des § 143 SGG greifen.

 

Gegen den am 13.12.2023 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am 15.12.2023 Beschwerde eingelegt. Die Ausführungen des Sozialgerichts zur Bemessung eines Streitwerts von über 750,00 Euro überzeugten nicht.

 

II.

 

Die Beschwerde ist zulässig, und zwar unabhängig von der umstrittenen Frage, ob das Sozialgericht über den Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Beschluss oder durch Urteil entscheiden muss (vgl. zum Meinungsstand: Burkiczak, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 105 SGG -Stand: 25.03.2024-, Rn. 140; sowie Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen -LSG NRW-, Urteil vom 09.09.2021 – L 6 AS 1136/21, Rn. 48, juris). Einem Beteiligten darf nämlich kein Nachteil entstehen, wenn er das Rechtsmittel wählt, auf das ihn das Sozialgericht verwiesen hat. In einem solchen Fall ist nach dem Grundsatz der sog. Meistbegünstigung sowohl das Rechtsmittel zulässig, das gegen die gewählte Entscheidungsform zulässig wäre, als auch das Rechtsmittel, das gegen die richtige Entscheidungsform zulässig gewesen wäre (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, 14. Aufl. 2023, vor § 143, Rn. 14 m.w.N.; Hessisches LSG, Urteil vom 26.06.2020 – L 7 AS 479/19 B, Rn. 17, juris; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 11.11.2021 – L 5 AS 206/21 B, Rn. 20, juris).

 

Über die Beschwerde hat der Senat gemäß § 176 SGG durch Beschluss zu entscheiden. Es handelt sich um die prozessual vorgeschriebene Vorgehensweise, wenn das Sozialgericht durch rechtsmittelfähigen Beschluss entschieden hat (so auch LSG NRW, Beschluss vom 16.03.2020 – L 7 AS 135/20 B, Rn. 4, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.05.2016 – L 9 AS 1782/14 B, Rn. 4, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 08.10.2020 – L 19 AS 659/20 B, Rn. 6, juris; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 11.11.2021, a.a.O., Rn. 22, juris). Nicht überzeugend ist demgegenüber die Auffassung, der Senat habe durch Berufungsurteil zu entscheiden, so als hätte das Sozialgericht durch Urteil entschieden (vgl. Keller, a.a.O., vor § 143, Rn. 14a; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.02.2017 – L 13 AS 3192/16 B, Rn. 25, juris; Hessisches LSG, Urteil vom 26.06.2020 – a.a.O., Rn. 19, juris; LSG NRW, Urteil vom 09.09.2021, a.a.O., Rn. 49, juris). Denn die Berufung findet gemäß § 143 SGG nur statt gegen Urteile der Sozialgerichte. Zudem überzeugt die Notwendigkeit einer Entscheidung durch Urteil nicht, weil die hiesige Entscheidung lediglich einen Zwischenstreit im noch vor dem Sozialgericht anhängigen Rechtsstreit darstellt, welches zunächst noch ordnungsgemäß zum Abschluss gebracht werden muss.

 

Die auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerechte Beschwerde der Klägerin ist begründet, denn ihr Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung ist statthaft.

 

Gemäß § 105 Abs. 2 Satz 2 SGG kann mündliche Verhandlung beantragt werden, wenn die Berufung nicht gegeben ist. Bei einer Klage, die – wie vorliegend – eine Geld- , Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, bedarf die Berufung gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 Euro nicht übersteigt. Von einem Gegenstandswert von unter 750,00 Euro ist hier auszugehen. Die Klägerin hat zwar erst im Rahmen der Beschwerdebegründung mitgeteilt, dass der Streitwert vorliegend 89,04 Euro betrage, da im streitgegenständlichen Zeitraum von sechs Monaten eine monatliche Regelsatzerhöhung von 17,84 Euro (Fortschreibung der Regelsätze anhand eines Mischindexes von 4 %: 4/100 x 446,00 Euro = 17,84 Euro) geltend gemacht werde. Allerdings hatte die Klägerin die Fortschreibung der Regelsätze anhand eines Mischindexes in Höhe von 4 % bereits in ihrem Klageantrag begehrt. So hat sie ausdrücklich die Aufhebung und Abänderung der angefochtenen Bescheide (im Zeitraum vom 01.06.2022 bis zum 30.11.2022) insoweit begehrt, als die Regelleistungen nicht in verfassungskonformer Weise mit einem Mischindex in Höhe von 4 % zum 01.01.2022 fortgeschrieben worden seien. Damit hat die Klägerin, wenn keinen bezifferten, jedenfalls einen bezifferbaren Klageantrag gestellt. Eine Berechnung der begehrten Regelsatzerhöhung war dem Sozialgericht aufgrund der Mitteilung, dass der Mischindex bei 4 % liegen müsse, ohne nennenswerten Aufwand möglich. Selbst unter Berücksichtigung der Ausführungen der Klägerin im weiteren Schriftsatz vom 26.10.2023 unter Hinweis auf die Studie von U. hätte das Sozialgericht nur von einer monatlichen Erhöhung um 47,90 Euro, mithin von einem Streitwert von 287,40 Euro für sechs Monate, ausgehen können. Bei Zweifeln hätte sich dem Sozialgericht anstelle einer eigenen Streitwertbemessung – denn nur der Kläger und nicht der Richter verfügt über den Streitgegenstand (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.05.2016, a.a.O., Rn. 6. juris) – eine Klärung und ein Hinweis nach § 106 Abs. 1 SGG aufdrängen müssen, nicht zuletzt, um dem Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG) ausreichend Rechnung tragen zu können (vgl. Föllmer, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 92 SGG -Stand: 18.03.2024-, Rn. 35). Zu Unrecht ist das Sozialgericht in seinem Beschluss davon ausgegangen, dass der in der Klageschrift gestellte Klageantrag unbeziffert und nicht bezifferbar gewesen sei. Für die Annahme, dass wenn der Beschwerdewert nicht zu klären sei, dies nach allgemeinen Beweislastregeln zu Lasten des Berufungsführers gehe und im Ergebnis die Grundregel des § 143 SGG greife, fehlte es bei dem hier zum Ausdruck gebrachten Klagebegehren an jeglicher Grundlage.

 

Auf die Beschwerde der Klägerin ist der angefochtene Beschluss aufzuheben. Das Sozialgericht ist verpflichtet, die beantragte mündliche Verhandlung durchzuführen. Der Gerichtsbescheid gilt als nicht ergangen (§ 105 Abs. 3 SGG).

 

Eine Kostenentscheidung hat nicht zu ergehen, da es sich nur um einen Zwischenstreit im noch anhängigen Rechtsstreit handelt (vgl. LSG NRW, Beschluss vom 16.04.2018 – L 7 AS 1476/17 B, Rn. 12, juris; LSG NRW, Beschluss vom 16.03.2020, a.a.O., Rn. 8, juris).

 

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

 

 

Rechtskraft
Aus
Saved