1. Eine Kostenübernahme für ein auf Antrag nach § 109 SGG eingeholtes Gutachten auf die Staatskasse kann angezeigt sein, wenn im Zusammenhang mit der Beweiserhebung eine objektiv unrichtige Sachbehandlung durch das Gericht vorgelegen hat. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Gericht den Antrag nach § 109 SGG auf Einholung des Gutachtens hätte ablehnen müssen.
2. Ist das Ergebnis eines ärztlichen Gutachtens nach der materiellen Rechtsauffassung des erkennenden Gerichts nicht entscheidungserheblich, ist der Antrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG grundsätzlich abzulehnen.
I. Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 10.01.2024 aufgehoben. Die Kosten für das auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz eingeholte Gutachten des U vom 23.08.2022 werden auf die Staatskasse übernommen.
II. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers im Beschwerdeverfahren werden auf die Staatskasse übernommen.
G r ü n d e :
I.
Der Kläger und Beschwerdeführer (nachfolgend Kläger) begehrt die Übernahme der Kosten eines nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholten Gutachtens auf die Staatskasse.
Bezüglich eines Arbeitsunfalls des Klägers vom 04.04.2008 gewährte die beklagte Berufsgenossenschaft ihm seit 03.11.2009 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 v. H. (Bescheid vom 04.03.2011; Widerspruchsbescheid vom 25.10.2011). Mit Bescheid vom 17.04.2014 lehnte die Beklagte die Gewährung einer höheren Verletztenrente bestandskräftig ab.
Mit Schreiben vom 23.02.2015 und 27.05.2015 beantragte der Kläger erneut die Gewährung einer höheren Verletztenrente nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) bzw. § 48 SGB X bei der Beklagten.
Den Antrag im Schreiben vom 23.02.2015 lehnte die Beklagte nachfolgend ab (Bescheid vom 28.04.2015; Widerspruchsbescheid vom 06.09.2016). In dem hiergegen durch den Kläger eingeleiteten sozialgerichtlichen Verfahren schlossen der Kläger und die Beklagte vor dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG) am 19.04.2018 folgenden Vergleich (L 17 U 56/17):
"I. Die Beklagte bewilligt dem Kläger unter Abänderung ihres Bescheides vom 28.04.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.09.2016 und des Bescheides vom 04.03.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.10.2011 sowie des Bescheides vom 17.04.2014 ab Rentenbeginn Verletztenrente nach einer MdE von 50 v. H. bis einschließlich 31.05.2014, danach weiter von 40 v. H.
II. Die Beklagte erstattet die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
III. Der Bevollmächtigte des Klägers nimmt mit Zustimmung des Klägers das Angebot der Beklagten an.
IV. Damit ist der Rechtsstreit vollständig erledigt."
Den Antrag aufgrund des Schreibens vom 27.05.2015 lehnte die Beklagte ab, mit der Begründung, dass sich die dem Bescheid vom 04.03.2011 zu Grunde liegenden Verhältnisse nicht wesentlich geändert hätten (Bescheid vom 20.01.2017; Widerspruchsbescheid vom 12.07.2017). Die hiergegen erhobene Klage wurde durch das Sozialgericht (SG) Würzburg mit Urteil vom 31.07.2018 abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung (L 17 U 339/18) wies das Bayerische LSG mit (rechtskräftigem) Urteil vom 16.09.2021 zurück. Zur Begründung führte es u.a. aus, dass ein Anspruch des Klägers auf eine höhere Verletztenrente wegen des Arbeitsunfalls vom 04.04.2008 für die Zeit bis zum Abschlusses des Vergleichs vom 19.04.2018 im Verfahren L 17 U 56/17 wegen der hierdurch erfolgten bindenden Festsetzung der MdE ausgeschlossen sei.
Nachfolgend lehnte die Beklagte es gegenüber dem Kläger mit dem im Ausgangsverfahren angefochtenen Bescheid ab, den Bescheid vom 28.04.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.09.2016, den Bescheid vom 04.03.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.10.2011 und den Bescheid vom 17.04.2014 sowie den gerichtlichen Vergleich vom 19.04.2018 gemäß § 44 SGB X aufzuheben und dem Kläger wegen des Arbeitsunfalls vom 04.04.2008 eine Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 60 v. H. für die Zeit ab 01.06.2014 zu gewähren (Bescheid vom 25.10.2019; Widerspruchsbescheid vom 23.04.2020).
Hiergegen hat der Kläger am 22.05.2020 Klage zum SG Würzburg erhoben (S 13 U 114/20). In dem Klageverfahren hat das SG mit Schreiben vom 17.02.2022 darauf hingewiesen, dass nach den Ausführungen des Bayerischen LSG im Verfahren L 17 U 339/18 die Einholung von Gutachten von Amts wegen (§ 106 SGG) nicht beabsichtigt sei, jedoch die Möglichkeit der Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG auf Antrag des Klägers bestehe.
Nachfolgend hat das SG auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG ein nervenärztliches Gutachten bei dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie U vom 23.08.2022 eingeholt. Der Sachverständige ist darin zu dem Ergebnis gekommen, dass die MdE des Klägers wegen der Folgen des Unfalls vom 04.04.2008 ab dem 01.06.2014 50 v. H. betrage.
Mit Gerichtsbescheid vom 09.01.2023 hat das SG Würzburg die Klage (S 13 U 114/20) abgewiesen. Die Bescheide der Beklagten seien rechtmäßig. Insbesondere stehe der Vergleich vom 19.04.2018 einem anderen Ergebnis im Wege. In dem hiergegen durch den Kläger eingeleiteten Berufungsverfahren vor dem Bayerischen LSG (L 17 U 33/23) hat die Vorsitzende des 17. Senats den Kläger darauf hingewiesen, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg habe, weil der begehrten Überprüfung nach § 44 SGB X der im Verfahren L 17 U 56/17 geschlossene Vergleich entgegenstehe. Daraufhin hat der Kläger die Berufung am 30.11.2023 zurückgenommen.
Mit Schriftsatz vom 11.12.2023 hat der Kläger beim SG beantragt, die Kosten für das Gutachten des U auf die Staatskasse zu übernehmen.
Dies hat das SG mit Beschluss vom 10.01.2024 abgelehnt. Das Gutachten habe keine neuen medizinischen Gedanken oder Hinweise enthalten, die für den Rechtsstreit von Bedeutung gewesen sein konnten. Wegen des im Verfahren L 17 U 56/17 geschlossenen Vergleichs sei es auf medizinische Ausführungen nicht angekommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
II.
1. Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Kosten des Gutachtens des U sind gemäß § 109 Abs. 1 SGG auf die Staatskasse zu übernehmen.
a) Nach § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG hat ein Kläger, auf dessen Antrag im sozialgerichtlichen Verfahren ein von ihm benannter Arzt als Gutachter seines Vertrauens gehört wird, auf Verlangen des Gerichts die Kosten vorzuschießen und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig zu tragen. Über die endgültige Kostentragungspflicht entscheidet das Gericht nach Ermessen durch Beschluss (vgl. u.a. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Auflage 2023, § 109 Rn. 16; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.12.2006 - L 6 B 24/06 SB - juris Rn. 3). Die Entscheidung des Gerichts ist im Beschwerdeverfahren voll und nicht nur auf Ermessensfehler überprüfbar (vgl. nur Beschluss des Senats vom 03.08.2023 - L 17 U 92/23 B - juris Rn. 11 m.w.N.).
Im Rahmen der Entscheidung über die endgültige Kostentragungspflicht ist vor allem zu berücksichtigen, ob das Gutachten die Sachaufklärung wesentlich gefördert hat (vgl. Keller, a.a.O., Rn. 16a). Es ist zu prüfen, ob das Gutachten zusätzliche, für die Sachaufklärung bedeutsame Gesichtspunkte aufgezeigt hat. Dabei kann aber nicht in jedem neuen Gesichtspunkt ein Beitrag zur Aufklärung des Sachverhalts gesehen werden. Es muss sich vielmehr bei objektiver Wertung um einen wesentlichen Beitrag gehandelt haben, und zwar orientiert am Prozessziel des Klägers (vgl. hierzu ausführlich Beschluss des Senats, a.a.O. Rn. 12 m.w.N.). Entscheidend ist, ob durch das Gutachten wesentliche neue beweiserhebliche Gesichtspunkte zu Tage getreten sind oder die Beurteilung auf eine wesentlich breitere und für das Gericht und die Beteiligten überzeugendere Grundlage gestellt worden ist (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 29.10.2015 - L 15 SB 14/15 B - juris Rn. 11 m.w.N.).
Wird anstelle einer notwendigen Sachaufklärung von Amts wegen ein Gutachten nach § 109 SGG eingeholt, sind dessen Kosten stets auf die Staatskasse zu übernehmen. Eine Kostenübernahme kann ferner ausnahmsweise angezeigt sein, wenn im Zusammenhang mit der Beweiserhebung eine objektiv unrichtige Sachbehandlung durch das Gericht vorgelegen hat; z.B., weil das Gericht nicht erkannt hat, dass es auf das Beweisthema nicht ankam (vgl. zum Ganzen Beschluss des Senats, a.a.O. Rn. 13 m.w.N.).
Für die Ermessensausübung ist es nicht relevant, ob das Gutachten den Rechtsstreit in einem für den Kläger günstigen Sinn beeinflusst hat. Kein maßgeblicher Gesichtspunkt zugunsten des Klägers ist es aber auch, wenn er nach Bestätigung des bisherigen Beweisergebnisses durch den gemäß § 109 SGG benannten Gutachter die Klage oder Berufung zurücknimmt. Denn die Kostenübernahme auf die Staatskasse bzw. die Ablehnung der Kostenübernahme dient nicht der Belohnung bzw. Sanktionierung eines bestimmten prozessualen Verhaltens (vgl. Beschluss des Senats, a.a.O. Rn. 14 m.w.N.).
b) Nach Maßgabe dessen sind die Kosten für das Gutachten des U vom 23.08.2022 auf die Staatskasse zu übernehmen.
Es lag im Zusammenhang mit der Beweiserhebung eine objektiv unrichtige Sachbehandlung durch das SG vor, denn es kam im vorliegenden Verfahren - wie das SG selbst u.a. in seinem Gerichtsbescheid vom 09.01.2023 ausgeführt hat - auf die Beweisfragen, zu denen das Sachverständigengutachten eingeholt worden ist, von vornherein nicht an.
Eine Rückausnahme, bei der die Kostenübernahme auf die Staatskasse gleichwohl entfallen soll, wenn das Gericht auf die fehlende Entscheidungserheblichkeit hinweist und der Kläger dennoch auf seinem Antrag besteht (vgl. Beschluss des Senats, a.a.O. Rn. 13 m.w.N.), ist hier nicht gegeben. Es kann dahinstehen, welche Fallgruppen dies überhaupt betrifft. Die Rückausnahme greift jedenfalls dann nicht ein, wenn das Gericht - wie hier - den Antrag nach § 109 SGG hätte ablehnen müssen. Im Übrigen hat der Kläger auch nicht nach Hinweis des SG auf seinem Antrag nach § 109 SGG bestanden; vielmehr hat das SG von sich aus die Bereitschaft zur Einholung eines Gutachtes nach § 109 SGG im Falle eines Antrags des Klägers signalisiert, den der Kläger erst nachfolgend gestellt hat.
Das SG hätte den Antrag des Klägers nach § 109 SGG ablehnen müssen. Einem Antrag nach § 109 SGG auf Anhörung eines bestimmten Arztes muss nicht gefolgt werden, wenn es auf die Frage, zu der der Arzt Stellung nehmen soll - nach der materiellen Rechtsauffassung der betreffenden Tatsacheninstanz (BSG, Urteil vom 20.04.2010 - B 1/3 KR 22/08 R - juris Rn. 16 m.w.N.) - nicht ankommt (fehlende Entscheidungserheblichkeit; vgl. dazu z.B. BSG, Urteil vom 20.04.2010 a.a.O. Rn. 14 ff.; BSG, Urteil vom 22.06.1977 - 10 RV 67/76 - juris Rn. 21; BSG, Urteil vom 14.12.1961 - 11 RV 584/61 - juris Rn. 10; BSG, Urteil vom 16.12.1958 - 10 RV 765/57 - juris Rn. 14; Keller a.a.O. 10a). Ist ein Gericht - wie hier das SG - der Auffassung, dass das Ergebnis eines ärztlichen Gutachtens nicht entscheidungserheblich ist, weil die Klage bereits aus anderen Gründen scheitert, wird es grundsätzlich - so auch hier - den Antrag nach § 109 SGG ablehnen müssen. Denn nach dem im Sozialgerichtsprozess - ebenso wie u.a. im Zivilprozess - geltenden Grundsatz, von dem auch § 109 SGG nicht entbindet, ist nur über solche Tatsachen Beweis zu erheben, die für die Entscheidung erheblich sind (vgl. BSG, Urteil vom 20.04.2010 a.a.O. Rn. 16; BSG, Urteil vom 14.03.1956 - 9 RV 226/54 juris Rn. 11). Dies ist auch Ausdruck des Interesses an einer Gewährung effektiven Rechtsschutzes (vgl. Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, 2015, Kapitel 12, Rn. 1), da insbesondere der zügige Abschluss des Verfahrens hierdurch gefördert wird und Verzögerungen durch überflüssige Beweiserhebungen vermieden werden (vgl. auch Ahrens a.a.O. Kapitel 13 Rn. 1).
2. Da die Beschwerde erfolgreich ist, sind auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens auf die Staatskasse zu übernehmen. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG (zur Erforderlichkeit der Kostenentscheidung siehe nur Beschluss des Senats vom 03.08.2023, a.a.O. Rn. 18).
3. Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.