S 14 KR 62/24 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 14 KR 62/24 ER
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze


1. Für den Erhalt einer Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V ist nach ständiger Rechtsprechung erforderlich, dass die Arbeitsunfähigkeit nahtlos festgestellt wird. Dafür ist eine Feststellung am Tag nach der Beendigung eines Pflichtversicherungsverhältnisses ausreichend.

2. Eine Nahtlosigkeit ist jedenfalls dann nicht gegeben, wenn die  Arbeitsunfähigkeit auch nicht am nächsten Werktag festgestellt wird. 

3. Eine Fristversäumung geht nicht zu Lasten der versicherten Person, wenn ein Handeln im Rechtssinne nicht möglich war. Dafür müsste aber glaubhaft gemacht sein, dass die nur vorübergehende Handlungsunfähigkeit so erheblich war, dass diese zumindest vergleichbar mit einer Geschäftsunfähigkeit war.
 


Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. 

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. 
 

Gründe

I.    

Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Krankengeld. 

Die 1972 geborene Antragstellerin war zunächst als Arbeitnehmerin bei der Antragsgegnerin pflichtversichert. Der ehemalige Arbeitgeber meldete das Ende der Beschäftigung zum 30.9.2023. 

Die Antragstellerin reichte bei der Antragsgegnerin zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, eine von der Allgemeinmedizinerin Dr. D. mit der Diagnosen F 43.9 und dem Vermerk psychischer Ausnahmezustand und eine von der psychiatrischen Praxis von Dr. M. mit den Diagnosen F 33.1. und G 43.0, die beide eine Arbeitsunfähigkeit seit dem 30.9.2023 feststellen. Als Feststellungsdatum wurde jeweils der 4.10.2023 vermerkt. Im Übrigen wurden lückenlose Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bis zum Entscheidungszeitpunkt vorgelegt. 

Mit Bescheid vom 20.10.2023 teilte die Antragsgegnerin mit, dass kein Anspruch auf die Gewährung von Krankengeld bestünde, da die Mitgliedschaft der Antragstellerin am 30.9.2023 geendet habe. 

Dagegen wandte sich die Antragstellerin mit Widerspruchsschreiben vom 17.11.2023. Sie sei seit dem 30.9.2023 durchgängig krankgeschrieben, die Mitgliedschaft sei deshalb nicht beendet worden. Selbst wenn die Mitgliedschaft beendet worden sei, gäbe es eine Nachversicherungspflicht.  

Auf Nachfrage der Antragsgegnerin bestätigte die Praxis von Dr. M. durch Schreiben vom 26.1.2024, dass die Antragstellerin seit dem 2.10.2023 arbeitsunfähig erkrankt sei. Mit Schreiben vom 15.2.2024 erklärte die Praxis, dass die Antragstellerin sich am 2.10.2023 vorgestellt habe und sie seit dem 30.9.2023 arbeitsunfähig erkrankt sei. 

Die Antragsgegnerin wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 29.2.2024 als unbegründet zurück. Zur Begründung verwies sie im Wesentlichen darauf, dass die Arbeitsunfähigkeit der Antragstellerin am 4.10.2023 festgestellt worden sei, die Antragstellerin aber zu diesem Zeitpunkt nicht mehr versichert gewesen sei. Eine Zahlung von Krankengeld sei daher nicht möglich. 

Die Antragstellerin hat am 13.3.2024 Klage erhoben und gleichzeitig einen Antrag auf Erlass einer einstweilen Anordnung am Sozialgericht Marburg gestellt. Die Antragsgegnerin verweigere ihr das zustehende Krankengeld. Sie sei aufgrund ihrer Migräneerkrankung mit Drehschwindel nicht in der Lage gewesen, sich am 2.10.2023 bei einem Arzt vorzustellen. Hinzu gekommen sei noch der Streik der Ärzteschaft. 

Die Antragstellerin beantragt (sinngemäß), 
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin Krankengeld zu gewähren. 

Die Antragsgegnerin beantragt, 
den Antrag abzulehnen. 

Die Antragstellerin habe keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Arbeitsunfähigkeit sei am 4.10.2023 festgestellt worden. Zu diesem Zeitpunkt sei die Antragstellerin aber nicht mehr mit Krankengeldanspruch versichert gewesen. 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.


II.    

Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet. 

Nach dem hier einschlägigen § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Die hier in Betracht kommende Regelungsanordnung (Satz 2) setzt einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus.

Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.

Die Antragstellerin hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. 

Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs auf Auszahlung von Krankengeld ist § 44 Abs. 1 i.V.m. § 46 S. 1 Nr. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach haben versicherte Personen Anspruch auf Krankengeld, wenn eine Krankheit sie arbeitsunfähig macht. Der Anspruch entsteht gemäß § 46 S. 1 Nr. 2 ab dem Tag der ärztlichen Feststellung. Ob und in welchen Umfang versicherte Personen Anspruch auf Krankengeld haben ist zudem davon abhängig, in welchem Versicherungsverhältnis sich die Person zum Zeitpunkt des Entstehungstatbestandes für den Krankengeldanspruch befindet. 

Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass diese Voraussetzungen vorliegen. Denn die Antragstellerin war nach summarischer Prüfung nicht mehr mit Krankengeldanspruch versichert und hat deshalb voraussichtlich keinen Anspruch auf die Gewährung von Krankengeld. 

Denn § 190 Abs. 2 SGB V bestimmt, dass die Mitgliedschaft von versicherungspflichtig Beschäftigten mit Ablauf des Tages endet, an dem das Beschäftigungsverhältnis gegen Arbeitsentgelt endet. Das Versicherungsverhältnis der Antragstellerin endete folglich aufgrund der Abmeldung des Arbeitgebers zum 30.9.2023 an diesem Tag. 

Etwas anderes ergibt sich nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V nur, wenn ein Anspruch auf Krankengeld besteht. Für den Erhalt der Pflichtmitgliedschaft durch einen Krankengeldanspruch ist ausreichend, dass am letzten Tag der Beschäftigung alle Voraussetzungen erfüllt sind, um spätestens mit Beendigung des Tages einen Anspruch auf Krankengeld entstehen zu lassen (siehe dazu umfassend BSG, Urteil vom 10. Mai 2012 – B 1 KR 19/11 R). 

Voraussetzung ist demnach eine Nahtlosigkeit von Beschäftigungsverhältnis und Krankengeldanspruch. Eine solche Nahtlosigkeit ist gegeben, wenn die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zeitlich unmittelbar an das zuvor bestehende Arbeitsverhältnis anknüpft. Dafür wiederum ist ausreichend, dass der Krankengeldanspruch am ersten Tag nach der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses entsteht (Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 6. Juni 2023 – L 10 KR 14/23 B ER –, juris Rn. 21; BSG, Urteil vom 7. April 2022 – B 3 KR 9/21 R – juris Rn.12). 

Nach summarischer Prüfung liegt eine solche Nahtlosigkeit hier nicht vor. Die Arbeitsunfähigkeit der Antragstellerin wurde am 4.10.2023 festgestellt, das Arbeitsverhältnis und damit auch das Versicherungsverhältnis endete allerdings bereits am 30.9.2023. Die Arbeitsunfähigkeit wurde daher nicht nahtlos festgestellt. Eine Feststellung wäre vielmehr am 1.10.2023 erforderlich gewesen. 

Hinzu kommt, dass die Arbeitsunfähigkeit der Antragstellerin auch nicht am nächsten Werktag, dem 2.10.2023, festgestellt wurde, sodass vorliegend auch die noch ungeklärte Frage, ob für die Nahtlosigkeit eine Feststellung am nächsten Werktag ausreichend ist, dahinstehen kann (vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 6. Juni 2023 – L 10 KR 14/23 B ER –, juris Rn. 23). 

Etwas anderes folgt nach summarischer Prüfung auch nicht daraus, dass die am 4.10.2023 festgestellte Arbeitsunfähigkeit auf den 30.9.2023 zurückdatiert wurde. 

Denn nach der eindeutigen gesetzlichen Vorschrift des § 46 S. 1 Nr. SGB V ist auf den Tag nach der ärztlichen Feststellung abzustellen, nicht auf den tatsächlichen Eintritt der Arbeitsunfähigkeit (siehe auch BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 1 KR 37/14 R – juris Rn. 9). Deshalb ist die Gewährung von Krankengeld bei verspäteter Meldung grundsätzlich auch ausgeschlossen, wenn die Leistungsvoraussetzungen im Übrigen zweifelsfrei feststehen (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 1 KR 37/14 R – juris Rn. 19). Die Rechtsprechung hat insoweit auch klargestellt, dass es versicherten Personen grundsätzlich zumutbar ist, die Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig feststellen zu lassen (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 1 KR 37/14 R – juris Rn. 22). 

Etwas anderes gilt nur, wenn und soweit die Antragstellerin handlungs- oder geschäftsunfähig war oder aber wegen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen ist als habe sie ihre Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung rechtzeitig feststellen lassen. 

Nach summarischer Prüfung liegen diese Voraussetzungen hier nicht vor. Dass die Antragsgegnerin hier ihre Auskunfts- und Beratungspflichten verletzt hat und die Antragstellerin dadurch gehindert wurde, ihre Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig feststellen zu lassen, ist nicht ersichtlich. 

Auch eine Geschäfts- oder Handlungsfähigkeit ist aus Sicht des Gerichts nicht glaubhaft gemacht. Eine für die Geschäftsunfähigkeit erforderliche krankhafte, zum Ausschluss der Geschäftsfähigkeit führende Störung der Geistestätigkeit müsste andauernder Natur gewesen sein (zu diesem Erfordernis, BeckOK BGB/Wendtland, § 104 Rn. 6). Und auch eine nur vorübergehende Handlungsunfähigkeit müsste so erheblich sein, dass sie der Geschäftsunfähigkeit im obigen Sinne (§ 104 Nr. 2 BGB) vergleichbar ist (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Juni 2019 – L 9 KR 470/17 –, juri Rn. 23).

Diese Voraussetzungen liegen hier nach summarischer Prüfung nicht vor. Der Hinweis auf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von Dr. D., dass ein psychischer Ausnahmezustand vorgelegen habe, genügt für eine Glaubhaftmachung nicht. Hierbei berücksichtigt das Gericht auch, dass die Antragstellerin einen solchen psychischen Ausnahmezustand selbst im Erörterungstermin nicht mehr vorgetragen hat, sondern stattdessen auf Migräne mit Drehschwindel am 2.10.2023 hinwies. Nach eigenen Angaben der Antragstellerin habe sie aufgrund der Migräne keinen Arzt aufsuchen können. Aus Sicht des Gerichts ist aber auch nicht glaubhaft gemacht, dass durch die Migräne Handlungsunfähigkeit eingetreten ist. Dagegen spricht insbesondere, dass dieser Zustand ausschließlich am Montag zu einer Handlungsunfähigkeit geführt haben soll, die Antragstellerin aber am Mittwoch, also zwei Tage später, zwei Ärzte aufsuchen konnte. Hinzu kommt, dass die Antragstellerin selbst darauf verwiesen hat, dass sie versucht hat, sich am 2.10.2023 telefonisch mit Ärzten im Verbindung zu setzen und die Praxis von Dr. M. auch erreicht hat. In diesem Telefonat hätte man ihr mitgeteilt, dass ihr behandelnder Psychiater keine Hausbesuche mache. Aus einer Gesamtschau der von der Antragstellerin vorgetragenen Ereignisse im Zeitraum 30.9.2023 bis 2.10.2023 folgert die Kammer, dass die Antragstellerin voraussichtlich nicht infolge von Geschäfts- oder Handlungsfähigkeit daran gehindert war, ihre Arbeitsunfähigkeit feststellen zu lassen. 

Schließlich ergibt sich nichts anderes daraus, dass die Ärzteschaft gestreikt hat. Die Antragstellerin hat zwar in allgemeiner Form darauf hingewiesen, dass die Ärzteschaft an diesem Tag gestreikt hat. Dass die Antragstellerin aber alles ihr Zumutbare getan hat, um ihre Arbeitsunfähigkeit feststellen zu lassen und allein aufgrund des Streiks daran gehindert wurde, hat sie nicht glaubhaft gemacht.

Der Antrag war daher abzulehnen. 

Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass jedenfalls auch die Leistungen für die Vergangenheit nicht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren geltend gemacht werden können. Sinn und Zweck des Eilverfahrens ist es, aktuelle und noch bestehende, wesentliche Nachteile abzuwehren (siehe bspw. Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 31. Januar 2012 – L 11 AS 982/11 B ER –, juris Rn. 17 ff.). Durch die Versagung des Krankengeldes für die Vergangenheit entstehen grundsätzlich keine wesentlichen Nachteile mehr, die sich durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung noch abwenden ließen. Denn die Antragstellerin hat ihren Lebensunterhalt für diesen Zeitraum bereits aus eigenen oder fremden Mitteln gedeckt, sodass er hierfür auf das begehrte Krankengeld nicht mehr angewiesen ist (vgl. Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 17. November 2014 – L 6 KR 1214/14 B ER –, juris Rn. 24). 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) analog und entspricht dem Ausgang des Verfahrens. 
 

Rechtskraft
Aus
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