1. Das Bedürfnis nach emotionaler Unterstützung bei ungewohnten Veränderungen im Tagesablauf und bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel rechtfertigt noch nicht die Annahme einer erheblichen Einschränkung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen G). Eine Antriebsminderung und Angst vor ungewohnten Situationen und dem Eintreten einer dadurch verursachten psychogenen Lähmung vermag die Voraussetzungen des Merkzeichens G daher noch nicht zu begründen, sofern die Lähmungserscheinungen nur vereinzelt und nicht regelmäßig bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auftreten.
2. Es liegt auch keine Notwendigkeit der ständigen Begleitung vor, wenn im Krisenfall ein bedarfsweises Einwirken in Form von beruhigenden Gesprächen mit einer Vertrauensperson am Telefon ausreichend ist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 16.11.2022 – L 13 SB 120/21 –, juris Rdnr. 41). Zudem muss sich die Notwendigkeit der ständigen Begleitung auf verkehrsmittelspezifische Umstände und nicht auf auch woanders auftretende Begleiterscheinungen beziehen. Probleme in der Interaktion und der Kontaktaufnahme zu Dritten entstehen jedoch nicht nur bei Ausfällen oder Verspätungen im öffentlichen Nahverkehr, sondern auch in anderen Lebenssituationen, wie am Arbeitsplatz oder allgemein im Sozialleben, und sind letztlich durch Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und nicht durch Schwierigkeiten bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel begründet.
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 18.01.2023 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Aberkennung der Merkzeichen „G“ und „B“.
Die 1998 geborene Klägerin leidet an einem Asperger-Syndrom sowie an einer depressiven Erkrankung. Sie beantragte am 10.11.2016 erstmals die Feststellung eines GdB sowie von Merkzeichen.
Der Beklagte zog Befundberichte über die Behandlung der Klägerin bei und stellte mit Bescheid vom 02.08.2017 einen GdB von 80 seit dem 01.04.2014 sowie die Merkzeichen „G“ und „B“ aufgrund der Funktionsbeeinträchtigungen Seelische Störung und Autismus fest.
Der Beklagte leitete im Januar 2019 eine Überprüfung der gesundheitlichen Verhältnisse ein. Im Rahmen des Überprüfungsverfahrens wurden ein Pflegegutachten vom 15.12.2017, Zwischenberichte der Jugendhilfe des schulersetzenden Lernprojekts über die schulische Entwicklung vom 28.07.2017 und 02.07.2018, das Zeugnis über den Realschulabschluss vom 13.07.2018 und ärztliche Befundberichte der Universitätsklinik F1 vom 16.10.2018 und 29.08.2019 eingeholt. In einer versorgungsmedizinischen Stellungnahme vom 28.10.2019 kam die Ärztin K1 nach Auswertung der Unterlagen zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“ und „B“ nicht mehr gegeben seien, da keine erheblichen motorischen Beeinträchtigungen und keine Orientierungsstörungen vorlägen.
Mit Schreiben vom 31.10.2019 hörte der Beklagte die Klägerin zum beabsichtigten Wegfall der Merkzeichen „G“ und „B“ an. Bei Kindern und Jugendlichen sei nach Erreichen eines bestimmten Lebensalters zu prüfen, ob eine Gefährdung im Straßenverkehr oder bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wegen auffälligen und unangemessenen Verhaltens nicht mehr gegeben sei. Infolge des Reifungsprozesses sei davon auszugehen, dass das Gefahrenbewusstsein im Straßenverkehr und bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zwischenzeitlich entsprechend ausgeprägt sei.
Die Mutter der Klägerin teilte in einem Telefonat vom 25.11.2019 mit, dass die Klägerin nur unter Aufsicht öffentliche Verkehrsmittel nutzen könne. Sie legte eine ärztliche Bescheinigung von N1, Uniklinik F1 vom 12.12.2019 vor. Darin wurde angegeben, dass die Klägerin im Rahmen der bisherigen therapeutischen Maßnahmen ihre Selbständigkeit verbessern und in trainierten Situationen inzwischen auch eigenständig öffentliche Verkehrsmittel nutzen könne. In ungewohnten Situationen sei jedoch zunächst noch aus ärztlicher Sicht eine Fahrbegleitung erforderlich.
F2 führte in einer versorgungsärztlichen Stellungnahem vom 27.01.2020 aus, dass die Klägerin nicht unter Orientierungsstörungen leide und nicht dauerhaft auf Begleitung bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen sei. Die Merkzeichen lägen aufgrund der Reifung der jungen Frau nicht mehr vor.
Mit Bescheid vom 03.02.2020 änderte der Beklagte den Bescheid vom 02.08.2017 ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“ und „B“ ab 07.02.2020 nicht mehr gegeben seien. Der GdB betrage unter Berücksichtigung der Funktionsbeeinträchtigungen Autismus, Depression und Kopfschmerzsyndrom weiterhin 80.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin legte am 28.02.2020 Widerspruch ein. Der Bescheid beziehe sich allein auf die Tatsache, dass die Klägerin 18 Jahre alt geworden sei. Diese Änderung sei vorhersehbar gewesen. Bereits deshalb könne eine Änderung des Bescheides nicht erfolgen. Der Bescheid fuße auf der Vermutung, dass eine Person, die das 18. Lebensjahr vollendet habe, sich ohne weiteres im Straßenverkehr und bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln auskenne und diese gefahrlos nutzen könne. Tatsächliche Feststellungen im konkreten Einzelfall habe die Behörde nicht getroffen. Zudem habe sich der Zustand der Klägerin nicht geändert. Sie sei weiterhin erheblich beeinträchtigt und bedürfe weiter der Hilfe im Straßenverkehr. Erst kürzlich habe sie eine falsche Buslinie genommen und habe abgeholt werden müssen. Bei der Klägerin sei mittlerweile Pflegegrad 3 festgestellt worden. Sie leide unter dem Freezing-Phänomen und habe körperhälftige Lähmungen und Lähmungserscheinungen in den Beinen.
Der Beklagte zog nachfolgend das Pflegegutachten vom 11.09.2019, welches seit August 2019 einen Pflegegrad 3 feststellte, einen Bericht der Integrationshilfe K2 über den aktuellen Stand der Tagesförderstruktur (TFS) vom 08.09.2020 sowie Stellungnahmen von N1 von der Uniklinik F1 vom 15.06.2020 sowie vom 14.09.2020 bei. Im Bericht der Integrationshilfe K2 vom 08.09.2020 wurde angegeben, dass die selbständige Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln noch vor einem Jahr nicht möglich gewesen sei. Mittlerweile sei dies kaum noch ein Problem.
D1 kam in zwei versorgungsärztlichen Stellungnahmen vom 12.05.2020 und 13.07.2020 zu der Einschätzung, dass die Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“ und „B“ weiterhin nicht gegeben seien. Im Pflegegutachten würden keine Mobilitätseinschränkungen und keinerlei Orientierungsstörungen oder Einschränkungen der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten beschrieben. Für das Merkzeichen „G“ müsste die Beeinträchtigung andauernd und nicht nur „immer wieder“ bestehen.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25.01.2021 zurück. Dem Zwischenbericht der O1 GmbH vom 14.04.2019 sei zu entnehmen, dass die Klägerin zunehmend mehr Wegstrecken alleine bewältigen könne. Es bestünden keine Paresen und die Koordination sei ungestört. Aus dem Pflegegutachten vom 11.09.2019 ergäben sich keine Mobilitätseinschränkungen, keine Orientierungsstörungen und keine Einschränkungen der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten. Die Klägerin sei trotz Ihrer Behinderung durchaus noch in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel überwiegend ohne Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels zu benutzen. Dem Befundbericht des Universitätsklinikums F1 vom 12.12.2019 sei zu entnehmen, dass sie im Rahmen der therapeutischen Maßnahmen ihre Selbstständigkeit verbessern konnte und inzwischen auch eine eigenständige Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln möglich sei.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat am 26.02.2021 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben und hat zur Klagebegründung sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft.
Das SG hat Beweis erhoben durch die Einholung sachverständiger Zeugenauskünfte von N1 und dem F3.
N1 hat in ihrer Stellungnahme vom 21.06.2021 angegeben, dass bei der Klägerin neben dem Autismus, der rezidivierenden depressiven Störung und den periodisch auftretenden Lähmungszuständen unklarer Zuordnung mittlerweile eine chronische Migräne mit und ohne Aura diagnostiziert worden sei. Im Rahmen von Migräne-Auren könnten neurologische Ausfälle wie z. B. Lähmungserscheinungen auftreten, die dann auch zu einer Gefährdung führen könnten.
F3 hat mit Schreiben vom 29.10.2021 mitgeteilt, dass die motorische Gehfähigkeit nicht gestört sei. Bekannte und gewohnte Wegstrecken könnten alleine bewältigt werden. Eine dauernde Begleitung sei aus seiner Sicht nicht zwingend notwendig.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat mit Schreiben vom 15.12.2021 vorgetragen, dass die Stellungnahme der Universitätsklinik insofern eindeutig sei, als dass die Plegie der Beine und Arme mit der bestehenden und anerkannten Migränebelastung der Klägerin verbunden sei. Sei die Klägerin in einer ihr unbekannten Situation oder mit Menschen zusammen, die ihr Krankheitsbild nicht kennen, könne sie ohne den Einsatz von Händen keine Hilfe rufen, beispielsweise durch Nutzung eines Handys. Die Plegie könne auch die Sprachfähigkeiten der Klägerin beeinträchtigen. Somit sei dann auch eine verbale Kommunikation mit Außenstehenden nicht möglich. Die Klägerin leide unter der Angst, dass die Lähmungserscheinungen in solch ungünstigen Situationen erscheinen und sie einer Gefahr für Leben und Gesundheit aussetzen. Diese Angst führe dazu, dass die Klägerin sich nicht bereit fühle, am täglichen Leben und in der Gesellschaft teilzunehmen. Deshalb sei es auch weiterhin erforderlich, dass eine Begleitperson im Bedarfsfall bereitstehe, die das Krankheitsbild der Klägerin kenne, damit umzugehen wisse und der Klägerin helfe, auch diese unwägbaren Situationen durchzustehen.
Der Beklagte hat mit Schreiben vom 06.04.2022 eine versorgungsärztliche Stellungnahme von R1 vom 09.03.2022 eingereicht, wonach aus den sachverständigen Zeugenaussagen keine Notwendigkeit einer dauernden Begleitperson bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere abzuleiten sei. Es liege auch keine Einschränkung des Gehvermögens vor. Im Ortsverkehr übliche Wege könnten zu Fuß zurückgelegt werden.
Das SG hat ferner Beweis erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens durch C1, vom 03.08.2022. Dieser hat Spannungskopfschmerzen, einen Asperger-Autismus, eine rezidivierende depressive Störung und eine dissoziative Störung diagnostiziert. Die Kriterien einer Migräne seien nicht erfüllt. Die Lähmungserscheinungen in wechselnder Lokalisation seien im Sinne einer dissoziativen Störung zu werten. Seitens des neurologischen Fachgebietes bestünden keine erheblichen Schwierigkeiten oder Gefahren für die Klägerin oder andere beim Zurücklegen von Wegstrecken im Ortsverkehr zu Fuß. Ein objektivierbares neurologisches Defizit finde sich nicht. Die Kriterien einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr seien nicht erfüllt. Es ergäben sich keine objektivierbaren Befunde, die regelmäßige fremde Hilfe bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt erforderlich machten.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18.01.2023 abgewiesen. Die Klägerin sei nach dem zutreffenden Gutachten von C1 in der Lage, ohne erhebliche Schwierigkeiten und ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Weder durch die dissoziative Störung noch durch die Kopfschmerzen habe der Gutachter eine Beeinträchtigung der Gehfähigkeit feststellen können. Dies decke sich mit der Einschätzung von F3, der ebenfalls über keine Störung der motorischen Gehfähigkeit habe berichten können, sowie mit den Pflegegutachten, in denen keine Mobilitätseinschränkungen festgestellt worden seien. Aus den Pflegegutachten folge, dass keine Orientierungsstörungen vorhanden seien. Im Bericht der Integrationshilfe K2 vom 08.09.2020 werde ebenfalls ausgeführt, dass die Klägerin selbständig die Wege vom nächsten öffentlichen Anschlusspunkt zur TFS zurücklege. Nach alledem lägen die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ bei der Klägerin nicht vor. Auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ seien bei der Klägerin nicht gegeben. Aus den Befundberichten der Psychiatrie der Uniklinik F1 und dem Bericht der Integrationshilfe K2 ergebe sich, dass sich die Selbständigkeit der Klägerin zunehmend gebessert habe und die Klägerin in der Lage sei, selbständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Orientierungsstörungen lägen bei der Klägerin ausweislich des letzten Pflegegutachtens nicht vor. C1 habe in seinem Gutachten ebenfalls keine objektivierbaren Befunde erheben können, die eine regelmäßige fremde Hilfe bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel erforderlich machten. Auch F3 sehe die Klägerin in der Lage, gewohnte Wegstrecken alleine zu bewältigen. N1 habe in Übereinstimmung damit in ihrer Stellungnahme vom 12.12.2019 ebenfalls angegeben, dass die Klägerin im Rahmen der bisherigen therapeutischen Maßnahmen ihre Selbständigkeit verbessern und in trainierten Situationen inzwischen auch eigenständig öffentliche Verkehrsmittel nutzen könne. Selbst wenn sich die Klägerin bei unbekannten Strecken schwertue, führe dies nicht zu einem regelmäßigen Hilfebedarf bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern nur in besonderen Einzelfällen. Daher seien auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ nicht erfüllt.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat gegen den ihm am 30.01.2023 zugestellten Gerichtsbescheid am 27.02.2023 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Die Klägerin leide hauptsächlich unter einer seelischen Behinderung. Diese seelische Behinderung liege vor allem in ihrer beschränkten Möglichkeit zur Teilnahme am Gemeinschaftsleben, ohne Angstzustände zu haben. Genauso sei sie unfähig, sich verändernden Situationen anzupassen. Die vorgelegten Sachverständigengutachten beschrieben ganz außerordentlich die Schwierigkeiten der Klägerin und die damit verbundenen Angstzustände, die für die bislang weiterhin nicht aufgeklärten Freezing-Attacken und zeitweisen Lähmungserscheinungen verantwortlich sein könnten. Aufgrund dieser Lähmungserscheinungen und der ständigen Angst davor sei die Klägerin nicht in der Lage, ohne weiteres ihr unbekannte Fahrwege zu benutzen. Auch sei weiterhin die Alltagsbewältigung für die Klägerin außerordentlich schwierig. Zwar sei die Klägerin effektiv nicht gehbehindert, insbesondere liege keine dauerhafte Gehbehinderung im physischen Sinne vor, im seelisch-psychischen Zustand aber durchaus. Die dargelegten immer wieder vorkehrenden Lähmungserscheinungen führten dazu, dass die Klägerin nicht so teilnehmen könne, wie sie es wünsche, obwohl sie funktionierende Beine habe. Sie könne demnach nicht nach ihrem freien Willen agieren und sich bewegen. Diese Einschränkung und Beschränkung müssten bei der Beurteilung ihres Zustandes so berücksichtigt werden, dass sie gehbehindert sei und auch einer Begleitperson bedürfe, um öffentliche Verkehrswege zu nutzen. Genauso bedürfe sie solcher Hilfen im übrigen Alltag, weil die Lähmungserscheinungen eben auch unabhängig von der Teilnahme am öffentlichen Verkehr auftreten könnten. In diesem Fall sei und bleibe die Klägerin hilflos und bedürfe einer Person, die sich um sie kümmern könne. Damit sei also ein erheblicher Tageszeitraum auf unbestimmte Zeit in regelmäßig wiederkehrenden Situationen von diesen Beschränkungen betroffen.
Die Klägerin beantragt sachdienlich gefasst,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 18.01.2023 sowie den Bescheid vom 03.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.01.2021 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hat zur Berufungserwiderung auf die Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid sowie das Gutachten von C1 verwiesen. Das SG habe keineswegs verkannt, dass die Klägerin bei unbekannten Strecken sicherlich gefordert sei. Laut Arztauskunft trainiere die Klägerin deswegen ihre Selbständigkeit im Rahmen therapeutischer Maßnahmen. Daher sei der erforderliche regelmäßige Hilfebedarf bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht gegeben.
Die Berichterstatterin hat das Verfahren mit den Beteiligten nicht öffentlich am 22.11.2023 erörtert.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG erteilt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheidet, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 03.02.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.01.2021 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten. Der Beklagte hat zu Recht den Bescheid vom 02.08.2017 hinsichtlich der Merkzeichen „G“ und „B“ nach § 48 SGB X ab dem 07.02.2020 aufgehoben. Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG ist nicht zu beanstanden.
Vorliegend begehrt die Klägerin nach sachdienlicher Auslegung ihrer Anträge und ihres Vortrags im Verfahren (vgl. § 123 SGG) die Aufhebung des Bescheides vom 03.02.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.01.2021, mit welchem der Beklagte die Merkzeichen „G“ und „B“ ab dem 07.02.2020 entzogen hat. Statthafte Klage ist hier die reine Anfechtungsklage gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG, bei der allein auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, also auf die im Januar 2021 bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen, abzustellen ist. Der Aufhebungsbescheid ist dann rechtmäßig, wenn zum Zeitpunkt seines Erlasses der ursprüngliche Bescheid durch Änderung der Verhältnisse rechtswidrig geworden war. Insoweit ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des aufhebenden Bescheides maßgeblich. Änderungen der Sach- und Rechtslage im Verlauf des Gerichtsverfahrens beeinflussen die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Aufhebungsbescheides nicht. Sie sind im Rahmen der Anfechtungsklage unbeachtlich (vgl. BSG, Urteil vom 15.08.1996 – 9 RVs 10/94 –, juris Rdnr. 10 sowie LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.06.2022 – L 3 SB 4291/19 –, juris Rdnr. 37 ff.).
Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 SGB X. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Die Feststellung einer wesentlichen Änderung setzt einen Vergleich der Sach- und Rechtslage bei Erlass des – teilweise – aufzuhebenden Verwaltungsaktes und zum Zeitpunkt der Überprüfung voraus (vgl. BSG, Urteil vom 02.12.2010 – B 9 V 2/10 R –, juris).
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch der Klägerin auf Feststellung der begehrten Merkzeichen ist § 152 Abs. 1 und 4 SGB IX in der seit 1. Januar 2018 gültigen Fassung (SGB IX n.F.). Danach werden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und der Grad der Behinderung (GdB) abgestuft nach Zehnergraden sowie weitere gesundheitliche Merkmale als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen von den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden – vorliegend dem Beklagten – festgestellt. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) festgelegten Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) heranzuziehen.
Der Senat stellt nach Auswertung der beigezogenen Unterlagen im Verwaltungs- und Klageverfahren fest, dass die Klägerin seit dem 07.02.2020 nicht mehr in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Im Vergleich der Verhältnisse am 02.08.2017 und am 07.02.2020 ist eine wesentliche Änderung eingetreten.
Nach § 229 Abs. 1 SGB IX in der seit dem 1. Januar 2018 geltenden neuen Fassung ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen kann, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als solche Wegstrecken sieht das Bundessozialgericht (vgl. BSG, Urteil vom 10.12.1987 – 9a RVs 11/87 –, SozR 3870 § 60 Nr. 2) solche von 2.000 m an.
Das SG führt im angefochtenen Gerichtsbescheid vom 18.01.2023 zutreffend aus, dass nach den überzeugenden Ausführungen von C1 im Gutachten vom 03.08.2022 sowie den im Verwaltungsverfahren beigezogenen Berichten von N1 von der Uniklinik F1 und den Berichten der Integrationseinrichtung K2 eine erhebliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht mehr vorliegt. C1 konnte bei der Begutachtung der Klägerin keine wesentliche Einschränkung des Gehvermögens auf orthopädischem Fachgebiet feststellen. Das Gangbild war flüssig und auch bei der neurologischen Untersuchung zeigten sich keine pathologischen Befunde. Die von der Klägerin beschriebenen Lähmungserscheinungen in den Armen und Beinen, welche nach Aussage der Klägerin insbesondere in Überforderungssituationen eintreten, konnten keiner neurologischen Ursache zugeordnet werden. C1 kommt diesbezüglich schlüssig zur Annahme einer dissoziativen Bewegungsstörung. Insofern führen auch die sachverständigen Zeugenaussagen von N1 und F3 übereinstimmend aus, dass eine motorische Störung der Gehfähigkeit nicht vorliegt. Der Senat kann jedoch auch unter Berücksichtigung der in Überforderungssituationen auftretenden Bewegungsstörung keine erhebliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit feststellen. Das SG weist insoweit bereits zutreffend darauf hin, dass eine dauerhafte Störung der Orientierungsfähigkeit nicht vorliegt. Zudem entnimmt der Senat aus dem Bericht der Einrichtung K2 vom 08.09.2020, dass die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel mittlerweile für die Klägerin kaum noch ein Problem darstellt und sie diese bereits seit Beginn der Maßnahme selbstständig nutzt. Dass die Klägerin auf nicht vorhersehbare und fremde Situationen mit Unsicherheit und Abwehrverhalten reagiert, wird im Bericht auch benannt, jedoch gelingt es der Klägerin, die vorhersehbaren Interaktionen zu bewältigen. Zur weiteren Förderung der Selbstständigkeit wird im Bericht gerade auch die Schaffung von Situationen, in welchen die Klägerin in Interaktion treten muss, aufgeführt, so dass die zunehmende Überwindung der von der Klägerin als überfordernd empfundenen Situationen Teil der Maßnahme war. Somit ist die von der O2 GmbH im Bericht vom 02.07.2018 angestrebte Förderung der Selbstständigkeit der Klägerin in Bezug auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel weitgehend erreicht worden. Dass es im Laufe dieses Prozesses immer wieder auch zu Rückschlägen und schwierigen Situationen für die Klägerin kommt, ist nachvollziehbar. Allein die Angst vor dem Eintreten solcher Situationen reicht jedoch nicht zur Begründung des Merkzeichens „G“ aus, zumal die Bewältigung von derartigen Situationen auch Teil des Förderprogrammes der Maßnahme bei K2 war. N1 bestätigt in ihren Stellungnahmen im Verwaltungsverfahren vom 12.12.2019, 15.06.2020 sowie vom 14.09.2020 ebenfalls, dass sich die Selbstständigkeit der Klägerin verbessert hat, sie in trainierten Situationen öffentliche Verkehrsmittel benutzen kann und lediglich bei ungewohnten Situationen Betreuung benötigt und Lähmungserscheinungen auftreten. Dass die Klägerin sehr stark auf ihre Mutter als Unterstützungsperson bezogen ist, geht bereits aus dem Bericht der Uniklinik F1 vom 16.10.2018 über den stationären Aufenthalt vom 08.08.2018 bis zum 16.10.2018 hervor. Insofern diente das nach dem zweiten stationären Aufenthalt vom 18.03.2019 bis zum 29.08.2019 eingeleitete und individuell auf die Klägerin zugeschnittene Tagesstrukturtraining bei K2 gerade der Verbesserung der Eigenständigkeit und des Abbaus der Abhängigkeit vom Elternhaus. Eine anderweitige Beurteilung der Bewegungsfähigkeit folgt auch nicht aus dem M1-Gutachten vom 11.09.2019. Dieses bestätigt das Bedürfnis der Klägerin nach emotionaler Unterstützung bei ungewohnten Veränderungen im Tagesablauf, enthält jedoch bis auf das Freezing-Syndrom keine weitergehenden Befunde, welche eine erhebliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr begründen könnten. Der Senat schließt sich daher den Ausführungen des SG nach eigener Überprüfung an und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung gemäß § 153 Abs. 2 SGG zurück.
Das Vorbringen der Klägerin im Berufungsverfahren führt nicht zu einer anderweitigen Bewertung des Sachverhalts. Allein die Antriebsminderung und die Angst vor ungewohnten Situationen und dem Eintreten einer Lähmung vermag die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ noch nicht zu begründen. Insofern zeigen die im Verwaltungsverfahren beigezogenen Berichte, insbesondere über die Maßnahme beim K2, dass die Klägerin die öffentlichen Verkehrsmittel weitgehend ohne Probleme benutzen konnte und sie auch Strategien zur Bewältigung unbekannter Situationen, auch zur Absolvierung des Praktikums, erarbeitet hat. Eine nur zeitweise Beeinträchtigung reicht zur Erfüllung der Voraussetzungen der Merkzeichen nicht aus, sondern es muss sich um eine regelmäßig auftretende Symptomatik bei unbekannten Situationen handeln (vgl. zum Merkzeichen „aG“, BSG, Urteil vom 09.03.2023 – B 9 SB 8/21 R –, Rdnr. 27 ff.). Angesichts des durch die Berichte von N1 sowie der Einrichtung K2 bestätigten Zugewinns an Selbstständigkeit kann der Senat nicht feststellen, dass die Klägerin auf den Eintritt einer unbekannten Situation automatisch mit einer Lähmung reagiert. Die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens „G“ sind somit ab dem 07.02.2020 nicht mehr gegeben.
Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ sind ab dem 07.02.2020 nicht mehr erfüllt.
Nach § 229 Abs. 2 Satz 1, § 228 Abs. 6 Nr. 1 und Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB IX i.V.m. Teil D Nr. 2 b und c) VMG ist eine Berechtigung für eine ständige Begleitung (Merkzeichen B) bei schwerbehinderten Menschen gegeben, bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen G, Gl oder H vorliegen und die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dementsprechend ist zu beachten, ob sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z.B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind. Die Berechtigung für eine ständige Begleitung ist anzunehmen bei Querschnittgelähmten, Ohnhändern, Blinden und Sehbehinderten, Hörbehinderten, geistig behinderten Menschen und Anfallskranken, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist.
Vorliegend scheitert der Anspruch auf die Beibehaltung des Merkzeichens „B“ ab dem 07.02.2020 bereits daran, dass die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ nicht mehr erfüllt sind und bei der Klägerin auch nicht die Voraussetzungen für das Merkzeichen GI oder H vorliegen.
Der Senat kann jedoch zudem nicht feststellen, dass die Klägerin bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmittel infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen ist. Der Senat entnimmt der sachverständigen Zeugenaussage von N1 vom 21.06.2021 sowie dem Bericht der Einrichtung K2 vom 08.09.2020, dass die Klägerin nur bei Überforderungssituationen mit Lähmungserscheinungen reagiert. Insofern kann der Senat jedoch nicht feststellen, dass eine permanente Begleitung einer Vertrauensperson immer notwendig ist. So war die Klägerin während der Maßnahme bei K2 in der Lage, ohne Begleitung den öffentlichen Nahverkehr zu benutzen. Zudem liegt auch keine Notwendigkeit der ständigen Begleitung vor, wenn im Krisenfall ein bedarfsweises Einwirken in Form von beruhigenden Gesprächen mit einer Vertrauensperson am Telefon ausreichend ist (vgl. hierzu LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 16.11.2022 – L 13 SB 120/21 –, juris Rdnr. 41). Zudem muss sich die Notwendigkeit der ständigen Begleitung auf verkehrsmittelspezifische Umstände und nicht auf auch woanders auftretende Begleiterscheinungen beziehen (vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 21.09.2022 – L 3 SB 96/19 –, juris Rdnr. 43). Probleme in der Interaktion und der Kontaktaufnahme zu Dritten entstehen jedoch nicht nur bei Ausfällen oder Verspätungen im öffentlichen Nahverkehr, sondern auch in anderen Lebenssituationen, wie am Arbeitsplatz oder allgemein im Sozialleben und sind letztlich durch Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und nicht durch Schwierigkeiten bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel begründet. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ sind daher ab dem 07.02.2020 nicht mehr erfüllt.
Der Beklagte hat somit im Ergebnis zu Recht festgestellt, dass in den Verhältnissen, die dem Bescheid vom 02.08.2017 zugrunde lagen, eine wesentliche Änderung eingetreten ist und die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen „G“ und „B“ ab dem 07.02.2020 nicht mehr vorliegen.
Die Berufung der Klägerin war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.