S 38 SO 6/24 ER

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
SG Lüneburg (NSB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
1. Instanz
SG Lüneburg (NSB)
Aktenzeichen
S 38 SO 6/24 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
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Datum
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3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Bei einem Zuständigkeitsstreit ist der erstangegangene Leistungsträger nach § 43 SGB I verpflichtet, vorläufig zu leisten, wenn Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund unstreitig bestehen. Weitere Ermittlungen betreffend die Zuständigkeit verbieten sich angesichts der Eilbedürftigkeit, wenn dies den Rechtsstreit verzögern würde.

1. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin im Wege des Eilrechtsschutzes vorläufig bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII ab Antragstellung bei Gericht zu gewähren.

2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichtet auf die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII für die Kosten zur Sicherung des Lebensunterhalts und der Unterkunft während der Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung der Eingliederungshilfe hat Erfolg.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Erforderlich ist danach zum einen das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Notwendigkeit einer Eilentscheidung, und zum anderen ein Anordnungsanspruch, also ein rechtlicher Anspruch auf die begehrte Maßnahme. Gem. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) sind Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen.

Das bedeutet zwar zunächst, dass die Anforderungen an die materielle Beweislast, die ein Antragsteller hinsichtlich der von ihm behaupteten entscheidungserheblichen Umstände grundsätzlich zu tragen hat, vorerst geringer als in einem Hauptsacheverfahren sind. Das Vorbringen muss der Kammer insbesondere nur einen geringeren Grad an Sicherheit vermitteln, als dies im Klageverfahren erforderlich wäre. Allerdings werden in einem Anordnungsverfahren einstweilen zugesprochene Mittel in aller Regel verbraucht und können, abgesehen von Ausnahmefällen, nach einer etwaigen Aufhebung der Anordnung oder gegenteiligen Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht mehr zurückgezahlt werden. Rein faktisch - wenn auch nicht rechtlich - werden damit im Eilverfahren regelmäßig vollendete Tatsachen geschaffen; daher muss die Wahrscheinlichkeit eines Anspruchs auf die begehrte Leistung sehr groß sein, wobei gegebenenfalls allerdings auch zu berücksichtigen ist, in wessen Sphäre die verbliebenen Ungewissheiten fallen, die den Unterschied zwischen geringer und hoher Wahrscheinlichkeit ausmachen.

Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Dabei müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. Bundesverfassungsgericht – BVerfG –, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BVR 569/05 –, Juris Rn. 26).

Grundsätzlich darf dabei die Hauptsache nicht vorweggenommen werden. Nur in dem Ausnahmefall, in dem die Entscheidung in der Hauptsache mit hoher Wahrscheinlichkeit zu spät kommen und damit effektiver Rechtsschutz verweigert würde und dies für den Antragsteller unzumutbar wäre, ist es zulässig, im einstweiligen Rechtsschutzverfahren das zu gewähren, was in der Hauptsache begehrt wird (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG, Stand: 12.01.2024).

Gemessen an diesen Vorgaben sind Leistungen wie beantragt von der Antragsgegnerin zu gewähren. Nach Auffassung sowohl der Antragstellerin als auch der Antragsgegnerin liegen sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund vor. Die Antragsgegnerin ist sich lediglich nicht sicher, ob sie die zuständige Behörde ist. Eine Verurteilung erfolgt daher auf Grundlage von § 43 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I).

Die D. geborene Antragstellerin lebte in den letzten Jahren in E. und betrieb dort eine Reitschule. Ausweislich des Feststellungsbescheides des niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie vom 20.11.2023 beträgt der festgestellte Grad der Behinderung 80 aufgrund einer Beeinträchtigung der Gehirnfunktion sowie einer leichten Funktionsbehinderung der Wirbelsäule.

Nach eigenen Angaben gegenüber der psychiatrischen Klinik F. verlor die Antragstellerin ihre Reitschule in E., weil das Land zu Bauland erklärt wurde.

Im Februar 2022 wurde sie mithilfe des G. Sozialdienstes nach Deutschland vermittelt. Dort war sie zunächst bei ihrem Jugendfreund untergekommen und hatte die – inzwischen wieder beendete – Beziehung mit diesem aufgenommen. In der zweiten Jahreshälfte 2022 flog sie nach ihren Angaben zurück nach H..

Dort wurde sie unmittelbar in eine Klinik in I. aufgenommen und im Dezember erneut über den Sozialdienst nach Deutschland vermittelt. Zwischen den Jahren war sie sodann in einer psychiatrischen Klinik in Deutschland. Es folgte ein weiterer Aufenthalt im J. Krankenhaus in K.

Ihr ehemaliger Lebensgefährte sowie ihre Eltern nahmen sie nicht wieder auf. Zuletzt habe sie erneut nach H. fliegen wollen. Am 18.3.2023 wurde sie durch die Polizei in der psychiatrischen Klinik F. vorgestellt, da sie ein Hotelzimmer nahe des Flughafens nicht verlassen wollte. Von dort wurden sowohl die Bestellung eines gesetzlichen Betreuers als auch die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung der Eingliederungshilfe angeregt.

Mit Beschluss vom 10.7.2023 wurde der gesetzlichen Betreuer L., der über M. Sprachkenntnisse verfügt, zum Betreuer bestellt. Dieser leitete Ermittlungen hinsichtlich eines möglichen Rentenantrags in E. ein und beantragte zugleich unter dem 19.7.2023 Leistungen der Eingliederungshilfe und der Sozialhilfe bei der Antragsgegnerin.

Sodann brachte er die Antragstellerin im N. GmbH unter, einer Einrichtung zur Betreuung, Pflege und Rehabilitation psychisch Kranker in O.. Dort fallen unter anderem Kosten für Miete in Höhe von 501,75 €, Kosten für die Verpflegung in Höhe von 198,10 € sowie für Mittagessen als Tagesstrukturierungsmaßnahme in Höhe von 72,20 €, insgesamt Kosten in Höhe von 772,05 € monatlich an.

Mit E-Mail vom 30.8.2023 teilte der Fachbereich Soziales – Eingliederungshilfe – der Antragsgegnerin dem gesetzlichen Betreuer mit, man sei für die Leistungen der Eingliederungshilfe zuständig, jedoch nicht für die Gewährung von Leistungen zum Lebensunterhalt. Hierfür sei die Stadt F. zuständig.

Unter dem 2.9.2023 beantragte der gesetzliche Betreuer bei der Stadt F. Leistungen nach dem SGB XII zur Sicherung des Lebensunterhalts. Mit weiterem Schreiben vom 4.9.2023 beantragte er sodann Leistungen nach dem SGB XII beim Landkreis P.. Der Landkreis P. teilte dem gesetzlichen Betreuer mit Schreiben vom 7.9.2023 mit, man habe den Antrag auf Grundsicherungsleistungen an die Antragsgegnerin weitergeleitet. Mit Schreiben vom 13.10.2023 teilte die Antragsgegnerin mit, man habe den Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII an die Stadt F. weitergeleitet. Der Landkreis Q. schrieb dem gesetzlichen Betreuer unter dem 2.11.2023, man habe den Antrag vom 4.9.2023 betreffend die Gewährung von Sozialhilfe nach dem SGB XII zuständigkeitshalber an die Antragsgegnerin weitergeleitet. Mit weiterem Schreiben vom 9.11.2023 teilte die Antragsgegnerin dem gesetzlichen Betreuer mit, man habe den Antrag auf Grundsicherung erneut an die Stadt F. weitergeleitet.

Die Antragsgegnerin ist gemäß § 43 Abs. 1 SGB I zur vorläufigen Leistungsgewährung zu verurteilen. Nach dieser Vorschrift kann der erstangegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt, wenn ein Anspruch auf Sozialleistungen besteht und zwischen mehreren Leistungsträgern streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist. Vorliegend ist das Entschließungsermessen, also die Frage, ob die Antragsgegnerin Leistungen erbringt, auf Null reduziert, da die Sache unbestritten eilbedürftig geworden ist.

Der Entscheidung steht die Anregung der Antragsgegnerin, weitere Ermittlungen betreffend die Zuständigkeit anzustellen, nicht entgegen. Vielmehr würden solche die Eilbedürftigkeit sogar verschärfen, so dass weitere Maßnahmen angesichts der Möglichkeit einer vorläufigen Leistungserbringung gestützt auf § 43 Abs. 1 SGB I untunlich sind. Es bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten, endgültige Feststellungen zur Zuständigkeit zu treffen.

Die Entscheidung zu den Kosten folgt aus einer entsprechenden Anwendung von §§ 193, 183 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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