1) Die gesundheitliche Schädigung als Primärschädigung, d.h. die Impfkomplikation, muss neben der Impfung und dem Impfschaden, d.h. der dauerhaften gesundheitlichen Schädigung, im Vollbeweis nachgewiesen sein (Fortsetzung der Rspr. des Senats).
2) Es ist nicht Aufgabe der Gerichte, hier zur Erleichterung des Zugangs zu Entschädigungsleistungen für Impfschäden entgegen der gesetzlichen Systematik des Sozialen Entschädigungsrechts von geminderten Voraussetzungen auszugehen. Hier Abhilfe zu schaffen, wäre Aufgabe des Gesetzgebers.
3) Ein Grundurteil erfüllt nicht die Voraussetzungen von § 130 Abs. 1 SGG, wenn zwar der Beginn der ausgeurteilten Rente tenoriert wird und auch Feststellungen zu den Schädigungsfolgen im Tenor enthalten sind, es jedoch an der Bestimmung des GdS als einer notwendigen Anspruchsvoraussetzung fehlt.
4) Zum Prüfungsrahmen bei § 44 SGB X.
I. Auf die Berufung wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 11.09.2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten in beiden Rechtszügen sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d :
Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Impfschadens und eine Beschädigtenversorgung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG).
Der 1973 geborene Kläger erhielt am 15.11.1974, am 24.01.1975 und am 14.11.1975 Impfungen gegen Kinderlähmung (Polio). Die Impfungen erfolgten (durch das Staatliche Gesundheitsamt I) mit dem Impfstoff Sabin. Ferner erhielt der Kläger am 27.12.1978 eine Tetanusimpfung.
Für den Kläger ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 nach § 152 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) festgesetzt worden (u.a. für hochgradige partiell an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits mit Sprachentwicklungsstörungen - Einzel-GdB 80, seelische Krankheit - Einzel-GdB 50).
Einen ersten Antrag auf Versorgung nach dem IfSG stellte der Kläger am 23.05.2005, der auf die Anerkennung und Entschädigung der Gesundheitsstörungen Hirnschaden, Taubheit, Sprachstörung und Störungen des Schlafrhythmus gerichtet war.
Der Beklagte wertete zahlreiche vorliegende medizinische Unterlagen aus, so den an den damaligen Hausarzt des Klägers gerichteten Arztbrief des Neurologen B vom 06.05.1977, in dem u.a. festgestellt wurde, dass bei der neurologischen Untersuchung der Kläger geistig retardiert gewirkt habe. Es habe den Anschein, so B, dass eine hirnorganisch fundierte Sprachentwicklungsstörung, möglicherweise aufgrund eines perinatalen Hirnschadens, bestehe.
Ab August 1977 besuchte der Kläger einen Sonderkindergarten für behinderte Kinder. Das Versorgungsamt Augsburg stellte damals mit Bescheid vom 14.02.1978 die Behinderung Hirnschädigung bei Morbus Down und eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 % fest.
Am 31.08.1978 stellte sich der Kläger in der entwicklungsneurologischen Sprechstunde der Universitätskinderklinik T vor. Im Bericht der Klinik vom 20.10.1978 wurden insbesondere eine Sprachentwicklungsverzögerung und eine visuelle Perzeptionsstörung festgestellt. Im Einzelnen wurde in dem Bericht festgehalten: "... Mit 12 Monaten konnte er gezielt Auto sprechen... Er spreche jetzt gut 50 Wörter, teils in 3-Wortsätzen. Vieles spreche er spontan nach, das er nachher nicht verwenden könne. verstehe recht viel, doch häufig mit Schwierigkeiten, mit dem was über seinen eigenen Wortschatz hinausgeht... Befund: spricht undeutlich durch die Nase, sagt dabei aber längere Sätze wie z.B.: ´Da ist schönes Auto, guck! Auto Schnee.´ Statt Fisch sagt er Schiff... Beurteilung: Bei liegt eine Sprachentwicklungsverzögerung vor mit eingeschränktem Wortschatz, Dyslalie und Dysgrammatismus... Zum sicheren Ausschluss einer leichten bis mittelgradigen Hörbehinderung empfahlen wir die Kontrolle der Hörprüfung, ..."
Ein Bericht der HNO-Klinik U aus der damaligen Zeit liegt nicht (mehr) vor. Vom 17.01.1979 bis 13.02.1979 befand sich der Kläger in stationärer Behandlung in der Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkranke der Ludwig-Maximilians-Universität M In der Epikrise vom 15.02.1979 wurde Folgendes festgehalten: "... es handelt sich beidseits um eine nahezu symmetrische hochgradige Innenohrschwerhörigkeit... Aufgrund dieser Befunde führten wir die Anpassung von Hörgeräten beiderseits durch. kam mit den Hörgeräten gut zurecht, er reagierte wesentlich besser und sein Sprachschatz entwickelte sich etwas. Eine weitere Förderung des Kindes ist aber dringend nötig."
Im März 1979 wechselte der Kläger in eine spezialisierte Vorschuleinrichtung. Ab September 1980 besuchte er die Sondervolksschule für Schwerhörige und lebte in einem Kinderheim. Der damalige Hausarzt S zitierte in einem für das Versorgungsamt erstellten ärztlichen Bericht vom 17.03.1981 aus einem (nicht mehr vorliegenden) Bericht der HNO-Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität M vom 01.03.1979, dass es sich bei dem Kläger um einen Buben handle, "dessen (mittelgradige?) Schwerhörigkeit erst vor wenigen Wochen erkannt und seitdem versorgt worden" sei. "Die heute zu beobachtenden Verhaltensstörungen sind typisch für unversorgte schwerhörige Kinder, ... Intellektuell kann mit einer durchaus durchschnittlichen Leistungsfähigkeit gerechnet werden."
Hingegen ging der Neurologe und Psychiater J in einem ärztlichen Bericht vom 09.06.1987 davon aus, dass beim Kläger eine geistige Behinderung mit einer Retardierung entsprechend einem drei- bis vierjährigen Kind und zusätzlich noch eine Sprachbehinderung und eine Hörminderung bestünden. Der Kläger zeige zeitweilig ein etwas unsicheres, ataktisches Gangbild. Die geistigen Schäden seien "sicher" Folge eines Down-Syndroms. Dagegen stellte die HNO-Klinik der Universität U am 06.12.1988 eine hochgradige Innenohrschwerhörigkeit beidseits (bei gegenüber 1985 unverändertem Hörvermögen) fest. Die beiden Hörgeräte seien optimal angepasst, so der Bericht.
In der Folgezeit erwarb der Kläger den qualifizierten Hauptschulabschluss und nahm im August 1990 eine Berufsausbildung zum Industrieanlagenelektroniker auf; diese schloss er im Februar 1994 mit Erfolg ab. Anschließend war er zunächst erwerbstätig. Ab Beginn der 2000er Jahre kam es jedoch zu einer zunehmenden psychischen Dekompensation. Ab dem Jahr 2004 war der Kläger arbeitslos, ab Juni 2006 erhielt er Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Im Entlassungsbericht der Psychiatrischen Klinik L vom 01.09.2005, in der sich der Kläger erstmals vom 22.06.2005 bis 04.08.2005 aufgehalten hatte, ist die Angabe des Klägers enthalten, sein Hauptziel sei der Kampf gegen die Ämter, von denen der Impfschaden anerkannt werden solle, um eine entsprechende Rente zu erhalten. Der Kläger sei sehr auf dieses Thema fixiert und verweise immer wieder auf seinen umfangreichen Aktenordner, in dem er alle relevanten Unterlagen aufgenommen habe, so der Bericht. Es bestünden Hinweise auf Beeinträchtigungserleben; eine Wahnwahrnehmung sei nicht auszuschließen, so der Bericht. Auch im Laufe der stationären Behandlung sei der Kläger gedanklich ausgeprägt auf das Thema seiner real gegebenen Impfschädigung eingeengt. Alle therapeutischen Interventionen hätten letztlich nur eine geringe Distanzierung zum wahnhaft verarbeiteten Inhalt der Impfbenachteiligung geschaffen. Zunächst sei er gedanklich rund um die Uhr damit beschäftigt gewesen, dass die Impfung sein Leben wie auch das Leben seiner Partnerin zerstört habe. Im Verlauf der Behandlung sei der Kläger etwas weniger angespannt geworden und sei weniger aggressiv aufgetreten. Als Abschlussdiagnosen sind wahnhafte Störung (Differenzialdiagnose: paranoide Psychose) und beidseits Hörverlust durch Schallempfindungsstörung gestellt worden.
Der Kläger war auch weiterhin wegen einer chronischen paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie in nervenärztlicher Behandlung (vgl. z.B. Entlassungsbericht des Universitätsklinikums M vom 27.01.2014).
Unter dem 31.12.2005 haben die Eltern des Klägers, R A und L A, B, Stellung genommen. Sie haben folgende Erklärung unterzeichnet:
" hat sich bis zur Impfung völlig normal entwickelt. Er war vergnügt und aufgeschlossen und hat auch auf Geräusche wie Musik und das Zufallen von Türen usw. reagiert. Er hat gelacht und hat aktiv an seinem Umfeld teilgenommen. Er hatte Freude daran, sich in seiner Kindersprache zu artikulieren. Nach der Impfung vom 24.01.1975 war dies vorbei. Er war stets unruhig und hat ständig stark und laut geweint und dies auch über Stunden hinweg, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, so dass ich nachts aus dem Schlafzimmer ausziehen musste, um Ruhe zu finden, da ich wieder zur Arbeit musste. Er hatte Fieber und hat über längere Zeit alles gespuckt, was er zu sich genommen hat. war zeitweise in einem sehr schlechten Zustand. Nach der Impfung war nichts mehr so wie vorher.
Es ist regelrecht zu einem Abbruch in der Entwicklung gekommen.
Er lag apathisch in seinem Bettchen irgendwie gelähmt und hat nicht mehr nach seinen Spielsachen gegriffen und hat auch nicht mehr unbeschwert gelacht, wie es vorher der Fall war. Das Ausprobieren der Stimme, das kindliche Lallen, alles war hier beendet. Wir haben natürlich gemerkt, dass sich unser Kind nicht weiter normal entwickelt und sind deshalb öfters bei unserem Hausarzt vorstellig geworden. Dieser hat versucht, unsere Angst zu zerstreuen und uns aufgefordert, abzuwarten.
Nachdem sich die Situation nicht besserte und wir vom Hausarzt auch keine Hilfe mehr erwarteten, haben wir das Kind dann in weiteren Fachkliniken und beim Neurologen untersuchen lassen.
Der Neurologe stellte eine Sprachstörung wegen eines perinatalen Hirnfehlers fest.
Auf Anraten des behandelnden Arztes wurde in der Klinik M eine symmetrische hochgradige Innenohrschwerhörigkeit festgestellt.
Siehe Arztbrief vom 15.02.1979."
U.a. auch nach Auswertung des nervenärztlichen Gutachtens von S1 des Versorgungsamts Köln vom 02.03.2006 und nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme von S2 lehnte der Beklagte schließlich mit Bescheid vom 22.09.2006 den Antrag des Klägers auf Versorgung nach dem IfSG ab, weil "bei den heutigen Impfstoffen", die bei einer Polioschutzimpfung Verwendung finden würden, keine Impfschäden zu erwarten seien. Zudem sei den vorliegenden Arztbriefen von 1977 und 1979 zu entnehmen, dass die ausbleibende Sprachentwicklung allmählich zutage getreten sei. Die Angaben der Eltern des Klägers hierzu in der Stellungnahme vom 31.12.2005 stünden mit den dokumentierten Befunden nicht im Einklang. Ein zunächst hiergegen erhobener Widerspruch wurde später zurückgenommen.
Am 10.10.2007 beantragte der Kläger, den Bescheid vom 22.09.2006 nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) aufzuheben und einen Anspruch nach dem IfSG wegen eines Impfschadens anzuerkennen. Mit am 22.04.2008 beim Beklagten eingegangenem Schreiben nahm die (rechtliche) Betreuerin des Klägers den Antrag auf Rücknahme des Bescheids vom 22.09.2006 zurück. Mit Schreiben vom 20.04.2009, das am 22.04.2009 beim Beklagten einging, stellte der Kläger über die heutigen Bevollmächtigten den Antrag auf Überprüfung im Sinne von § 44 SGB X erneut. Es wurde u.a. darauf hingewiesen, dass eine Verhaltensänderung von den Erziehungsberechtigten erst nach Durchführung der Impfung festgestellt worden sei. Aus diesen Tatsachen werde der Schluss abgeleitet, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Impfung und Schädigung vorliegen müsse.
Mit Beschluss vom 29.06.2010 hob das Amtsgericht München die Betreuung auf und stellte das Betreuungsverfahren ein. Nach Angaben des Klägers im Erörterungstermin des Senats im März 2023 besteht seit damals keine Betreuung mehr.
Mit Schreiben vom 29.11.2010 beantragte der Kläger u.a. die Erstellung eines Gutachtens "auf tatsächlicher wissenschaftlicher Grundlage". Es liege kein Gutachten vor, das genau ausweise, welche Stoffe ihm konkret bei den Impfungen in welchen Gesundheitszustand und trotz möglicher versteckter Kontraindikationen gespritzt worden seien. Einziger Zweck von Gutachten, in denen "noch nicht einmal ganz konkret diejenigen Bestandteile ausgewiesen werden, die tatsächlich gespritzt worden sind", sei die vorsätzliche Verhinderung der Erforschung der Wahrheit.
Mit Bescheid vom 09.12.2010 lehnte der Beklagte den Antrag nach § 44 SGB X ab. Begründet wurde dies damit, dass der Kläger keine neuen Tatsachen oder Erkenntnisse vorgetragen habe, welche eine erneute inhaltliche Sachverhaltsprüfung rechtfertigen würden. Das Schreiben vom 29.11.2010 richte sich hauptsächlich gegen Impfungen im Allgemeinen. Zu dem verabreichten Impfstoff Sabin sei bereits im Bescheid vom 22.09.2006 Stellung bezogen worden. An der Bestandskraft des Bescheids vom 22.09.2006 sei festzuhalten.
Hiergegen erhob der Kläger am 30.12.2010 Widerspruch. In dem sehr umfangreichen Schreiben beantragte der Kläger u.a. "eine sorgfaltspflichtige Ermittlung von Amts wegen, ob die Voraussetzungen des § 61 IfSG vorliegen, im Rahmen der Nachbesserung der bisher unterlassenen sorgfältigen Amtsermittlung". Der Kläger hat auf die nach seiner Ansicht unrichtige Anwendung des Rechts im Sinne von § 44 SGB X hingewiesen. Die zum Impfstoff Sabin erfolgten Stellungnahmen in dem Bescheid vom 22.09.2006 seien vollkommen aussage- und bedeutungslos. Über Bestandteile und (toxische) Impfzusatzstoffe enthalte der Bescheid keine Aussage. Der Beklagte bringe als Ablehnungsbegründung ausschließlich Nichtwissen vor. Der Kläger hat auf die mangelnde Erfüllung der staatlichen Fürsorge- und Sorgfaltspflicht und die Unterlassung der finanziellen Förderung einer von Drittinteressen unabhängigen Impfschadensforschung hingewiesen. Weiter hat er u.a. hervorgehoben, dass der Beklagte nie dargelegt habe, worin die behauptete Unvereinbarkeit zwischen den Angaben des Klägers und den Angaben der Eltern über die Entwicklung des Klägers bestehen solle. Auch habe, so der weitere Vortrag des Klägers, der Beklagte die Tetanusimpfung, nach der die vollständige Taubheit eingesetzt habe, verschwiegen. Der Kläger hat "eine schwere durch staatliche Gewalten vollzogene Verletzung der Würde von Menschen" festgestellt.
Nach der ersten Gabe des Polioimpfstoffes im Jahr 1974 seien keine erkennbaren körperlichen Veränderungen in Erscheinung getreten, was nicht bedeute, dass keine körperlichen Veränderungen verursacht worden seien. Nach der zweiten Gabe am "24.01.1995" (gemeint wohl: 1975) seien plötzlich Veränderungen aufgetreten, nämlich Apathie, lähmungsähnliche Erscheinungen und mangelnde Aktivität, Verlust der Unbeschwertheit und Unterlassung der Experimente nach dem Gebrauch der Stimme. Es sei der Abbruch der bisherigen normalen Entwicklung wahrgenommen worden, so der Kläger. Die körperlichen Veränderungen hätten sich bis zur Gabe des gesamten Tetanusimpfstoffes 1978 entfaltet. Nach der Verabreichung dieses "gesamten" Impfstoffes (also der medizinisch wirksamen Bestandteile und der sogenannten Zusatzstoffe) habe sich das Hauptsymptom der leichten bis mittelgradigen Innenohrschwerhörigkeit zur vollständigen Taubheit verschlechtert.
In der versorgungsärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage von K vom 03.03.2011 wurde darauf hingewiesen, dass eine in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung vom 24.01.1975 aufgetretene neurologische Symptomatik oder ein Entwicklungsknick weder aus den Berichten von B noch von S hervorgehen würden. Im Arztbrief der HNO-Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität M vom 15.02.1979 sei die Diagnose einer nahezu symmetrischen hochgradigen Innenohrschwerhörigkeit gestellt und in der Anamnese beschrieben worden, dass es sich bekannterweise um eine stark verzögerte Sprachentwicklung bei Verdacht auf hochgradige Schwerhörigkeit beidseits handele. Diese Darstellung weise darauf hin, dass bereits vor dem stationären Aufenthalt Anfang 1979 und auch vor der Tetanusimpfung (am 27.12.1978) eine hochgradige Schwerhörigkeit mit einer Störung des Spracherwerbs bestanden habe, auch wenn die sichere Diagnose erst Anfang 1979 gestellt worden sei.
Bei dem verabreichten Sabin-Impfstoff handele es sich um einen Lebendimpfstoff gegen Poliomyelitis, der in seltenen Fällen eine Impfpoliomyelitis oder eine Meningoenzephalitis verursachen könne. Eine klinische Symptomatik, die zu einer Poliomyelitis oder einer Meningoenzephalitis passe, sei aber vorliegend nicht beschrieben worden.
Beim Tetanusimpfstoff seien im Epidemiologischen Bulletin des Robert-Koch-Instituts Nr. 25/2007 vom 22.06.2007 (S. 227) als Komplikationen Erkrankungen des peripheren Nervensystems (Mono- und Polyneuritis, Guillain-Barre-Syndrom, Neuropathie) berichtet worden, jedoch keine Schwerhörigkeit. Auch bei Zusatzstoffen wie Thiomersal und Aluminium-Adjuvanzien seien keine Hörstörungen als Komplikation aufgeführt; K hat auf das Epidemiologische Bulletin des Robert-Koch-Instituts Nr. 25/2007 vom 22.06.2007 (S. 230 bis 232) verwiesen.
Aufgrund der ärztlichen Dokumentationen und der Literatur lasse sich ein kausaler Zusammenhang zwischen den geltend gemachten Impfungen und der vorliegenden Symptomatik nicht nachweisen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 10.03.2011 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung des Bescheids hat er sich entsprechend der Darlegungen von K geäußert. Ein zeitlicher Zusammenhang der aufgetretenen Symptomatik mit der Impfung vom 24.01.1975 gehe aus den Unterlagen nicht hervor, ein ursächlicher Zusammenhang sei eindeutig zu verneinen.
Am 01.04.2011 hat der Kläger hiergegen Klage zum Sozialgericht (SG) Augsburg erhoben. Mit Beschluss vom 18.10.2011 hat das SG Augsburg den Rechtsstreit an das örtlich zuständige SG München verwiesen.
Im Schriftsatz vom 23.10.2013 haben die Bevollmächtigten des Klägers erneut auf die Angaben der Eltern vom 31.12.2005 (s.o.) und auf den Befundbericht der Universitätsklinik T vom 20.10.1978 verwiesen. Dieser Befundbericht, der vor der Tetanusimpfung erstellt worden sei, gehe von einer etwaigen nur leichten bis mittelgradigen Hörbehinderung aus. Es wäre somit durchaus im Bereich des Möglichen, dass es infolge der bestehenden Schädigung (eventuell durch die Impfung vom 24.01.1975) zu einer weiteren Schädigung durch die Tetanusimpfung (27.12.1978) gekommen sei.
Am 15.04.2014 hat ein Termin des SG zur Erörterung des Sachverhalts und zur Beweisaufnahme stattgefunden. In dem Termin sind die Eltern des Klägers, L und R A, als Zeugen einvernommen worden.
Sodann hat das SG K mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Im Gutachten vom 27.06.2014 hat der Sachverständigen betont, dass (auch im Hinblick auf die abgelaufenen Aufbewahrungsfristen für medizinische Unterlagen) ausschließlich die Angaben der Eltern zur Verfügung stünden. Wegen des langen zurückliegenden Zeitraums sei nicht verwunderlich, dass deren Erinnerungen unscharf bzw. differierend seien.
Im Hinblick auf andere Ursachen für die Hörbehinderung hat der Sachverständige Fehlbildungen oder Tumore im Felsenbeinbereich wegen der Röntgenaufnahmen ausgeschlossen. Unter Zuhilfenahme der in den Arztberichten enthaltenen somatischen und neurologischen Befunde sowie der vorliegenden Fotos könne man 57 mit Hörbehinderung einhergehende Symptome ausschließen. Was übrig bleibe, so K, sei von einer hochqualifizierten Klinik wie der HNO-Klinik der Universität M im Rahmen der dortigen virologischen und serologischen Untersuchungen wohl ausgeschlossen worden; die Diskussion bleibe mangels jeden sonstigen Anhalts aber rein spekulativ.
In der Literatur seien vereinzelte seriöse Berichte über Hörschädigung oder Taubheit nach Polio-Schluckimpfung enthalten.
Was die Polio-Schluckimpfungen 1974 und 1975 betreffe, so bestünden hinsichtlich der Angaben der Eltern für das postvakzinale Geschehen gewisse Unstimmigkeiten bzw. Lücken. Wenn man diese und darüber hinaus - trotz wechselnder Fixierung auf die zweite sowie auf die erste und zweite Polio-Impfung und trotz fehlender exakter Datierung des Krankheitsbeginns - die spezifische Glaubhaftigkeit der Angaben über die postvakzinale Symptomatik und den weiteren Verlauf akzeptiere, werde man aus kinderneurologischer Perspektive feststellen, dass der Kläger mit überwiegender Wahrscheinlichkeit im Gefolge der Polio-Schluckimpfung vom 24.01.1975 (möglicherweise zusammen mit der schon am 15.11.1974 erfolgten Impfung) an postvakzinaler Encephalitis plus Hörschädigung erkrankt sei und dass die Hörschädigung plus Folgen bis heute anhaltend seien. Dass es postvakzinal nicht nur zu einer isolierten Hörschädigung (Innenohrschwerhörigkeit) gekommen sei, sondern passager auch zu einer postvakzinalen Encephalitis, ergebe sich aus der mitgeteilten Symptomatik. Diskutandi aber ohne zusätzlichen Beweiswert könnten dieser postvakzinalen Encephalitis passagere Restbefunde wie visuomotorische Defizite und intermittierende Ataxie sowie auffällige EEG-Dysrhythmien zugeordnet werden.
Im Hinblick auf die differierenden Befundergebnisse der Universitätskinderklinik T (Oktober 1978) und der Universität M (Januar/Februar 1979) und der dazwischenliegenden Tetanusimpfung werde Letztere vom Kläger als ursächlich für eine gravierende Verschlechterung einer zuvor im Gefolge der Polioimpfung eingetretenen leichten bis mittelgradigen Hörbehinderung angeschuldigt. Nach den vorliegenden Erkenntnissen über isolierte postvakzinale Mononeuritiden (hierunter auch solche von Hirnnerven, hierunter auch solche des Cochlearis-Systems bzw. Hörnervs) sei dies, so K, möglich. Allerdings sei anzumerken, dass zwischen den Untersuchungen in T und M ein erheblicher Qualitätsunterschied bestehe. In T sei anders als in M ein Audiogramm nur empfohlen, jedoch nicht angefertigt worden. Nur wenn man, so der Sachverständige, akzeptiere, dass in T 1978 noch ein Sprachverständnis vorhanden gewesen sei, werde man darauf schließen können, dass tatsächlich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die Tetanusimpfung als Ursache einer weiteren gravierenden Hörschädigung einzuordnen sei.
Mit Blick auf die von der Klägerseite thematisierten Impfzusatzstoffe (Aluminium- und Quecksilber-Verbindungen) hat K darauf hingewiesen, dass diese in dem Schluckimpfstoff (weil lebende Viren) nicht enthalten gewesen seien, jedoch im Tetanusimpfstoff. Allerdings sei die Dosis sehr niedrig. Darüber hinaus handle es sich um eine erste Tetanusimpfung bei einem Kind im Alter von bereits fünf Jahren mit entsprechend nennenswertem Körpergewicht. Darüber hinaus habe sich die STIKO mit dem Thema der beiden genannten Substanzen eingehend beschäftigt, sie komme im Epidemiologischen Bulletin vom 22.06.2007 (S. 230 ff.), zu dem Ergebnis, neurale Impfschäden durch Aluminium- und ebenso Quecksilberverbindungen seien abzulehnen.
Zusammenfassend hat K festgestellt, dass das Leiden des Klägers mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als Folge der Schluckimpfungen (speziell vom 24.01.1975) und der Tetanusimpfung (vom 27.12.1978) angenommen werden könne, wenn das SG "von der grundsätzlichen Glaubwürdigkeit der Eltern überzeugt" sei und "(trotz der Unschärfen) spezifische Glaubhaftigkeit ihrer Angaben zum postvakzinalen Geschehen" als gegeben ansehe. Akzeptiere man also den Vortrag der Eltern, so sei es Ende 1974/Anfang 1975 zur Symptomatik einer passageren Encephalitis sowie einer definitiven Hörschädigung gekommen; diese Symptomatik komme grundsätzlich als Impfschaden im Gefolge der Polio-Schutzimpfungen 1974/1975 in Frage. Akzeptiere man den Ambulanzbericht T 1978, so sei es Ende 1978/Anfang 1979 zu einer weiteren Verschlechterung der Hörverminderung gekommen, für deren Verursachung die Tetanusimpfung Ende 1978 in Frage komme.
Im Gefolge der beidseitigen schweren Hörstörung (praktische Taubheit) sei es zu passagerer Sprachentwicklungsstörung, später zu erheblichen sozialen, beruflichen und schließlich psychischen Problemen gekommen. Ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) für die Taubheit sei in Höhe von 80, für die psychischen Beeinträchtigungen von 50 gegeben. Zusammen ergebe dies einen GdS von 100.
In der versorgungsmedizinischen Stellungnahme von K vom 21.08.2014 hat dieser ausdrücklich festgestellt, dass die Anerkennung einer Encephalitis bzw. Neuritis als Schädigungsfolge der Impfungen in Frage komme, da in der Literatur in Übereinstimmung mit K nach Impfungen gegen Polio die Auslösung einer Encephalitis bzw. Neuritis beschrieben würde. Es sei jedoch, so K, die angegebene schrittweise Verschlechterung nach den einzelnen Impfungen ungewöhnlich.
Im Schriftsatz vom 26.08.2014 hat der Beklagte den Antrag, die Klage abzuweisen, aufrechterhalten. Aus Sicht des Beklagten würden die glaubhaften Zeugenaussagen der Eltern des Klägers nicht in Zweifel gezogen. Dass nach annähernd 40 Jahren von Seiten der Eltern nicht mehr in allen Punkten exakte kalendarische Daten hinsichtlich der Entwicklung des Klägers vorgetragen werden könnten, erscheine in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen K absolut plausibel. Doch sei eine gesundheitliche Schädigung durch die 1974 und 1975 durchgeführten Polioimpfungen weiterhin nicht ausreichend nachgewiesen. Gleiches gelte für eine gesundheitliche Schädigung durch die Tetanusimpfung im Dezember 1978, insbesondere da keine zuverlässigen Unterlagen und keine ärztlichen Befunde zum Gesundheitszustand des Klägers für die Zeit vor dieser Impfung vorliegen würden. So könne insbesondere über das Ausmaß einer offensichtlich bereits vorbestehenden Hörschädigung bei fehlenden Audiogrammen keine genaue Aussage getroffen werden.
In der mündlichen Verhandlung der erkennenden Kammer am 06.11.2014 sind die Eltern des Klägers, L und R A, erneut als Zeugen einvernommen worden. Mit Urteil vom 06.11.2014 (S 9 VJ 5/11) hat das SG München den Beklagten im Rahmen eines Zwischenurteils unter Aufhebung des Bescheids vom 09.12.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.03.2011 verurteilt, dem Kläger im Zusammenhang mit den Impfungen vom 15.11.1974 und 24.01.1975 (Polio-Impfungen) Impfschadensversorgung wegen hochgradiger, partiell an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit ab 01.05.2005 zu gewähren. Nach Urteilsverkündung hat das SG darauf verwiesen, dass mit diesem Zwischenurteil das laufende Verfahren (S 9 VJ 5/11) nicht beendet sei. Es sei jedoch sinnvoll, die Rechtskraft des Zwischenurteils abzuwarten und das Ruhen des Verfahrens anzuordnen.
In der schriftlichen Urteilsbegründung führte das SG im Wesentlichen aus, es sei zu seiner Überzeugung ein Gesundheits(erst)schaden im Gefolge der Impfungen vom 15.11.1974 und 24.01.1975 nachgewiesen. Der Kläger habe nach den glaubhaften Schilderungen seiner Eltern in den Terminen am 15.04.2014 und 06.11.2014 im Gefolge der genannten Impfungen Gesundheitsstörungen in Form von wiederholtem Fieber und Brechdurchfall und auch deutliche Verhaltensänderungen gezeigt. Glaubhaft hätten die Eltern des Klägers eine unauffällige Entwicklung des Klägers bis zu den stattgehabten Impfungen geschildert mit Reaktionen auf Musik etc. Das Gericht gehe nach den überzeugenden Ausführungen von K davon aus, dass es im Zusammenhang mit den Impfungen vom 15.11.1974 bis 24.01.1975 zum einen zu einer passageren Symptomatik einer Enzephalopathie gekommen sei und zum anderen zum Auftreten der Hörstörung.
Gegen das Urteil hat der Beklagte am 23.01.2015 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (BayLSG) eingelegt, die unter dem Az. L 15 VJ 1/15 erfasst worden ist. Nach seiner Auffassung könne aufgrund der Aussagen der Eltern des Klägers nicht der nach dem Gesetz geforderte Kausalzusammenhang hergestellt werden, so die Berufungsbegründung. Entsprechende ärztliche Befunde im Zusammenhang mit den angeschuldigten Impfungen - bzw. zeitnah nach diesen -, die entsprechende aus den Impfungen resultierende Gesundheitsstörungen belegen könnten, lägen nicht vor. Es seien wegen des geforderten engen zeitlichen Zusammenhangs exakte kalendarische Daten erforderlich. Die Aussagen der Eltern des Klägers würden einen solchen nicht stützen.
Mit Urteil vom 10.12.2018, das im schriftlichen Verfahren gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ergangen ist, hat der Senat auf die Berufung das Urteil des SG vom 06.11.2014 aufgehoben und den Rechtsstreit an das SG München zurückverwiesen, weil das Urteil des SG unauflösbare inhaltliche Widersprüche aufweise. Die Mängel würden einer endgültigen Entscheidung entgegenstehen und zur Unwirksamkeit des Zwischenurteils, das keine Rechtswirkungen entfalten könne, führen. Im Tenor habe das SG im Rahmen eines Zwischenurteils den Beklagten zur Gewährung einer Impfschadensversorgung ab 01.05.2005 verurteilt. In seinen Entscheidungsgründen habe es dagegen ausgeführt, nur im Rahmen eines Zwischenurteils über das Vorliegen eines Gesundheitsschadens zu entscheiden; die Feststellung eines Dauerschadens sei seitens des Beklagten in einem weiteren Verwaltungsverfahren zu klären und zu verbescheiden. Der Widerspruch lasse sich auch nicht im Wege einer Auslegung auflösen. Ein eindeutiges Ergebnis, worüber das SG entschieden habe, lasse sich auch unter Heranziehung des gesamten Urteils nicht erzielen. U.a. hat der Senat darauf hingewiesen, dass eine Aufrechterhaltung des Urteils als Teilendurteil (im Sinne von § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 301 Zivilprozessordnung) aufgrund der Widersprüchlichkeit von Tenor und Entscheidungsgründen und des Widerspruchs von Klageantrag zu Tenor nicht in Betracht komme. Ebenso scheide eine Auslegung als Zwischenurteil aus. Der Senat habe klarstellend die Zurückverweisung an das SG ausgesprochen (obwohl auch nach dem Willen des SG aufgrund des Zwischenurteils ein Teil des Verfahrens dort noch anhängig sei). Das SG werde daher über den gesamten Streitgegenstand in dem bislang ruhend gestellten Verfahren zu entscheiden haben.
Mit Beschluss vom 27.03.2019 hat das BSG die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des BayLSG vom 10.12.2018 (L 15 VJ 1/15) als unzulässig verworfen (B 9 V 7/19 B).
Weitere Ermittlungen hat das SG im wiedereröffneten Klageverfahren nicht mehr durchgeführt. Auch die in der mündlichen Verhandlung am 11.09.2019 anwesenden Eltern des Klägers sind nicht erneut als Zeugen einvernommen worden.
Mit Urteil vom 11.09.2019 (S 48 VJ 5/11) hat das SG den Bescheid vom 09.12.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.03.2011 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, den Bescheid vom 22.09.2006 zurückzunehmen sowie festzustellen, dass die beim Kläger bestehende hochgradige, partiell an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits mit Sprachentwicklungsstörungen Folge einer Impfschädigung sei und dem Kläger ausgehend davon ab 01.05.2005 Versorgungsleistungen nach dem IfSG einschließlich einer Versorgungsrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren seien. In den Entscheidungsgründen hat das SG dargelegt, aufgrund der Aufhebung des Urteils vom 06.11.2014 durch das BayLSG und Zurückverweisung des Rechtsstreits sei eine vollständig neue Entscheidung zu treffen. Die Frage, ob auch die aufgetretenen seelischen Beeinträchtigungen des Klägers Folge der hier streitigen Impfschädigung gewesen seien, sei nicht Gegenstand des Klageverfahrens, da dies bislang nicht Gegenstand eines Verwaltungsverfahrens gewesen sei.
Vorliegend seien die Voraussetzungen zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllt. Beim Kläger seien in einem engen zeitlichen Abstand zu den Polioimpfungen (vom 15.11.1974 und/oder vom 24.01.1975) nachweislich Krankheitserscheinungen aufgetreten, die es wahrscheinlich machen würden, so das SG, dass eine dieser Impfungen eine Schädigung des kindlichen Gehirns und in der Folge den Eintritt des nachgewiesenen Dauerschadens, nämlich die hochgradige, partiell an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits mit Sprachentwicklungsstörungen, verursacht habe. Die Primärschädigung stehe aufgrund der glaubhaften Aussagen der Eltern des Klägers fest. Diese stünden im Einklang mit dem Bericht der Universitätsklinik T vom 20.10.1978, aus dem hervorgehe, dass die Sprachentwicklung deutlich hinter dem zu Erwartenden zurückgeblieben sei. Die Angaben der Eltern seien glaubhaft und in keiner Weise schematisch, angelesen oder konstruiert. Die zeitliche Einordnung bleibe notwendigerweise vage, was der Glaubwürdigkeit aber keinen Abbruch tue. An der persönlichen Integrität der Zeugen bestehe keinerlei Zweifel, so das SG.
Unter Verweis auf das Gutachten von K hat das SG dargelegt, dass es sich bei den beschriebenen Symptomen um Anzeichen für eine Impfschädigung - insbesondere eine abgelaufene Encephalitis - handele, die geeignet sei, Hirnnerven und z.B. auch die Hörnerven zu schädigen. Dies räume grundsätzlich auch K des Beklagten ein. Eine solche postvakzinale Encephalitis entwickle sich nicht akut, so das SG, sondern subakut über viele Tage und Wochen. Im Übrigen sei unschädlich, dass die Zeugen nicht mehr mit Gewissheit sagen könnten, ob das Krankheitsgeschehen zwischen den Impfungen (15.11.1974 und 24.01.1975) oder nach der letztgenannten Impfung aufgetreten sei, da beide Alternativen im Ergebnis zu derselben rechtlichen Beurteilung führen würden, so dass die Voraussetzungen für eine Wahlfeststellung vorliegen würden.
Schließlich bestehe mit Wahrscheinlichkeit eine kausale Verbindung zwischen den genannten Impfungen, der Primärschädigung und dem beim Kläger bestehenden Dauerschaden. K erkenne vorliegend einen wahrscheinlichen Zusammenhang an; das SG sehe keinen Anlass, hiervon abzuweichen. Die stark auf eine Encephalitis hindeutende Symptomatik innerhalb der einschlägigen Inkubationszeit, der nachweisbare Entwicklungsknick und das Fehlen alternativer Erklärungsansätze seien bei aller statistischen Unwahrscheinlichkeit gewichtige Argumente für eine Ursächlichkeit der impfbedingten Einwirkung auf den kindlichen Organismus. Dem stehe auch nicht der Bericht der Universitätskinderklinik T vom 20.10.1978 entgegen, dem nur ein geringes Gewicht beizulegen sei.
Der GdS erreiche (auch ohne die Berücksichtigung möglicher psychischer Spätfolgen) ein rentenberechtigendes Maß (§ 31 Abs. 1 Satz 1 BVG); einen bestimmten GdS hat das SG nicht festgelegt. Daher seien dem Kläger Versorgungsleistungen nach dem IfSG einschließlich einer Versorgungsrente dem Grunde nach zuzusprechen. Hinsichtlich des Leistungsanspruchs des Klägers im Einzelnen werde der Beklagte auf der Grundlage der Entscheidung des SG einen rechtsbehelfsfähigen Ausführungsbescheid erlassen.
Am 07.10.2019 hat der Beklagte gegen das Urteil beim BayLSG Berufung eingelegt. Zur Begründung hat der Beklagte sowohl auf die materielle Rechtslage als auch die formalrechtliche Problematik von Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X abgestellt. Aufgrund der Aussagen der Eltern könne der erforderliche Kausalzusammenhang nicht hergestellt werden. Entsprechende ärztliche Befunde bzgl. der angeschuldigten Impfungen bzw. zeitnahe nach diesen lägen nicht vor. Der Beklagte halte zwar die Aussagen der Eltern durchaus für glaubhaft, dass diese in jungen Jahren des Klägers Veränderungen dessen Gesundheitszustands bemerkt hätten. Im konkreten Fall wären jedoch - wegen des geforderten engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen den angeschuldigten Impfungen und den Gesundheitsstörungen - entsprechende exakte kalendarische Daten erforderlich. Ohne diese könne der nach dem Gesetz geforderte Kausalzusammenhang nicht hergestellt werden. Vorliegend sei ein Impfschaden, insbesondere eine Primärschädigung, nicht nachgewiesen. Der Beklagte stimme nicht mit der Auffassung des SG überein, dass die zeitliche Einordnung im Abstand von Jahrzehnten notwendigerweise vage bleibe, was der Glaubwürdigkeit keinen Abbruch tue. Der Beklagte hat zudem einzelne Angaben der Zeugen hervorgehoben, deren Angaben nicht ausreichten, um einen Impfschaden als nachgewiesen zu erachten. Hinsichtlich der Problematik von § 44 SGB X hat der Beklagte auf die Rechtsprechung des Senats (z.B. Urteil vom 18.03.2013 - L 15 VK 11/11) verwiesen und betont, dass sich das SG über die Entscheidung des Beklagten nicht einfach hinwegsetzen und nicht den gesamten Sachverhalt einer wiederholten Sachprüfung unterziehen hätte dürfen, da der Beklagte (unter zutreffender Anwendung des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X) eine neue Sachentscheidung abgelehnt habe. Das Vorgehen des SG erweitere nicht den Prüfungsumfang für das BayLSG.
Im Schriftsatz vom 03.02.2020 hat der Beklagte darauf hingewiesen, dass Gegenstand des Überprüfungsantrags die Impfungen gegen Polio in den Jahren 1974 und 1975 gewesen seien; auch das SG habe diese Impfungen als streitgegenständlich bzw. maßgeblich angesehen. Das Gutachten von K sei aus formalrechtlichen Gründen nicht zu berücksichtigen.
Der Kläger hat im Berufungsverfahren auf die Gründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen. Mit Schriftsatz vom 22.11.2019 ist von der Klägerseite darauf hingewiesen worden, dass der Kläger erst infolge der Tetanusimpfung hochgradig, partiell an Taubheit grenzend schwerhörig geworden sei.
Mit Beschluss vom 07.04.2020 ist das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden. Auf Antrag des Klägers vom 05.03.2021 ist das Verfahren wieder fortgesetzt worden.
Am 21.03.2023 hat ein Erörterungstermin des Senats stattgefunden. Darin hat der Kläger auf Nachfrage erklärt, dass sein Hörvermögen im Verlauf der Zeit gleichbleibend schlecht gewesen sei. Die Beteiligten haben einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren gemäß § 124 Abs. 2 SGG zugestimmt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG München vom 11.09.2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Akten des Beklagten und des SG im vorliegenden Klageverfahren und im Verfahren S 9 VJ 5/11 beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakten L 15 VJ 5/19 sowie L 15 VJ 1/15, die allesamt Gegenstand der Entscheidung gewesen sind, Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Der Senat konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG.
Die zulässige Berufung ist auch begründet.
Das SG hat in dem angefochtenen Urteil vom 11.09.2019 zu Unrecht dem Begehren des Klägers entsprochen und die streitgegenständlichen Verwaltungsakte (Bescheid vom 09.12.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.03.2011) aufgehoben und den Beklagten verurteilt, den Ablehnungsbescheid vom 22.09.2006 zurückzunehmen sowie die hochgradige, partiell an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits mit Sprachentwicklungsstörungen als Folge einer Impfschädigung festzustellen sowie ab 01.05.2005 hierfür Versorgungsleistungen nach dem IfSG einschließlich einer Versorgungsrente zu gewähren.
Der Beklagte ist nicht verpflichtet, im Rahmen des Überprüfungsverfahrens gemäß § 44 SGB X den Ablehnungsbescheid vom 22.09.2006 zurückzunehmen. Dieser ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung eines Impfschadens und eine Versorgungsrente.
1. Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, ob der genannte Ablehnungsbescheid rechtswidrig und daher gemäß § 44 SGB X zurückzunehmen war. Dabei ist entgegen der Auffassung des Beklagten auch eine Prüfung unter materiellen Aspekten durchzuführen. Zwar hat der Beklagte zu Recht auf die früher zum Tragen gekommene Rechtsprechung des Senats zum begrenzten Prüfungsrahmen von § 44 SGB X hingewiesen. Vorliegend ist die vollständige Überprüfung im gerichtlichen Verfahren jedoch bereits deshalb eröffnet, weil der Beklagte zwar nicht im Überprüfungs-, jedoch dann im Widerspruchsbescheid vom 10.03.2011 in die Sachprüfung eingestiegen ist (vgl. die Urteile des Senats vom 27.03.2015 - L 15 VK 12/13 - und vom 26.09.2017 - L 15 VS 14/14).
2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Beschädigtenrente wegen der geltend gemachten Schädigungsfolgen, die er auf die angeschuldigten Impfungen zurückführt.
a. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG beurteilen sich Inhalt und Wirkung sozialrechtlicher Ansprüche nach dem Recht, das zur Zeit des anspruchsbegründenden Ereignisses oder Umstandes gegolten hat, sofern nicht später in Kraft gesetztes Recht ausdrücklich oder sinngemäß etwas anderes bestimmt (Grundsatz des intertemporalen Rechts, vgl. nur BSG, Urteil vom 26. November 1991 - 1 RK 22/91). Rechtsänderungen erfassen danach auch bereits begonnene, aber noch nicht vollendete Sachverhalte. Soweit keine besondere Übergangsregelung vorhanden ist, ist der Fall zeitabschnittsbezogen anhand sämtlicher Gesetzesfassungen zu prüfen, die sich seit dem ersten Entstehen des Anspruchs in Kraft befunden haben (BayLSG, Urteil vom 11.07.2017 - L 15 VJ 6/14).
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG in der zum Zeitpunkt der vorliegenden Antragstellung geltenden Fassung vom 20.07.2000 erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die (1.) von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, (2.) auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde, (3.) gesetzlich vorgeschrieben war oder (4.) auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. § 60 IfSG in der Fassung vom 28.05.2021 hat eine Änderung lediglich insoweit erfahren, als zusätzlich eine Nr. 1a eingeführt wurde, die Impfungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 betrifft.
Nach § 2 Nr. 11, 1. Halbsatz IfSG in der bis heute unverändert geltenden Fassung vom 20.07.2000 ist der Impfschaden definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung.
Die Anerkennung als Impfschaden setzt eine dreigliedrige Kausalkette voraus (BSG, Urteil vom 25.03.2004 - B 9 VS 1/02 R; BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 9 V 3/13 R): Ein schädigender Vorgang in Form einer "Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe", der die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllt (1. Glied), muss zu einer "gesundheitlichen Schädigung" (2. Glied), also einem Primärschaden in Form einer Impfkomplikation geführt haben, die wiederum den "Impfschaden", d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also den Folgeschaden (3. Glied) bedingt.
Diese drei Glieder der Kausalkette müssen - auch im Impfschadensrecht - im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein (ständige Rspr., vgl. BSG, Urteile vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R - und vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R; BayLSG, Urteil vom 25.07.2017 - L 20 VJ 1/17; Hessisches LSG, Urteil vom 26.06.2014 - L 1 VE 12/09; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.07.2016 - L 13 VJ 19/15). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist jedoch ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R) und somit eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit vorliegt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92).
Zwar hat der erkennende Senat in seiner früheren Rechtsprechung auf das Erfordernis des Vollbeweises in Bezug auf den Primärschaden (vorübergehend) verzichtet (vgl. das Urteil des Senats vom 31.07.2012 - L 15 VJ 9/09). Diese Rechtsprechung hat der Senat vor dem Hintergrund der gesetzlichen Vorgaben und der höchstrichterlichen Rechtsprechung jedoch bereits mit Urteil vom 26.03.2019 - L 15 VJ 9/16 - ausdrücklich aufgegeben (vgl. auch das Urteil des Senats vom 02.07.2019 - L 15 VJ 4/16).
Das Erfordernis eines Vollbeweises in Bezug auf alle drei Glieder der Kausalitätskette entspricht auch der Rechtsprechung des BSG im wesensverwandten Recht der gesetzlichen Unfallversicherung. Auch dort muss der unmittelbar nach dem schädigenden Vorgang vorliegende Gesundheitsschaden (sog. "Erstschaden") im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen sein (vgl. nur Urteile des BSG vom 24.07.2012 - B 2 U 9/11 R - und B 2 U 23/11 R; BayLSG, Urteil vom 25.07.2017 - L 20 VJ 1/17).
Die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs zwischen den drei Gliedern der Kausalitätskette folgt, wie ansonsten im Versorgungsrecht auch, der Theorie der wesentlichen Bedingung (ständige Rspr. des BSG, vgl. z.B. Urteile vom 23.11.1977, Az.: 9 RV 12/77, vom 08.05.1981, Az.: 9 RV 24/80, vom 20.07.2005, Az.: B 9a V 1/05 R, und vom 18.05.2006, Az.: B 9a V 6/05 R). Diese beruht auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie: Danach ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Als rechtserheblich werden allerdings nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben.
Für den ursächlichen Zusammenhang zwischen den drei Gliedern der Kausalkette reicht nach § 61 Satz 1 IfSG der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit aus. Die Beweisanforderung der Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität zwischen dem ersten und dem zweiten Glied der Kausalitätskette als auch für den Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität zwischen dem zweiten und dem dritten Glied (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R). Die vom BSG früher vertretene Rechtsauffassung, dass für die haftungsbegründende Kausalität ebenfalls der Beweismaßstab des Vollbeweises zu fordern wäre (so BSG, Urteil vom 24.09.1992 - 9a RV 31/90 - juris), hat das BSG inzwischen längst ausdrücklich aufgegeben (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R).
Eine potentielle, versorgungsrechtlich geschützte Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977 - 10 RV 15/77), also mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spricht (vgl. BSG, Urteile vom 19.08.1981 - 9 RVi 5/80, vom 26.06.1985 - 9a RVi 3/83, vom 19.03.1986 - 9a RVi 2/84, vom 27.08.1998 - B 9 VJ 2/97 R - und vom 07.04.2011 - B 9 VJ 1/10 R). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße - abstrakte oder konkrete - Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 26.11.1968 - 9 RV 610/66, und vom 07.04.2011, a.a.O.).
Kann eine Aussage zu einem wahrscheinlichen Zusammenhang nur deshalb nicht getroffen werden, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kommt die sogenannte Kann-Versorgung gemäß § 60 Abs. 1 IfSG i.V.m. § 61 S. 2 IfSG in Betracht.
Lässt sich der Vollbeweis in Bezug auf die drei Glieder der Kausalitätskette nicht führen oder der Ursachenzusammenhang zwischen den drei Gliedern der Kausalitätskette nicht wahrscheinlich machen und auch über die Kann-Versorgung nicht herstellen, so geht die Nichterweislichkeit der Tatsache bzw. des Ursachenzusammenhangs nach den allgemeinen Regeln der Beweislast zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs hierauf stützen will, vorliegend also zu Lasten des Klägers (s. auch unten).
b. Ausgehend von diesen Grundsätzen, kann sich der Senat nicht davon überzeugen, dass beim Kläger ein Impfschaden vorliegt. Vorliegend fehlt es am Nachweis einer Primärschädigung als zweites Glied der dreigliedrigen Kausalkette.
An diesem Erfordernis ist nach der ständigen jüngeren Rechtsprechung des Senats festzuhalten (s.o.). Insbesondere ist es nicht Aufgabe der Gerichte, hier zur Erleichterung des Zugangs zu Sozialen Entschädigungsleistungen für Impfschäden entgegen der gesetzlichen Systematik des Sozialen Entschädigungsrechts von geminderten Voraussetzungen auszugehen. Hier in dem genannten Sinne Abhilfe zu schaffen, wäre Aufgabe des Gesetzgebers. Einem solchen Ansinnen ist der Gesetzgeber jedoch gerade nicht gefolgt und hat bei der Fassung des ab 01.01.2024 geltenden § 24 SGB XIV an der bisherigen eingrenzenden Systematik (sowie auch an den Begrifflichkeiten des IfSG) ohne inhaltliche Änderung festgehalten und sie ins neue Soziale Entschädigungsrecht übertragen (vgl. z.B. Karl, in: Schmidt, SGB XIV, § 24, Rdnr. 64 ff.). Das Vorliegen der Primärschädigung muss (nach wie vor) positiv im Vollbeweis festgestellt werden (vgl. Karl, a.a.O., Rdnr. 70, m.w.N.).
Dieser Nachweis ist im Fall des Klägers nicht erbracht.
Vorliegend kann nicht die Rede davon sein, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen einer Primärschädigung (eines "Impfschadens") zweifeln würde im Sinne des notwendigen Vollbeweises. Vielmehr sind die genauen Umstände um das Auftreten von Beschwerden im zeitlichen Ablauf - trotz der Bemühungen des Beklagten und auch des SG wie des Senats - nicht vollständig und auch nicht im Wesentlichen geklärt. Weiterer Aufschluss ist auch nicht möglich,
Zwar steht aufgrund des Sachverständigengutachtens von K fest, dass eine postvakzinale Encephalitis oder auch Mononeuritiden als Primärschädigung bzw. als Ursache für die geltend gemachte Schädigungsfolge in Betracht kommen können. Auf die grundsätzlichen Kausalitätserwägungen, die zwischen den Beteiligten nicht streitig sind, kommt es vorliegend nicht an.
Dass eine postvakzinale Encephalitis oder Mononeuritiden im - auch zeitlichen - Zusammenhang mit der Impfung beim Kläger vorlagen, lässt sich aber nicht ohne doch größere Zweifel feststellen.
Was den zeitlichen Zusammenhang zwischen den Impfungen und dem erstmaligen Auftreten der Symptome anbetrifft, so gilt freilich, dass allein ein solcher keinen Kausalzusammenhang im Sinne des IfSG begründen könnte (für Viele vgl. z.B. die Urteile des Senats v. 14.12.2021 - L 15 VJ 4/13 - und des LSG Niedersachsen-Bremen v. 23.02.2021 - L 10 VE 1/17). Umgekehrt müssen aber gewisse zeitliche Rahmen eingehalten sein. Ein Auftreten von Symptomen darf (entsprechend der tatsächlichen Umstände im jeweiligen Einzelfall) keinen zu großen, aber auch keinen zu knappen zeitlichen Abstand zur Impfung aufweisen, damit von einer Impfkomplikation ausgegangen werden kann. Welches Zeitintervall für die pathologische Reaktion nach Impfstoffanwendung plausibel ist, muss im Einzelnen geklärt sein (vgl. das Urteil des Senats v. 02.07.2019 - L 15 VJ 4/16 -, in dem ein Intervall von 28 Tagen bzgl. einer aufgrund Neuritis/Neuropathie vermittelten Hörstörung als Maximum angesehen wurde). Somit sind zwar - anders als der Beklagte meint - keine ganz exakten (taggenauen) Angaben (mit Datumsangaben) erforderlich. Es muss aber klar sein, ob das jeweils maßgebliche Zeitintervall eingehalten ist. Hiervon kann im Fall des Klägers nicht die Rede sein.
Die Primärschädigung, hier also die postvakzinale Encephalitis oder Mononeuritiden, kann grundsätzlich vor allem aufgrund medizinischer Unterlagen und Erkenntnisse sowie durch Belege und Aussagen zu entwicklungsgeschichtlichen Ereignissen in der Person des Geimpften nachgewiesen werden; hiermit korrespondiert die Pflicht zu Tatsachenfeststellungen (vgl. Meßling, in: Knickrehm/Rademacker, Sozialgesetzbuch XIV Soziale Entschädigung, § 24 SGB XIV, Rn. 105). Dabei sind gerade bei Fragen der Primärschädigung auch die Eltern oder andere Personen aus der Umgebung des Betroffenen zu hören (vgl. a.a.O.).
Im Fall des Klägers liegen im Wesentlichen nur die Aussagen der Eltern vor und es sind aussagekräftige oder sogar "eindeutige" medizinische Unterlagen nicht vorhanden. Trotz der durchgeführten Ermittlungen (des Beklagten und im gerichtlichen Verfahren) ist vorliegend die Feststellung einer postvakzinalen Encephalitis oder von Mononeuritiden als Impfkomplikation nicht ohne erhebliche Zweifel möglich:
a. Dies gilt gerade für die am 27.12.1978 verabreichte Tetanusimpfung. Es ist schon in keiner Weise dargetan, dass hier irgendwelche anderen Symptome als das Hörvermögen betreffende erkennbar gewesen wären. Die von den Eltern geschilderten Auffälligkeiten ("Abbruch der Entwicklung" - kränklich, vermehrtes Schreien, viel Spucken, unruhig etc.) beziehen sich auf frühere Zeiträume.
Die (weitere) Beeinträchtigung des Hörvermögens des Klägers stellt jedoch nicht eine primäre Schädigung, sondern die Schädigungsfolge dar. Dies genügt nicht zum Nachweis des erforderlichen zweiten Glieds der dreigliedrigen Kausalkette (s. oben). Zudem wäre in keiner Weise belegt, dass sich das Hörvermögen nach der Tetanusimpfung erheblich verschlechtert hätte. Dies erscheint zwar nicht völlig ausgeschlossen. K hat jedoch ausdrücklich auf den erheblichen Qualitätsunterschied zwischen den Untersuchungen in T und denen in M hingewiesen (s. im Einzelnen oben). Wie auch der Beklagte (K, s.o.) nachvollziehbar hervorhebt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die schwere Hörstörung bereits vorher bestanden hat. Der Kläger hat zwar im Verfahren Gegenteiliges behauptet; hierfür gibt es jedoch keine belastbaren Anhaltspunkte.
b. Was die Polio-Schluckimpfungen betrifft, so stehen den Angaben der Eltern des Klägers, wie auch der Beklagte zu Recht darauf hingewiesen hat, keine Zweifel an deren Integrität und grundsätzlichen Glaubwürdigkeit entgegen. Im Großen und Ganzen geht aus den Angaben der Eltern hervor, dass sie sich nicht mehr genau erinnern können. Dies bezweifelt auch der Senat in keiner Weise.
Wie der Beklagte jedoch in der Berufungsbegründung zutreffend darauf hingewiesen hat, genügen die ungenauen Angaben nicht, um hier den Nachweis im o.g. Sinn für die im Zusammenhang mit den Impfungen aufgetretenen Gesundheitsstörungen des Klägers zu führen. Zwar sind wie ausgeführt keine in letzter Konsequenz exakten kalendarischen Daten (im Sinne exakter taggenauer Angaben) erforderlich. Die ungefähren Angaben der Eltern im vorliegenden Verfahren können jedoch nicht genügen.
Zwar ist dem SG durchaus zuzustimmen, dass exakte Erinnerungen nach so langer Zeit nicht mehr möglich sein dürften. Das Fehlen solcher ist aber nur bei der Annahme unschädlich, dass die beobachteten Gesundheitsstörungen auf jeden Fall mit den Impfungen zu tun haben mussten. Bei einer solchen Annahme bedarf es jedoch keines Nachweises mehr, so dass die Aussagen dann nichts wert sein würden.
Die ungenauen, teilweise auf Vermutungen beruhenden Angaben der Eltern können zur Nachweiserbringung im o.g. Sinne nicht genügen. Die Zeugin hat (bei ihrer Einvernahme am 15.04.2014) bzgl. der Beobachtung nach der ersten Impfung (15.11.1974) angegeben, dass ihr Sohn dann kränklich gewesen sei und vermehrt geschrien habe. Aber sie hat dies dahingehend eingeschränkt, dass das schon lange her sei und sie sich nicht mehr genau erinnern könne. Ihre Erklärungen, dass, "wenn die Impfung im November 1974 gewesen" sei, ihre Angabe dann auf diesen Zeitraum zutreffe, kann aber nicht überzeugen. Sie ist viel zu vage, worauf der Beklagte zu Recht hingewiesen hat. Auch erklärt sie nicht plausibel, warum sich die Zeugin erinnert, dass es nach der Impfung gewesen sei. Jedenfalls reicht die Aussage nicht aus, um einen Impfschaden als nachgewiesen zu betrachten. Entsprechendes ist auch zur Aussage des Zeugen festzustellen, er könne keine besondere Situation, bei der ihm eine Veränderung bzgl. der Geräuschwahrnehmung aufgefallen wäre, nennen. Auch die Angaben zur (zeitlichen) Wahrnehmung des schlechten Gesundheitszustands blieben im Wesentlichen ungenau.
Die Angaben der Eltern machen letztlich nicht klar, wann genau was abgelaufen ist. Es gibt sogar unterschiedliche Angaben der Eltern hinsichtlich der angeschuldigten Impfung, worauf der Beklagte ebenfalls zutreffend hingewiesen hat. Diese Defizite sind auch nicht deshalb weniger problematisch, weil - neben den (unzureichenden) Angaben aus der Erinnerung heraus - es Unterlagen bzgl. der betreffenden Zeiträume ermöglichen würden, das Bild zu einem aussagekräftigen Ganzen zu komplettieren. Dies gilt gerade auch für die in Frage stehenden "Encephalitis-Symptome", zu denen festgestellt werden muss, dass diese wenigstens teilweise doch auch unspezifisch gewesen sein dürften; letztlich kann damals - überspitzt formuliert - "alles Mögliche gewesen sein".
Der Senat verkennt freilich nicht, dass auch wegen der Angaben von K zu möglichen Alternativursachen für die Schwerhörigkeit die Wahrscheinlichkeit für einen Impfschaden durchaus etwas erhöht ist. Jedoch bleibt auch insoweit die Situation unklar, und die Erklärungen des Gutachters können auch hier nicht zur Nachweiserbringung einer Primärschädigung führen. Vor allem bleibt - auch hier letztlich Folge des Zeitablaufs - ungeklärt, welche Bemühungen damals bzgl. der Diagnosestellung entsprechender Erkrankungen unternommen worden sind. Es kann gut sein, dass insoweit hier keine Tests erfolgt sind oder diese nicht zur Kenntnis im Verfahren gelangt sind.
Neben den Angaben des Klägers und seiner Eltern gibt es keinerlei objektivierbare Unterlagen. Auch dies ist verständlich und Folge davon, dass die Interessen des Klägers bezüglich des Erhalts von Impfschadensentschädigung erst viele Jahrzehnte später verfolgt worden sind. Hieraus kann sich aber keine Beweiserleichterung ergeben.
Im Übrigen kann sich der Kläger auch nicht auf die Beweiserleichterung gemäß § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), die auch im Recht der Impfopferversorgung gilt (§ 64 Abs. 2 IfSG), berufen. Denn er befindet sich nicht unverschuldet in Beweisnot, da bereits wesentlich früher der Antrag auf Versorgung hätte gestellt werden können. Zudem ist die Vorschrift nicht einschlägig: § 15 KOVVfG erfasst nicht die Konstellation, dass Beweismittel wie hier Zeugen vorhanden sind und nur deren Aussagen nicht zur Nachweiserbringung ausreichen. Im Übrigen ermöglicht die genannte Vorschrift auch nicht, bei allen Angaben, die mit Entstehung, Art und Folgen der Schädigung zusammenhängen, den Beweismaßstab der guten Möglichkeit ausreichen zu lassen. § 15 KOVVfG ermöglicht lediglich, die Schilderung der Tatsachen des Antragstellers unter Umständen ausreichen zu lassen. Auf die Schilderungen des Klägers kann es hier jedoch wegen seines damals jungen Alters nicht maßgeblich ankommen. Eine noch weitere Ausdehnung der ohnehin schon mehrfach analog herangezogenen Vorschrift (vgl. das Urteil des Senats vom 21.04.2015 - L 15 VG 24/09 - zu § 6 Abs. 3 OEG) dürfte ausscheiden. Hierauf kommt es jedoch nicht streiterheblich an.
Es ist freilich andererseits auch nicht völlig auszuschließen, dass doch eine Primärschädigung im o.g. Sinn vorgelegen hat. Dafür fehlt es aber jedenfalls am notwendigen Beweis. Kann das Gericht bestimmte Tatsachen trotz Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht feststellen (non liquet), so gilt der Grundsatz, dass jeder die Beweislast für die Tatsachen trägt, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen (vgl. z.B. Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ders., SGG, 13. Aufl. 2020, § 103, Rdnr. 19a mit Nachweisen der höchstrichterlichen Rechtsprechung). Der Kläger muss daher nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast die Folgen daraus tragen, dass eine große Ungewissheit bezüglich der für ihn günstigen Tatsachen verblieben ist. Denn für das Vorliegen eines Impfschadens im Sinne einer Primärschädigung trägt der Anspruchsteller die objektive Beweislast (s.o.).
Zu weiteren Ermittlungen, insbesondere zu einer erneuten (dritten) mündlichen Zeugeneinvernahme sah sich der Senat nicht veranlasst. Insbesondere bestehen, wie dargelegt, an der Glaubwürdigkeit der Zeugen (auch) aus Sicht des Senats keine Zweifel. Es gibt auch nicht den geringsten Anhalt dafür, dass die Zeugen sich nun nach noch längerer Zeit plötzlich doch genauer an einzelne zeitliche Abläufe erinnern würden. Vor allem muss auch jeder Anschein vermieden werden, die Zeugen würden solange befragt werden, bis sie dem Anspruch dienliche Angaben machen.
Die Berufung hat nach alldem Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zahlung von Beschädigtenrente oder sonstigen Versorgungsleistungen durch den Beklagten.
Im Übrigen weist der Senat ergänzend darauf hin, ohne dass es hierauf entscheidungserheblich ankommen würde, dass das vom Beklagten angegriffene Grundurteil nicht vollständig die Voraussetzungen von § 130 Abs. 1 SGG erfüllt. Zwar ist der Beginn der ausgeurteilten Rente tenoriert und es sind auch Feststellungen zu den Schädigungsfolgen im Tenor enthalten (als Anspruchsvoraussetzung für eine Rente nach dem BVG). Jedoch fehlt es an der Bestimmung des GdS als eine notwendige Anspruchsvoraussetzung (vgl. hierzu das Urteil des LSG Baden-Württemberg v. 23.06.2016 - L 6 VG 4400/15). Es kann bei einem Grundurteil allein die Höhe der Leistung offengelassen werden, die sonstigen Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde nach und die Höhe der die Leistung bestimmenden Faktoren - wie der GdS - müssen jedoch auch beim Erlass eines Grundurteils geprüft und festgestellt werden (vgl. z.B. Berchtold, SGG, § 130 Rn. 5 und 6).
Das Urteil des SG ist aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 09.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2011 abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).