L 4 R 339/22

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 18 R 187/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 4 R 339/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 22.03.2022 wird zurückgewiesen.

                          

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand:

 

Der Kläger begehrt eine Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI).

 

Der 0000 geborene Kläger verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Nach dem Wehrdienst war er seit 1989 durchgängig in wechselnden Tätigkeiten als Verkäufer, in der Holzverarbeitung sowie als Kurierfahrer beschäftigt. Seit 2005 übte er eine Beschäftigung als Lagerarbeiter aus; ab Februar 2016 bezog er zunächst Krankengeld und von September 2017 bis 01.09.2018 Arbeitslosengeld. Seit Januar 2019 steht er im Bezug von Arbeitslosengeld II.

 

Am 14.03.2018 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Langes Gehen, Stehen und Sitzen sei ihm nicht mehr möglich, er leide unter Rückenschmerzen und Schweregefühl in den Beinen. Er könne keine schweren Gegenstände heben und tragen und nehme am öffentlichen Leben kaum noch teil.

 

Die Beklagte zog den Entlassungsbericht über einen stationären Aufenthalt des Klägers in der Rehabilitationsklinik E. in I. vom 02.08.2016 bis 26.08.2016 bei, danach bestanden eine Bewegungs- und Belastungsminderung der Lendenwirbelsäule (LWS) mit Lumboischialgien beidseits bei multiplen Protrusionen der LWS, eine akute Infektion der Atemwege sowie Adipositas. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne er noch leichte bis mittelschwere Arbeiten überwiegend im Stehen, Gehen oder Sitzen täglich sechs Stunden und mehr verrichten (Bericht vom 07.09.2016). Sodann holte die Beklagte Befundberichte bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie J. (vom 19.04.2018), dem Facharzt für Allgemeinmedizin V. (vom 01.05.2018) und dem Facharzt für Orthopädie G. (vom 04.05.2018) ein und veranlasste eine Begutachtung durch den Facharzt für Neurochirurgie N.. Dieser führte im Gutachten vom 01.05.2019 aus, der Kläger leide unter chronischen Lumbalgien ohne Nachweis eines relevanten Bandscheibenvorfalls mit Nachweis degenerativer Wirbelgelenksveränderungen und multiplen Protrusionen, klinisch mittelgradigen Bewegungseinschränkungen der LWS sowie einem cervikalen Wurzelreizsyndrom ohne Nachweis eines cervikalen Bandscheibenvorfalls mit Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule (HWS). Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien dem Kläger unter Beachtung qualitativer Einschränkungen leichte bis mittelschwere Tätigkeiten vollschichtig möglich.

 

Mit Bescheid vom 24.06.2019 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab. Nach der medizinischen Beurteilung könne er noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein.

 

Der Kläger legte am 17.07.2019 Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, seine gesundheitlichen Einschränkungen seien nicht hinreichend berücksichtigt worden, zudem sei der Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt worden. Insbesondere die Bandscheibenvorfälle seien nicht ausreichend berücksichtigt worden. Der behandelnde Allgemeinmediziner Q. halte eine Berentung aufgrund der vorliegenden Erkrankungen für erforderlich (Bezugnahme auf ein Attest vom 28.02.2018). Zwischen der Auffassung des im Verwaltungsverfahren gehörten Gutachters und den behandelnden Ärzten bestünden deutliche Diskrepanzen. Auf der Grundlage einer sozialmedizinischen Stellungnahme von L. vom 25.09.2019 wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 09.01.2020 zurück.

 

Dagegen hat der Kläger am 17.01.2020 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Detmold erhoben. Er hat weiter die Auffassung vertreten, seine gesundheitlichen Einschränkungen seien nicht hinreichend berücksichtigt und der Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt worden. Im Übrigen hat er Bezug genommen auf ein weiteres Attest von Q. vom 19.01.2021, wonach eine Rente empfohlen werde. Gegen das Gutachten von X. hat der Kläger eingewandt, die Anstrengungen beim Zurücklegen einer Wegstrecke von 500 Metern seien unzumutbar; auch unter Verwendung von Hilfsmitteln führe dies zu Schmerzen und einer Gefährdung seiner Gesundheit. Auch sei die Haltungsinsuffizienz als Funktionseinschränkung der Wirbelsäule im Gutachten nicht angemessen berücksichtigt worden.

 

Der Kläger hat beantragt,

 

den Bescheid vom 24.06.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente wegen Erwerbsminderung ab Antragstellung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

            die Klage abzuweisen.

 

Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Der Kläger habe keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, da er die medizinischen Voraussetzungen nicht erfülle. Sie hat sich durch das Gutachten von X. in ihrer Auffassung bestätigt gesehen.

 

Das SG hat Befundberichte eingeholt bei J. (vom 21.10.2020) und dem Facharzt für Radiologie C. (vom 21.10.2020). 

 

Sodann hat das SG von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens von X. (Gutachten vom 24.08.2021). Der Sachverständige hat die Diagnosen myostatische Haltungsinsuffizienz sowie muskulär-statische Lendenbeckeninsuffizienz bei ausgeprägter Übergewichtigkeit, multisegmentale degenerative Veränderungen von Bandscheiben und Zwischenwirbelgelenken an HWS und LWS mit de novo Skoliose lumbal und chronisches myofasziales Schmerzsyndrom lumbal gestellt. Aufgrund dieser Erkrankungen könne der Kläger noch körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten im Stehen, Gehen und Sitzen mit der Möglichkeit zum Haltungswechsel verrichten. Nicht mehr zumutbar seien Arbeiten in andauernden Zwangshaltungen, auf Leitern und Gerüsten, mit häufigem Tragen und Heben von Lasten von mehr als 15 kg sowie Arbeiten ohne Witterungsschutz. Keine Einschränkungen bestünden für Arbeiten unter Zeitdruck oder sonstigen Stress oder Arbeiten mit häufigem Publikumsverkehr. Unter diesen Bedingungen könne der Kläger unter betriebsüblichen Bedingungen täglich vollschichtig arbeiten. Die Gehfähigkeit sei nicht deutlich eingeschränkt, der Gehtest habe mit Pausen nach 18,03 Minuten mit einer Gehstrecke von 500 Metern beendet werden können. Der Kläger gehe am Rollator, etwas langsam und kleinschrittig; Hinweise auf Atemnot habe es aber nicht gegeben; der Kläger habe sich problemlos beim Gehen unterhalten können.

 

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 07.12.2021 hat X. ausgeführt, bei der Begutachtung von Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Fachgebiet stehe die Funktion im Vordergrund und müsse für einzelne Gelenke oder Bewegungsebenen bzw. für den gesamten Körper als Funktionseinheit beurteilt werden. Reine Beschwerdeäußerungen, der Hinweis auf die Einnahme von Schmerzmitteln oder der Hinweis auf einzelne Untersuchungsbefunde und Funktionstests führten nicht zu der Annahme eines aufgehobenen Leistungsvermögens.

 

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 22.03.2022 abgewiesen. Unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme stehe fest, dass der Kläger weder voll noch teilweise erwerbsgemindert sei. Insoweit folge die Kammer den Ausführungen des Sachverständigen X.. Auch die Einwände des Klägers gegen die Annahme der Wegefähigkeit führten nicht zu einer anderen Beurteilung. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gründe der Entscheidung Bezug genommen.

 

Gegen das am 05.04.2022 zugestellte Urteil hat der Kläger am 20.04.2022 Berufung eingelegt und zur Begründung auf seine Ausführungen im erstinstanzlichen Verfahren verwiesen.

 

Der Kläger beantragt schriftlich sinngemäß,

 

das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 22.03.2022 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24.06.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2020 zu verurteilen, ihm Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab Antragstellung nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie verweist auf ihr Vorbringen in dem Verfahren erster Instanz und die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil. Auch aus den vom Senat eingeholten Befundberichten folgten keine neuen Tatsachen, die zu einer Änderung ihrer Auffassung Anlass gäben (undatierte sozialmedizinische Stellungnahme von O., wonach aktuell lediglich Behandlungsleiden vorlägen, aus denen sich keine Änderung der bisherigen Leistungsbeurteilung ergebe).

 

Der Senat hat Befundberichte eingeholt bei dem Facharzt für Orthopädie A. (vom 12.02.2022, keine Veränderungen im Gesundheitszustand) und bei Q. (vom 13.10.2022, keine Veränderungen im Gesundheitszustand).

 

Nach Hinweis, dass und warum keine weiteren Ermittlungen zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts beabsichtigt seien sowie über die Rechte nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat die Beteiligten mit Schreiben vom 17.02.2023, dem Kläger zugestellt am 22.02.2023, zu einer Entscheidung gemäß § 153 Abs. 4 SGG angehört.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Dieser ist Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

 

Entscheidungsgründe:

 

A. Der Senat konnte nach § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG durch Beschluss entscheiden, da er die Streitsache einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind dazu gehört worden.

 

B. Die zulässige, insbesondere statthafte (§§ 143, 144 SGG) und fristgemäß eingelegte (§ 151 Abs. 1 SGG) Berufung des Klägers ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 24.06.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.01.2020 verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, weil die Entscheidung rechtmäßig ist (§ 54 Abs. 2 SGG).

 

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung gemäß § 43 SGB VI, da die medizinischen Voraussetzungen weder für eine Rente wegen voller noch wegen teilweiser Erwerbsminderung nachgewiesen sind.

 

Gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI haben Versicherte bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersrente Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist hingegen nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung besteht für Versicherte gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht.

 

Das SG hat in dem angefochtenen Urteil zutreffend und ausführlich die medizinischen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs unter Würdigung des im Gerichtsverfahren eingeholten Gutachtens des erfahrenen Sachverständigen X. verneint, der nach eingehenden Untersuchungen des Klägers überzeugend zu dem Ergebnis gelangt ist, dass dieser unter Berücksichtigung insbesondere seiner orthopädischen Erkrankungen noch in der Lage ist, unter bestimmten qualitativen Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich leichte bis mittelschwere Arbeiten zu verrichten. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat zunächst Bezug auf die Ausführungen im Urteil des SG, die er sich nach Überprüfung zu eigen macht, und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe insoweit ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

 

Lediglich ergänzend führt der Senat aus, dass der Sachverständige insbesondere überzeugend ausgeführt hat, dass die Wegefähigkeit des Klägers nicht in einem solchen Maße eingeschränkt ist, dass ihm viermal täglich Strecken von 500 Metern in etwa 20 Minuten nicht mehr zumutbar wären. Hierzu hat der Sachverständige einen Gehtest durchgeführt, bei dem der Kläger mit Pausen eine Strecke von 500 Meter in etwa 18 Minuten zurücklegen konnte; dabei bestand keine Atemnot, auch eine Unterhaltung während des Gehens war möglich. Strukturelle Veränderungen an Rumpf oder Extremitäten, die durch das Gehen Schaden nehmen könnten, konnte der Sachverständige nicht feststellen, auch bestanden keine auffälligen Muskelminderungen, Kontrakturen, Instabilitäten oder akute Nervenreizzeichen als Anzeichen für klinisch relevante Nervenengen. Allein dass Pausen eingelegt wurden, spricht nicht gegen die Möglichkeit, die entsprechende Gehstrecke viermal täglich zurücklegen zu können. Im Übrigen steht die Leistungsbeurteilung von X. in Übereinstimmung mit der Einschätzung der Rehabilitationsklinik E. in I. und der Einschätzung von N..

 

Die im Berufungsverfahren durchgeführten Ermittlungen haben keine neuen Erkenntnisse erbracht. Der behandelnde Orthopäde A. hat ausdrücklich angegeben, wesentliche Veränderungen des Gesundheitszustandes seien nicht eingetreten. Die von ihm angegeben Diagnosen Schmerzsyndrom, Facettengelenksarthrose und Osteochondrosen hat X. in seinem Gutachten hinreichend gewürdigt; Einschränkungen durch eine Gonarthrose sind weder beschrieben noch vom Kläger geltend gemacht worden. Den Befunden von Q. ist ebenfalls keine Verschlimmerung zu entnehmen. Auch der Kläger selbst hat keine neu hinzugetretenen Leiden oder weitere Ermittlungsansätze vorgetragen, auch nicht in seinem am 29.03.2023 eingegangenem jüngsten Schreiben. Der Senat hält daher die Ausführungen in der sozialmedizinischen Stellungnahme von O., die dieser in Auswertung der beiden Befundberichte abgegeben hat, für nachvollziehbar; die Einschätzung von X. hat demnach weiterhin Bestand.

 

2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI). Er erfüllt die Grundvoraussetzung gemäß § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI nicht, denn er ist nach dem 02.01.1961 geboren.

 

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

D. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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