L 13 SB 60/23

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG Osnabrück (NSB)
Aktenzeichen
S 9 SB 399/20
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 13 SB 60/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung bei insulinpflichtigen minderjährigen Diabetikern mit der Folge der Bemessung des Einzel-GdB mit 50 folgt nicht bereits aus allgemeinen, allein im Lebensalter begründeten psychisch-sozialen Erwägungen (hier: Zum Zeitpunkt der Diagnose 9-jährige, zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung 13jährige Klägerin). Eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung liegt vielmehr erst dann vor, wenn damit verbundene Befürchtungen, etwa in Bezug auf Verhaltensauffälligkeiten, sich im Einzelfall realisieren. Entsprechend gravierende Beeinträchtigungen in der Lebensführung liegen in diesem Sinne nicht bei einem Jugendlichen vor, der in der Schule beliebt ist, gute schulische Leistungen erzielt und sich in psychischer Hinsicht altersentsprechend unauffällig verhält (Anschluss an LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Oktober 2022 L 11 SB 65/18 juris Rn. 12 unter Hinweis auf die Vorinstanz SG Berlin, Urteil vom 21. Februar 2018 S 178 SB 1106/16) und folgen auch nicht allein aus dem krankheitsbedingt gesteigerten Hilfebedarf eines 9- bis 13jährigen Kindes. Das Maß der aus einer Behinderung resultierenden Teilhabebeeinträchtigung ist grundsätzlich altersunabhängig zu bestimmen (Anschluss an LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. September 2014 L 8 SB 5215/13 juris Rn. 31). Die Werte der VMG stellen altersunabhängige Mittelwerte dar.

Das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 27. April 2023 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Osnabrück, mit welchem er verurteilt worden ist, den Grad der Behinderung (GdB) der Klägerin ab dem 23. April 2020 mit 50 festzustellen.

Aufgrund einer Erkrankung an Diabetes Typ I beantragte die 2010 geborene Klägerin mit Datum vom 16. April 2020, vertreten durch ihre Eltern, die Feststellung eines GdB sowie der Merkzeichen H und B. Zuvor war die Klägerin vom 1. bis 13. März 2020 in stationärer Behandlung gewesen, die Aufnahme war bei stark reduziertem Allgemeinzustand im Rahmen der Erstmanifestation des Diabetes erfolgt. Seitens der Pflegekasse wurde die Klägerin in den Pflegegrad 2 eingestuft. Der Beklagte stellte gemäß Bescheid vom 9. Juni 2020 den GdB der Klägerin mit 40 sowie das Merkzeichen H ab Antragstellung fest. Das nachfolgende Widerspruchsverfahren blieb gemäß Widerspruchsbescheid vom 10. September 2020 erfolglos. Der befragte Ärztliche Dienst führte aus, bei der Klägerin bestehe ein Diabetes Typ I unter intensivierter Insulintherapie bei Therapieaufwand mit mehrfach täglichen Messungen, selbständiger Insulinanpassung nach Mahlzeit und körperlicher Belastung sowie Insulingaben über eine Insulinpumpe. Hiernach sei die Erkrankung mit einem GdB von 40 und Feststellung des Merkzeichens H bis zum abgeschlossenen 16. Lebensjahr angemessen bewertet. Ein GdB von 50 würde hingegen starke Stoffwechselschwankungen oder Hypoglykämien mit Fremdhilfebedarf erfordern, dies sei jedoch nicht der Fall. Nach der vorliegenden Blutzuckerdokumentation sei die Stoffwechsellage ausreichend stabil, schwere Hypoglykämien mit Fremdhilfebedarf seien nicht belegt. Auch bestünden keine Einschränkungen hinsichtlich der Mobilität und der Orientierung, so dass auch das Merkzeichen B nicht festzustellen sei.

Die Klägerin hat am 3. Oktober 2020 Klage erhoben. Im Zusammenhang mit der Klagebegründung haben ihre Prozessbevollmächtigten ausgeführt, sie sei seit August 2020 mit einer Insulinpumpe versorgt. Zudem habe sie den Pflegegrad 2 und einen Integrationshelfer. Die Klägerin sei durchaus durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 SB 2/13 R) sei eine Gesamtbetrachtung aller Lebensbereiche anzustellen und es seien alle therapie- und erkrankungsbedingt herbeigeführten erheblichen Einschnitte in der Lebensführung zu beachten. Dies erfordere je nach persönlichen Fähigkeiten und Umständen des Erkrankten eine individuelle Betrachtungsweise (mit Verweis auf BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 SB 3/12 R). Die Klägerin bedürfe schon wegen ihres Alters ständig fremder Hilfeleistungen.

Zudem ist der Klagebegründung neben anderen Unterlagen eine Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin J. vom Sozialpädiatrischen Zentrum K. (SPZ) vom 17. August 2020 beigefügt. Sie hat die Bewertung mit einem GdB von 50 befürwortet und die erheblichen Teilhabebeeinträchtigungen der zu jener Zeit zwei Wochen vor ihrem 10. Geburtstag stehenden Klägerin durch die Therapiemaßnahmen dargestellt. Außerdem beigefügt ist ein Bericht der Familie der Klägerin, bestehend neben ihr selbst aus ihren Eltern und ihrer drei Jahre älteren Schwester, über Einzelheiten der Lebensumstände. Die Klägerin tue sich schwer mit der Berechnung der Mahlzeiten, fühle sich stark eingeschränkt, habe manchmal gar nichts mehr essen wollen, aber die Insulinpumpe letztlich gut angenommen. Nun sei sie jedoch der Meinung, dass sie sich um gar nichts mehr selbst kümmern müsse. Ohne elterliche Hilfe würde sie die Messungen nicht hinbekommen. Zur Bewältigung des Schulalltags habe sie eine Integrationshelferin bekommen, die dort einen stabilen Blutzucker gewährleistet habe. Es sei in der Schule auch schon zu Hypoglykämien gekommen. Im Übrigen sei die Klägerin sehr kontaktfreudig, habe viele Freunde und sei eine sportlich ambitionierte Reiterin mit täglichem Training. Im Spiel mit den Freundinnen vergesse sie auch leicht die Erfordernisse des Diabetes. Durch die Corona-Pandemie seien die Aktivitäten natürlich in der ersten Zeit der Erkrankung ohnehin nicht wie gewohnt möglich gewesen. Ergänzend sind Blutzuckertagebücher überreicht worden.

Der Ärztliche Dienst des Beklagten hat dazu ausgeführt, durch die vorgelegten Unterlagen ließen sich erhebliche Einschnitte in der Lebensführung nicht belegen.

Das SG Osnabrück hat ärztliche Befundberichte eingeholt. Die Ärztin J. vom SPZ hat unter dem 4. Juni 2022 über Blutzuckerschwankungen, teilweise begleitet von Konzentrationsschwäche, berichtet. Die Therapie müsse eigenverantwortlich geplant werden. Insoweit sei die Klägerin selbständiger geworden, eine Unterstützung durch Betreuungspersonen sei jedoch weiterhin erforderlich. Dem Kinderarzt Dr. L. hatte sie unter dem 7. Juni 2021 zudem berichtet, Hypoglykämien mit Bedarf von Fremdhilfe oder Koma/Krampfanfall seien nicht aufgetreten; solche Vorfälle ergeben sich auch aus ihrem Befundbericht an das SG Osnabrück nicht.

Vom 27. April bis 4. Mai 2022 hat sich die Klägerin in stationärer Behandlung in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Klinikums M. befunden. Von dort ist berichtet worden, unter der Pumpentherapie komme es seit ca. einem halben Jahr zu schwankenden Hypoglykämie-Werten. Die Aufnahme sei stationär zur Gruppenschulung erfolgt. Die Klägerin habe ihre Kenntnisse vertiefen und mehr Selbstverantwortung für die Therapie erlangen können. Im Rahmen von Ausflügen während des stationären Aufenthalts, etwa von Besuchen im Supermarkt und im Zoo, sei die Anpassung der Therapie bei Aktivität besonders erprobt worden. Die Klägerin habe ihre Selbstkompetenz gut verbessern können.

Der Ärztliche Dienst – Prof. Dr. N. vom 18. Juli 2022 – hat seine Einschätzung in der Folgezeit beibehalten. Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin haben demgegenüber auf weiterhin fortbestehenden Überwachungs- und Betreuungsbedarf der Klägerin abgestellt. So seien auch Besuche von Freunden oder die Teilnahme am Kindergeburtstag von Freunden nur in Begleitung eines Elternteils möglich, dasselbe gelte für den regelmäßigen Sport, da dauernd Hypoglykämien drohten. Die Besonderheiten des Kindesalters seien auch im Rahmen der Bemessung des GdB zu berücksichtigen. Ergänzend sind weitere Blutzuckertagebücher vorgelegt worden, zu denen der Ärztliche Dienst des Beklagten jeweils erneut Stellung genommen und ausgeführt hat, die Schwerbehinderteneigenschaft sei weiterhin nicht begründbar. Gefährliche Hypoglykämien seien nie aufgetreten.

Die in der mündlichen Verhandlung vor dem SG Osnabrück angehörte Mutter der Klägerin hat laut Wiedergabe im Urteil ausgeführt, die Dosisanpassung könne die Klägerin nicht allein leisten. Insbesondere bei sportlichen Aktivitäten müssten die Blutzuckerwerte genau stimmen. Schwimmen und Reiten wären sonst zu gefährlich. Dies müsse durch eine anwesende Bezugsperson überwacht werden. Die Schulbegleitung sei nunmehr für den Besuch der weiterführenden Schule nicht mehr genehmigt worden. Dort müsse die Klägerin selbst die Blutzuckerwerte ablesen und hierauf reagieren und sich gegebenenfalls an Lehrkräfte wenden, was sie aber nicht zuverlässig mache. Daher komme es zu Konzentrationsschwierigkeiten und auffälligem Verhalten. Der selbständige Umgang der Klägerin mit der Insulinpumpe gelinge noch nicht zuverlässig. Dementsprechend müsse die Klägerin an sich auch in der Freizeit ständig begleitet werden.

Mit Urteil vom 27. April 2023 hat das SG Osnabrück den Beklagten verpflichtet, den GdB der Klägerin mit 50 ab dem 23. April 2020 festzustellen. Erforderlich sei nach Teil B Nr. 15.1 VMG eine am Einzelfall orientierte Beurteilung, wobei sich eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung nur unter strengen Voraussetzungen bejahen lasse. Allerdings sei die Kammer auf der Grundlage der vorliegenden medizinischen Unterlagen und den Angaben der Mutter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass über den eigentlichen Therapieaufwand hinausgehende erhebliche Einschnitte bestünden und hierdurch die Lebensführung gravierend beeinträchtigt werde. Zu berücksichtigen sei hierbei, dass die Klägerin bei der Durchführung der Therapie in erheblichem Umfang auf Hilfe angewiesen sei. Dies gelte insbesondere auch für Schulbesuch und Freizeitgestaltung und hindere sie an selbständig wahrgenommenen Freizeitaktivitäten. Zwar treffe es zu, dass mangels besonderer Regelungen die in Teil B Nr. 15.1 VMG niedergelegten Grundsätze gleichermaßen für Kinder und Jugendliche wie für Erwachsene gelten. Allerdings sei zu beachten, dass Erwachsene typischerweise in der Lage seien, Therapiemaßnahmen allein zu bewältigen. Ein Fremdhilfebedarf gehe daher über den dort erfassten typischen Therapieaufwand hinaus, auch wenn er nicht zur Abwendung akut gefährlicher Situationen erforderlich sei. Dies sei auch nicht durch das Merkzeichen H abgedeckt, denn die Merkzeichen dienten der Inanspruchnahme besonderer Nachteilsausgleiche und würden neben dem GdB festgestellt. Auch nach der Rechtsprechung des BSG komme es auf eine Gesamtbetrachtung anhand einer am Einzelfall orientierten Beurteilung an. Hilfeleistungen anderer Personen seien keine in diesem Sinne zwangsläufig mit der Insulintherapie verbundenen Einschränkungen. Gravierende Einschnitte in der Lebensführung lägen dann vor, wenn Kinder zur sachgerechten Durchführung der Therapie und zur Abwendung von Gefahren deutlich mehr begleitet, beobachtet und betreut werden müssten, als es der typische Entwicklungsstand des jeweiligen Lebensalters regelmäßig erfordern würde. Denn dann könnten sich Kinder und Jugendliche wesentliche Lebensbereiche nur mit engmaschiger Hilfe erschließen. Dies stelle eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung dar, die im individuellen Fall der Klägerin auch vorliege.

Gegen das ihm am 22. Mai 2023 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 9. Juni 2023 Berufung eingelegt. Der Argumentation des SG Osnabrück könne nicht gefolgt werden. Die Klägerin sei nach den vorliegenden Unterlagen in der Lage, völlig unbeeinträchtigt ihren diversen sportlichen Freizeitaktivitäten nachzugehen. Auch seien Hypoglykämien mit Notwendigkeit einer Fremdhilfe nicht eingetreten. Während des stationären Aufenthalts im Jahr 2022 sei die Selbstkompetenz der Klägerin deutlich verbessert worden. Sie sei mit einem Sensorsystem versorgt und die Technik wie auch die Handhabung der Insulinpumpe werde von ihr sicher beherrscht. Der Beklagte hat eine weitere Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes – Dr. O. vom 8. Juni 2023 – beigefügt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Osnabrück vom 27. April 2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Die Prozessbevollmächtigten der Klägerin haben ausgeführt, das SG Osnabrück habe im angefochtenen Urteil zutreffend eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung bejaht. Die Behauptung des Beklagten, die Klägerin sei in der Lage, völlig unbeeinträchtigt ihren sportlichen Aktivitäten nachzugehen, sei schlicht falsch. Zwar komme es nicht zu Hypoglykämien mit Fremdhilfebedarf, dies sei jedoch lediglich ein Beispiel ausgeprägter Teilhabebeeinträchtigungen und keine Anspruchsvoraussetzung. Die ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung könne – wie bei der Klägerin – auch auf andere Weise entstehen. Auch beherrsche die Klägerin das Management ihren Diabetes weiterhin nicht sicher allein und sei hierfür altersbedingt permanent auf Fremdhilfe angewiesen.

Der Beklagte hat in einer ergänzenden Stellungnahme nochmals darauf verwiesen, eine schlechte Einstellung des Diabetes liege gemäß Dokumentation nicht vor und der Fremdhilfebedarf der Klägerin werde durch das Merkzeichen H abgedeckt.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ist die Mutter der Klägerin nochmals angehört worden. Sie hat dargelegt, die Klägerin nehme ihre krankheitsbedingten Einschränkungen, etwa, dass sie immer auf ihre Werte aufpassen müsse und die Auswirkungen auf ihre Selbständigkeit, mittlerweile als deutlich belastend wahr. Auch sei es 2023 einmal zu einer Entgleisung gekommen, als die Batterien der Pumpe leer gewesen seien und die Klägerin mit sehr hohen Werten aus der Schule gekommen sei; diese Situation habe man aber dann zu Hause in den Griff bekommen. In der Kinderdiabetes-Ambulanz der Klinik sei auch eine Psychologin tätig, diese habe man nun eingeschaltet. Ziel der erstmals im Januar 2024 aufgenommenen Gespräche – der zweite Termin solle im Februar 2024 stattfinden – sei die bessere Akzeptanz der Krankheit durch die Klägerin. Diese betreibe im Übrigen weiterhin Vielseitigkeitsreiten als Leistungssport, was aufgrund der erforderlichen hohen Konzentration für eine Diabetikerin eine besondere Herausforderung sei. Sie seien indes auch mit anderen Eltern von minderjährigen Diabetikern in Kontakt und könnten froh sein, denn es gebe Kinder mit selbstverletzenden Verhaltensweisen und die Erkrankung könne im Alter der Klägerin auch ganz andere Auswirkungen haben. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat zur generellen Situation von Kindern mit Diabetes ergänzend ausgeführt, bei Kindern seien die Blutzuckerwerte im Tagesverlauf viel stärker schwankend als bei Erwachsenen. Im Übrigen hat er auf die Rechtsprechung des SG Hamburg hingewiesen, das in mehreren Entscheidungen die Schwerbehinderteneigenschaft von Diabetikerkindern angenommen habe (gemäß Homepage des Prozessbevollmächtigten der Klägerin Urteile vom 9. Mai 2023 – S 8 SB 122/21 –, vom 22. Februar 2023 – S 12 SB 211/21 –, vom 7. Dezember 2022 – S 12 SB 452/21 – sowie Gerichtsbescheid vom 13. Juni 2023 – S 54 SB 35/23, sämtlich unveröffentlicht und für den Senat bei seiner Entscheidungsfindung nicht verfügbar).

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Prozessakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung ist begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 9. Juni 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. September 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen den Beklagten, ihren GdB mit einem höheren Wert als 40 festzustellen. Das anderslautende Urteil des SG Osnabrück ist aufzuheben.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines GdB ist § 152 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der zum 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Neufassung durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG, BGBl. I 2016, 3234 ff.). Nach dieser Vorschrift, welche die die bisherigen Regelungen des § 69 SGB IX (Fassung bis zum 31. Dezember 2017) im Wesentlichen unverändert übernommen hat, stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (Abs. 1 S. 1). Als GdB werden dabei nach § 152 Abs. 1 S. 5 SGB IX n. F. die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Grundlage der Bewertung waren dabei bis zum 31. Dezember 2008 die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP). Dieses Bewertungssystem ist zum 1. Januar 2009 ohne wesentliche inhaltliche Änderungen abgelöst worden durch die aufgrund des § 30 Abs. 17 (bzw. Abs. 16) BVG erlassene und zwischenzeitlich mehrfach geänderte Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV -) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I 2412). Die darin niedergelegten Maßstäbe waren nach § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX (in der bis zum 14. Januar 2015 gültigen Fassung) auf die Feststellung des GdB entsprechend anzuwenden. Seit dem 15. Januar 2015 existiert im Schwerbehindertenrecht eine eigenständige Rechtsgrundlage für den Erlass einer Rechtsverordnung, in der die Grundsätze für die medizinische Bewertung des GdB und auch für die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen aufgestellt werden (§ 70 Abs. 2 SGB IX in der seit dem 15. Januar 2015 gültigen Fassung bzw. § 153 Abs. 2 SGB IX in der seit dem 1. Januar 2018 gültigen Fassung). Hierzu sieht der zeitgleich in Kraft getretene § 159 Abs. 7 SGB IX (nunmehr § 241 Abs. 5 SGB IX n. F.) als Übergangsregelung vor, dass bis zum Erlass einer solchen Verordnung die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten.

Als Anlage zu § 2 VersMedV sind "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VMG) erlassen worden, in denen u.a. die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) i. S. des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden sind. Diese sind auch für die Feststellung des GdB maßgebend (vgl. Teil A Nr. 2 a VMG). Die AHP und die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretenen VMG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], vgl. z. B. Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 SB 2/13 R - juris Rn. 10 m. w. N.).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB gemäß § 152 Abs. 3 S. 1 SGB IX n. F. nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (s. § 2 Abs. 1 SGB IX) und die damit einhergehenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl. Teil A Nr. 3 c VMG) - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in den VMG feste Grade angegeben sind (Teil A Nr. 3 b VMG). Hierbei führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung und auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d ee VMG; vgl. zum Vorstehenden auch BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 3/12 R - juris Rn. 29).

Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl. BSG a.a.O. Rn. 30). Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Maßgeblich für die darauf aufbauende GdB-Feststellung ist aber nach § 2 Abs. 1, § 152 Abs. 1 und 3 SGB IX n. F., wie sich nicht nur vorübergehende Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirken. Bei der rechtlichen Bewertung dieser Auswirkungen sind die Gerichte an die Vorschläge der von ihnen gehörten Sachverständigen nicht gebunden (BSG, Beschluss vom 20. April 2015 - B 9 SB 98/14 B - juris Rn. 6 m.w.N.).

Unter Beachtung dieser Grundsätze ist die Entscheidung des Beklagten nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat zu Recht die Feststellung eines höheren GdB abgelehnt.

Nach Teil B Nr. 15 VMG beträgt der GdB bei an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung 30 bis 40 (Abs. 3). Ein GdB von 50 (ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung) wird anerkannt bei an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbständig variiert werden muss, und die durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind; die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein (Abs. 4). Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere Werte bedingen (Abs. 5).

Danach reicht es für die Feststellung eines GdB von 50 aufgrund einer Zuckerkrankheit nicht aus, dass die auf den Therapieaufwand bezogenen Beurteilungskriterien erfüllt sind. Zudem ist erforderlich, dass die betreffende Person durch Auswirkungen des Diabetes insgesamt gesehen erheblich in der Lebensführung beeinträchtigt ist (vgl. dazu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 SB 2/13 R - juris Rn. 18; Urteil vom 25. Oktober 2012 - B 9 SB 2/12 R - juris Rn. 37). Die durch erhebliche Einschnitte bewirkte gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung kann auf Besonderheiten der Therapie beruhen, auf einem unzulänglichen Therapieerfolg, also der Stoffwechsellage des erkrankten Menschen, oder auf anderen durch die Krankheitsfolgen herbeigeführten erheblichen Einschnitten in der Lebensführung (vgl. BSG a. a. O.). Bei der anzustellenden Gesamtbetrachtung aller Lebensbereiche lässt sich eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung durch erhebliche Einschnitte in der Lebensführung nur unter strengen Voraussetzungen bejahen. Das zeigt sich schon an der Formulierung der Vorschrift, die eine für einen Normtext seltene Häufung einschränkender Merkmale enthält (erheblich, gravierend, ausgeprägt).

Die mit der dort vorausgesetzten Insulintherapie zwangsläufig verbundenen Einschnitte sind nicht geeignet, eine zusätzliche gravierende Beeinträchtigung der Lebensführung hervorzurufen. Entsprechende gravierende Einschnitte können vorliegen, wenn ein Antragsteller zusätzlich durch eine schlechte Einstellungsqualität in seiner Leistungsfähigkeit und damit in seiner Teilhabefähigkeit am Leben in der Gesellschaft erheblich beeinträchtigt ist; bei Fehlen schwerer hypoglykämischer Entgleisungen mit erforderlicher Fremdhilfe im Krankheitsverlauf, nennenswerter Zeiten von Arbeitsunfähigkeit oder stationärer Behandlungsbedürftigkeit und Folgeschäden an anderen Organen – wie im Fall der Klägerin – sind eher Zweifel angebracht. Einzelne Ausfallzeiten infolge von Unterzuckerungszuständen sind unvermeidbare Folge des Diabetes, auch Einschränkungen bei Reisen, beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen und bei der Nahrungsaufnahme bedeuten zwar eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung, erreichen aber nicht das Ausmaß einer darüber noch hinausgehenden ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 SB 2/13 R – juris Rn. 21 f.).

Neben einem unzureichenden Therapieerfolg sind hinsichtlich der Annahme einer ausgeprägten Teilhabebeeinträchtigung auch alle anderen durch die Krankheitsfolgen herbeigeführten erheblichen Einschnitte in der Lebensführung zu beachten (vgl. Hessisches Landessozialgericht [LSG], Urteil vom 19. November 2019 – L 3 SB 78/18 – juris Rn. 29).

Der Senat berücksichtigt insoweit auch Besonderheiten jugendlicher Diabetiker gegenüber Gleichaltrigen. Insbesondere berücksichtigt er die für das Lebensalter typischen besonderen Risiken jenseits der Stabilität der Blutzuckerwerte, hier insbesondere das Risiko, dass „normwidrige“ Lebensumstände oder gegenüber Gleichaltrigen ungewöhnliches Verhalten die soziale Akzeptanz eines Kindes oder Jugendlichen in der Gruppe gefährden können. Dieses Risiko allein bedingt indes noch keine gravierenden Beeinträchtigungen in der Lebensführung. Dies ist hier ebenso wenig der Fall wie auch sonst bei aufgrund individueller Umstände bestehenden besonderen Risiken. Regelmäßig resultieren aus solchen besonderen Risiken (z. B. erhöhtes Krebsrisiko aufgrund genetischer Disposition) erst dann Auswirkungen auf den GdB, wenn sie sich realisiert haben oder gegenwärtig bereits erhebliche psychische Auswirkungen bestehen, sofern diese bei der Bemessung im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche einen entsprechenden Ausprägungsgrad erreichen. Erhebliche psychische Auswirkungen kann selbstverständlich auch die Erkrankung selbst haben, diese Auswirkungen müssen dann jedoch über das gemäß Teil A Nr. 2 i VMG mit abgedeckte durchschnittliche bzw. übliche Maß erheblich hinausgehen. Auch insoweit ist bei altersunabhängiger Betrachtung nicht auf das übliche Maß bei Betrachtung der durchschnittlichen seelischen Belastung aller Diabetiker, sondern auf dasjenige Vergleichsmaß aller Diabetiker in ähnlichem Lebensalter abzustellen.

Demnach sind eine Höherbewertung sowie die Annahme einer gravierenden Beeinträchtigung in der Lebensführung erst dann gerechtfertigt, wenn das für das Lebensalter typische gesteigerte Risiko deutlicher sozialer Benachteiligung oder starker psychischer Probleme sich im Einzelfall realisiert und diese Auswirkungen über die mit den Umständen der Erkrankung zwangsläufig verbundenen Einschnitte erheblich hinausgehen. Entsprechend gravierende Beeinträchtigungen in der Lebensführung i. S. von Teil B Nr. 15.1 Abs. 3 VMG liegen nach einem Urteil des SG Berlin nicht bei einem Jugendlichen vor, der in der Schule beliebt ist, gute schulische Leistungen erzielt und sich in psychischer Hinsicht altersentsprechend unauffällig verhält (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Oktober 2022 – L 11 SB 65/18 – juris Rn. 12 unter Hinweis auf die Vorinstanz SG Berlin, Urteil vom 21. Februar 2018 – S 178 SB 1106/16). Hingegen liegen sie in den von der Mutter der Klägerin geschilderten Fällen nahe, in denen Kinder psychische Auffälligkeiten bis hin zur Selbstverletzung zeigen. Gleiches gilt selbstverständlich in Fällen, in denen Diabetikerkinder durch Mobbing oder Ausgrenzung seitens Gleichaltriger in ihrer Entwicklung gestört werden.

Das Maß der aus einer Behinderung resultierenden Teilhabebeeinträchtigung ist im Ausgangspunkt also grundsätzlich altersunabhängig zu bestimmen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. September 2014 – L 8 SB 5215/13 – juris Rn. 31 mit kritischer Anmerkung Dau, jurisPR-SozR 9/2015 Anm. 3). Einerseits führt zwar gerade die Abweichung vom alterstypischen Zustand dazu, dass die allgemeine Regelwidrigkeit nach den Wertungen des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zu einer behinderungstypischen Funktionsbeeinträchtigung wird (LSG Baden-Württemberg, a. a. O.); im Rahmen der Bewertung dieser Behinderung stellen die Werte der VMG andererseits aber altersunabhängige Mittelwerte dar (Teil A Nr. 2 d VMG). Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht nur ein Diabetes, sondern nahezu jede Form einer Behinderung dazu führen kann, dass die im Rahmen der Teilhabemöglichkeiten zu berücksichtigenden sozialen Auswirkungen aufgrund der typischen Sozialstrukturen des Jugendalters schwerwiegender und erheblicher sind als im fortgeschrittenen Alter. Jedoch teilt der Senat die Auffassung des LSG Baden-Württemberg (a. a. O., juris Rn. 38), dass eine Differenzierung der Bewertung nach dem altersüblichen Aktivitätsmuster bzw. den altersüblichen Sozialstrukturen weder faktisch durchführbar noch erforderlich ist. Die VMG bilden vielmehr altersunabhängige Mittelwerte und nehmen insoweit eine zulässige Typisierung vor, mit Ausnahme ausdrücklicher Differenzierungen nach dem Lebensalter im Text der VMG (vgl. ausführlich LSG Baden-Württemberg, a. a. O., Rn. 39). Grundsätzlich wird der GdB altersübergreifend bestimmt, ansonsten bedürfte es im Übrigen auch einer weiteren Differenzierung zwischen jüngeren und älteren Erwachsenen. Dass sich Behinderungen im Jugendalter typischerweise im Rahmen aktiver Sozialstrukturen stärker auswirken als bei alten Menschen, ist insoweit grundsätzlich im Rahmen zulässiger Typisierung hinzunehmen.

Letzteres bedeutet jedoch nicht, dass gravierende Beeinträchtigungen in der Lebensführung durch jugendspezifische Besonderheiten insbesondere der Sozialstrukturen bei der Bewertung eines Diabetes mellitus nach Teil B Nr. 15.1 VMG denknotwendig ausgeschlossen wären. Der Senat schließt sich insoweit ausdrücklich dem SG Berlin (a. a. O.) an, dass eine entsprechende alterstypische gravierende Beeinträchtigung zwar grundsätzlich zu betrachten und zu erwägen ist, aber eine solche nicht bei Kindern und Jugendlichen vorliegt, die unter Gleichaltrigen beliebt und in psychischer Hinsicht altersentsprechend unauffällig sind. Diese leiden nämlich vergleichbar wie ältere und jüngere Erwachsene im Wesentlichen unter dem zusätzlich zu erbringenden Therapieaufwand und den mit diesem Aufwand unvermeidbar verbundenen Restriktionen der alltäglichen Lebensführung.

Bei der Klägerin ist insoweit folglich ihr junges Lebensalter besonders zu betrachten. Jedoch greift dieser Aspekt im vorliegenden Einzelfall letztlich nicht durch, um eine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung zu begründen. Anders als das SG Osnabrück gemäß seines Urteils vom 27. April 2023 sieht der Senat keine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung aufgrund des bei der Durchführung der Therapie in erheblichem Umfang bestehenden Hilfebedarfs, auch im Rahmen von Schulbesuch und Freizeitgestaltung. Eine stärker erforderliche elterliche Überwachung und Begleitung aufgrund einer Behinderung bedingt bei Kindern keine gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung, sofern dies keine schwerwiegenden weiteren psychischen Konsequenzen für den betroffenen jungen Menschen hat. Gesteigerter Fremdhilfebedarf, der durch die Eltern eines Minderjährigen und insbesondere eines Kindes erbracht wird, erreicht abgesehen von gravierenden Ausnahmefällen nicht das für die Annahme einer Schwerbehinderung nach Teil B Nr. 15.1 VMG erforderliche Maß. Im Regelfall kann gerade bei Kindern, die an Fremdhilfe durch die Eltern in verschiedenen Ausprägungen ohnehin gewöhnt sind, von entsprechender sozialer Akzeptanz durch das betroffene Kind selbst und durch Dritte ausgegangen werden, im Kindesalter regelmäßig auch bei engmaschiger Begleitung. Bei Jugendlichen kommt es auf Art und Ausmaß an und es ist eine eingehendere Betrachtung anzustellen; gelegentlicher Hilfebedarf dürfte aber auch hier die Schwelle zur gravierenden Beeinträchtigung in der Lebensführung nicht überschreiten und es bedarf darüber hinaus im Einzelfall auch einer Beschäftigung mit der Frage, inwieweit tatsächlich erbrachte elterliche Hilfe behinderungsbedingt wirklich erforderlich ist. Im Kindesalter stellen sich diese Fragen weniger ausgeprägt als bei Jugendlichen. Es handelt sich bei dem elterlichen Hilfebedarf letztlich um ein Element des durch das Lebensalter modifizierten allgemeinen Therapieaufwandes.

Einer weiteren Betrachtung bedürfen nach dem vorstehend wiedergegebenen Prüfungsmaßstab insbesondere die individuellen Umstände der psychischen und sozialen Entwicklung in der konkreten Lebenssituation eines Kindes oder Jugendlichen. Dies stellt den wesentlichen Aspekt bei der Beantwortung der Frage dar, ob altersbedingte Besonderheiten des jugendlichen Alters als gravierende Beeinträchtigung in der Lebensführung zu bewerten sind. Einerseits ist dem Diabetiker die übliche Anpassung an die Gleichaltrigen und ihre Spontaneität nicht möglich. Andererseits können sich besondere psychische Probleme etwa im Selbstwertgefühl oder in der sozialen Akzeptanz des behinderten jungen Menschen ergeben.

In diesem Sinne liegen bei Kindern und Jugendlichen zusätzliche gravierende Beeinträchtigungen in der Lebensführung dann vor, wenn individuelle soziale Probleme erkennbar werden, dies vor allem dann, wenn gravierende Verhaltensauffälligkeiten aus der Erkrankung resultieren (z. B. Kinder mit selbstverletzenden Verhaltensweisen, wie die Mutter der Klägerin dargelegt hat) oder wenn im Einzelfall die soziale Akzeptanz des individuellen behinderten Menschen in deutlichem Maße behinderungsbedingt leidet (etwa durch Mobbing oder deutliche Ausgrenzung durch Gleichaltrige aufgrund der bestehenden Behinderung). Dies stellt Risiken dar, die als alterstypisch für Kinder und Jugendliche angesehen werden können, auch wenn sie in höherem Lebensalter nicht denknotwendig ausgeschlossen sind. In weiterer Folge führen diese Problematiken typischerweise zu einer erheblichen Reduzierung der Entfaltungsmöglichkeiten (etwa fehlendes Selbstwert- oder Gemeinschaftsgefühl sowie Einschränkungen gemeinsam erlebter Freizeitaktivitäten) und in vielen Fällen zu gravierenden Auswirkungen auf die Entwicklung. Derartige Beeinträchtigungen sind als gravierende Beeinträchtigungen in der Lebensführung zu berücksichtigen. Dies würde im Übrigen in gleichem Maße auch für betroffene Erwachsene gelten, dürfte aber bei ansteigendem Lebensalter nach üblicher altersbedingter Veränderung von Sozialstrukturen in einem erwachsenen Umfeld mehr und mehr unwahrscheinlich werden.

Entsprechende gravierende Einschnitte im Sinne individueller Auswirkungen, die über die üblichen Einschränkungen eines Diabetes hinausgehen, sind im Falle der Klägerin nicht festgestellt. Sie ist nach den eigenen Angaben ihrer Familie ausgesprochen kontaktfreudig und hat viele Freunde. Für eine Änderung dieser Situation aufgrund ihrer Erkrankung ist nichts dargetan, ihre psychische und soziale Entwicklung erscheint derzeit ungefährdet. Die Angaben der Mutter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem SG Osnabrück sowie vor dem Senat hat der Senat bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigt, sieht aber auch insoweit keine maßgebliche Gefährdung der psychischen und sozialen Entwicklung der Klägerin. Maßgeblich ist hierbei – wie auch sonst – die Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand (vgl. Teil A Nr. 2 c VMG), nicht aber ggf. negative Auswirkungen im Rahmen besonderer Fähigkeiten oder Interessen, etwa bezogen auf das Betreiben von Vielseitigkeitsreiten als Leistungssport.

Der GdB der Klägerin aufgrund der Diabeteserkrankung ist demzufolge mit 40 korrekt bemessen. Eine Generalisierung im Hinblick auf minderjährige Diabetespatienten, was die Bewertung ihrer besonderen Lebenssituation mit gesteigertem Hilfebedarf aufgrund der therapeutisch erforderlichen Begleitung durch die Eltern als gravierende Einschnitte in der Lebensführung betrifft, vermag der Senat nicht vorzunehmen.

Weitere Funktionsstörungen und Beschwerden der Klägerin rechtfertigen in Anwendung von Teil A Nr. 3 d ee VMG keine weitere Erhöhung des GdB und nicht die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft.

Die anspruchsbegründenden Tatsachen müssen zudem zur vollen Überzeugung des Gerichts in der Weise nachgewiesen werden, dass vernünftige Zweifel nicht verbleiben und das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen zumindest mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann. Verbleiben insoweit Zweifel, ist auch im Falle überwiegender Wahrscheinlichkeit eines höher zu bewertenden Ausmaßes eine Höherbewertung nicht möglich, so lange deren Erforderlichkeit auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht mit dem entsprechenden Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung als erwiesen gelten kann.

Dies führt in den häufigen Fällen, in denen der Gesamt-GdB in vertretbarer Weise entweder einen Zehnergrad höher oder niedriger angenommen werden kann, zudem regelmäßig dazu, dass eine richterliche Heraufsetzung des GdB auf den höheren vertretbaren Wert aufgrund der in diesen Fällen zumeist verbleibenden Zweifel nach den Regeln der objektiven Beweislast (hierzu BSG, Urteil vom 27. Oktober 2022 – B 9 SB 4/21 R – juris Rn. 41, m. w. N.) nicht in Betracht kommt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Zulassung der Revision beruht auf § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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