1. Bei einer Erkrankung an Multipler Sklerose, die bereits zu erheblichen Einschränkungen der Gehfähigkeit und zur Angewiesenheit auf eine Fortbewegung im Rollstuhl geführt hat, dient ein Rollstuhlzuggerät bzw. Handbike zwar nicht dazu, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern. Diese Hilfsmittel dienen jedoch zum Behinderungsausgleich im Rahmen der Versorgung durch die Krankenkasse.
2. Als Grundlage kommen sowohl die Vorbeugung einer drohenden Behinderung des Oberkörpers und der oberen Extremitäten in Bezug auf die Erhaltung der Muskulatur und der Beweglichkeit als auch der Ausgleich und der Behinderung des Unterkörpers und der unteren Extremitäten in Betracht.
3. Das Gericht schließt sich der jüngeren Rechtsprechung an, nach der Menschen mit Behinderungen ermöglicht werden soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen und der Anspruch auf ein Hilfsmittel gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung zum Behinderungsausgleich nicht von vornherein auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung beschränkt ist (sog. Paradigmenwechsel). Das Wunsch- und Wahlrecht der Klägerin ist in die Betrachtung als ein wesentlicher Faktor einzubeziehen.
Krankenversicherung – Hilfsmittelversorgung mit einem Handbike (Rollstuhlzuggerät Husk-e Steps E8000) zum Behinderungsausgleich bei Multipler Sklerose – keine Beschränkung auf Minimalversorgung (Paradigmenwechsel)
- Der Bescheid der Beklagten vom 22. April 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Mai 2021 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, an die Klägerin die Kosten für das durch die Klägerin am 5. März 2021 bezogene Rollstuhlzuggerät Husk-e Steps E8000 (Handbike), Größe 20'', in Höhe von EUR 8.692,36 zu erstatten.
2. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
T a t b e s t a n d :
Die Beteiligten streiten um den Anspruch der Klägerin auf Kostenerstattung für die Selbstbeschaffung eines Rollstuhlzuggeräts "Husk-e" (sog. Handbike) einschließlich Mittelmotorantrieb.
Die 1971 geborene und bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Klägerin leidet an Multipler Sklerose mit sekundär-chronischem Verlauf (ICD-10-Kode: G35.30) und muskulärer Schwäche sowie Spastiken der unteren Extremitäten. Seit dem Jahr 2010 ist sie zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen. Die Klägerin bezieht Rente wegen voller Erwerbsminderung; für sie sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100, die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" sowie der Pflegegrad 2 festgestellt.
Die Neurologin verordnete unter dem Datum vom 30. März 2020 ein "Therapiefahrrad nach Erprobung 'Huskie' Fa. ProActiv". Die Verordnung trägt einen Eingangstempel der Beklagten vom 1. April 2020. Die G. GmbH aktiv erstellte gegenüber der Beklagten ein Angebot vom 20. April 2020 über ein Rollstuhlzuggerät Husk-e Steps E6100, des Herstellers PRO ACTIV, Größe 20'', einschließlich der einzelnen technischen Bestandteile zu einem Gesamtpreis von EUR 8.502,44. Im Angebot wurde darauf hingewiesen, dass mit der Versorgung die selbstständige aktive Bewegung durch das Hilfsmittel gefördert und die Mobilität erhalten werde.
Mit Bescheid vom 22. April 2020 lehnte die Beklagte die Versorgung ab und verwies zur Kräftigung der Muskulatur und Verbesserung der Koordination auf vorrangige Heilmittelanwendungen wie Krankengymnastik. Hiergegen wandte sich die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 5. Mai 2020. Ein mechanisches Zuggerät sei erforderlich, damit die Restmuskulatur im Oberkörper und den oberen Extremitäten aufrechterhalten werden könne. Die von der Beklagten angebotene Versorgung mit einem ausschließlich elektrisch angetriebenen Rollstuhl zwinge sie zu "rein passiver" Fortbewegung. In einer von der Beklagten initiierten Stellungnahme vom 6. August 2020 teilte die Neurologin mit, dass die Klägerin mit dem Hilfsmittel aktiv und selbstständig einer zunehmenden Behinderungsprogression bezüglich ihrer Armkraft und Armkoordination entgegenwirken könne. Die Unterstützung durch Motorkraft ermögliche kurze Pausen und eine anschließende rasche Wiederaufnahme des vollen Bewegungsumfanges aus eigener Kraft. Eine Fehlbelastung der Brustwirbelsäule und des Schultergürtels werde im Vergleich zum herkömmlichen Rollstuhl vermieden und gleichzeitig die Lungen- und Darmfunktion durch eine verbesserte Körperhaltung unterstützt.
In einem Gutachten vom 5. November 2020 (Gutachterin: Dr. U.) kam der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) zum Ergebnis, dass eine medizinische Notwendigkeit der Versorgung mit einem Handbike nicht bestehe. Hierfür fehle es an Paresen im Bereich der oberen Extremitäten. Die Kostenübernahme für einen elektrischen restkraftverstärkenden Greifreifenantrieb des Rollstuhls ("E-Motion") wurde hingegen empfohlen.
Die Klägerin beschaffte sich daraufhin das Rollstuhlzuggerät selbst. Mit Rechnung vom 4. März 2021 wurde im Zusammenhang mit der Lieferung des Hilfsmittels am 5. März 2021 ein Betrag i. H. v. EUR 8.692,36 über ein Rollstuhlzuggerät Husk-e Steps E8000, Größe 20'', einschließlich der einzelnen technischen Bestandteile fällig, den die Klägerin beglich.
Nach Erhebung einer Untätigkeitsklage beim Sozialgericht Dresden (Az. S 7 KR 370/21) durch die Klägerin wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 2021 zurück. Die Grundbedürfnisse "Fortbewegung" und "Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes" seien bereits aufgrund der bestehenden Versorgung gewährleistet. Für die Erschließung des sog. Nahbereich sei das Rollstuhlzuggerät nicht erforderlich und gehe über den "Basisausgleich" hinaus. Im Übrigen wurde auf das Gutachten des MDK Bezug genommen.
Mit ihrer am 31. Mai 2021 beim Sozialgericht Dresden eingelegten Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Schon im Ausgangspunkt verkürze die Beklagte zu Unrecht die Reichweite der Ansprüche aus § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Auch nach der UN-Behindertenrechtskonvention sei sie über ein Wahlrecht an der Bestimmung der Art und Weise der Versorgung beteiligt und nicht auf eine Mindestversorgung beschränkt. Die Versorgung mit dem Handbike diene vor allem dazu, die Restmuskulatur zu erhalten.
Die Kläger beantragt sachdienlich gefasst,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 22. April 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Mai 2021 zu verpflichten, die Kosten für ein Rollstuhlzuggerät Husk-e Steps E8000 (Handbike), Größe 20'', in Höhe von EUR 8.692,36 zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Die Beklagte hat sich zunächst im Wesentlichen auf die Begründung des vorliegenden Bescheids bezogen und geltend gemacht, dass die Versorgung mit einem Handbike das Wirtschaftlichkeitsgebot verletzte.
In Bezug auf mögliche Ansprüche nach dem Recht der Eingliederungshilfe hat das Gericht mit Beschluss vom 25. Februar 2022 den Sozialhilfeträger beigeladen. Auf der Grundlage eines Hausbesuchs am 17. Mai 2022 hat die Beigeladene dahingehend Stellung genommen, dass die Benutzung des Rollstuhlzuggerätes mit einem größeren Vorderrad besser dazu geeignet sei, Bodenunebenheiten und Bordsteinkanten zu überwinden, wie dies im Wohnumfeld etwa durch notwendig wäre, und eine ca. 200 Meter lange Steigung auf der […]-Straße zu bewältigen. Es liege eine Form des mittelbaren Behinderungsausgleichs vor. Zudem werde durch die Nutzung des Rollstuhlzuggerätes mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verschlimmerung der bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen vermieden, da das Hilfsmittel der Verringerung von Schulterschmerzen und der Kräftigung der Herz- und Kreislauffunktion diene.
Ferner hat das Gericht einen Erörterungstermin am 3. Februar 2023 durchgeführt, in dem sowohl den gesundheitlichen als auch den finanziellen Verhältnissen der Klägerin nachgegangen wurde. Den zur Beendigung des Rechtsstreits für sie widerruflich geschlossenen Vergleich, der im Wesentlichen die Übernahme der hälftigen Kosten vorsah, hat die Beklagte fristgerecht wiederrufen.
Das Gericht hat Befundberichte eingeholt. Mit Befundberichten vom 21. März und 19. Juli 2023 hat die Multiple-Sklerose-Ambulanz des U. mitgeteilt, dass das Handbike der Mobilitätsverbesserung sowie dazu diene, einer Kraftminderung im Bereich der oberen Extremität vorzubeugen. Derzeit sei die Klägerin fähig, einen Rollstuhl mit Greifreifen zu benutzen. Das […] Therapiezentrum und die Praxis […] haben mit Befundberichten vom 8. bzw. 18. September 2023 darauf hingewiesen, dass in der Vergangenheit die Nutzung des Rollstuhls mit Greifreifen durch entstandene Schulterbeschwerden eingeschränkt gewesen sei.
Mit Schriftsatz vom 23. November 2023 hat die Klägerin auf gerichtliche Nachfrage durch ihren Prozessbevollmächtigten erklären lassen, dass sie keine Ansprüche nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) geltend mache.
Mit Schriftsätzen vom 23. und 24. November 2023 haben die Beteiligten erklärt, dass sie mit einer Entscheidung der Kammer durch Urteil ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung einverstanden sind.
Im Übrigen wird wegen des Vorbringens der Beteiligten und der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die vorlagen und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Das Gericht kann nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (im Folgenden: SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil alle Beteiligten dazu ihr Einverständnis erklärt haben.
Die zulässige Klage ist begründet. Sie ist insbesondere als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) statthaft. Die Ablehnung der Versorgung mit Bescheid der Beklagten vom 22. April 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. Mai 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat Anspruch auf die Erstattung der Kosten für die Selbstbeschaffung des Rollstuhlzuggerätes Husk-e Steps E8000, Größe 20'' (sog. Handbike).
1. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs auf Kostenerstattung ist § 13 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB V. Danach sind, wenn eine Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Die Sachleistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung für die Versorgung ihrer Versicherten mit Hilfsmitteln bestimmt sich nach § 33 SGB V. Der ursprüngliche Sachleistungsanspruch wandelt sich dann in einen Kostenerstattungsanspruch um (BSG, Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R –, Rn. 11, juris).
2. Für die ursprünglich begehrte Hilfsmittelversorgung ergibt sich ein Anspruch der Klägerin aus § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.
a) Das Rollstuhlzuggerät stellt ein bewegliches sächliches Hilfsmittel i. S. v. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V dar. Es handelt sich nicht um einen ausgeschlossenen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, da das Rollstuhlgerät speziell für die Fortbewegung behinderter Menschen mit verantwortlicher Begleitperson entwickelt wurde. Auch ein Ausschluss nach § 34 Abs. 4 SGB V oder durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V liegt nicht vor.
b) Das Rollstuhlzuggerät bzw. Handbike dient indes nicht dazu, den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern. Beim Einsatz von Hilfsmitteln des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist nach deren Funktionalität und schwerpunktmäßiger Zielrichtung bzw. Zwecksetzung zu differenzieren. Ein Hilfsmittel dient gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Var 1 SGB V der "Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung", wenn es im Rahmen einer Krankenbehandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V, d. h. zu einer medizinisch-therapeutischen Behandlung einer Erkrankung als der Kernaufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V eingesetzt wird (BSG, Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R –, Rn. 15 bis 17, m. w. N., juris). Der Krankenbehandlung können zwar auch Hilfsmittel zur Ermöglichung oder Förderung der körperlichen Mobilisation dienen, aber nur in besonders gelagerten Fällen mit einem spezifischen Bezug zur ärztlich verantworteten Krankenbehandlung. Ein solcher Bezug kommt Hilfsmitteln zur körperlichen Mobilisation zu, die in engem Zusammenhang mit einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche und ärztlich angeleitete Leistungserbringer stehen und die für die gezielte Versorgung im Sinne der Behandlungsziele des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V als erforderlich anzusehen sind (ebd.). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor, weil das von der Klägerin selbstbeschaffte Rollstuhlzuggerät nicht in diesem Sinne der kurativen Krankenbehandlung dient. Es wird nicht spezifisch eingesetzt zur positiven kurativ-therapeutischen Einwirkung auf eine Krankheit, d. h. auf den regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand als solchen, im Rahmen ärztlich verordneter Krankenbehandlung bzw. als Teil eines verordneten Therapiekonzepts. Der Einsatz des Rollstuhlzuggerätes zielt im Schwerpunkt nicht auf die Krankheit, sondern auf die Behinderung der Klägerin. Auch ein ärztlicher Therapieplan, der den Einsatz des begehrten Hilfsmittels für die Klägerin vorsieht, liegt hier nicht vor, das Rollstuhlzuggerät ist kein Bestandteil eines Therapiekonzepts, auch wenn es unbestritten für den Erhalt der körperlichen Fitness und die allgemeine Gesundheit sinnvoll und hilfreich ist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 13. September 2022 – L 16 KR 421/21 –, Rn. 23; SächsLSG, Urteile vom 20. Mai 2020 – L 1 KR 270/18 –, Rn. 22 und 15. September 2020 – L 8 SO 30/19, Rn. 30 f., jeweils juris).
c) Der Anspruch der Klägerin stützt sich vielmehr hier – jeweils selbstständig tragend – darauf, einer drohenden Behinderung des Oberkörpers und der oberen Extremitäten vorzubeugen (aa) und eine Behinderung des Unterkörpers und der unteren Extremitäten auszugleichen (bb).
aa) Bei einer – wie hier bei der Klägerin – bereits bestehenden Behinderung dient ein Hilfsmittel (nur) zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung, wenn mit dessen Einsatz im Schwerpunkt die Verschlimmerung der vorhandenen Behinderung verhütet oder der Hinzutritt einer wertungsmäßig neuen Behinderung abgewendet wird. Dies erfordert, dass in sachlicher und zeitlicher Hinsicht die dauerhafte Verschlimmerung der bestehenden Behinderung oder der Hinzutritt einer wertungsmäßig neuen Behinderung konkret drohen, denen vorzubeugen den Schwerpunkt des Hilfsmitteleinsatzes bildet. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen ist die präventive Abwendung einer drohenden weitergehenden Behinderung weder Krankenbehandlung noch Behinderungsausgleich. Der Regelungsgehalt des Tatbestandes der Hilfsmittelversorgung nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 SGB V (Vorbeugung einer drohenden Behinderung) lässt sich auf diese Weise bestimmen und findet im Verhältnis zu den Ansprüchen nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGB V (Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung) und insbesondere nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Var. 3 SGB V (Ausgleich einer Behinderung) eine eigenständige Bedeutung, die – ungeachtet möglicher Überschneidungen im Einzelfall – eine abgrenzungsfähige Rechtsanwendung erlaubt (BSG, Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R –, Rn. 22). Nach den vorliegenden ärztlichen Auskünften und Befundberichten ist die Versorgung mit dem Rollstuhlzuggerät darauf gerichtet, die Muskulatur im Bereich des Oberkörpers und der oberen Extremitäten und damit deren Funktionsfähigkeit zu erhalten. Ferner werden in der Vergangenheit bereits aufgetretene Schmerzzustände im Schulterbereich vermieden, welche die noch vorhandene Beweglichkeit des Oberkörpers und damit auch die Nutzung eines zumindest teilweise selbst durch eigene Muskelkraft angetriebenen Rollstuhles einschränken. Dass ein GdB von 100 bei der Klägerin schon festgestellt ist, steht dieser Betrachtungsweise nicht entgegen. Auch wenn hier die maximale Feststellung bereits erreicht ist, stellten diese Funktionseinschränkungen dennoch eine eigenständige Behinderung dar. Ohne die Nutzung des Rollstuhlzuggerätes ist eine qualitative und zeitnahe dauerhafte Verschlechterung des Gesundheitszustandes konkret zu erwarten (vgl. BSG, a. a. O., Rn. 24).
bb) Die Klägerin hat zudem einen Anspruch auf Kostenerstattung, weil die beantragte Leistung dem Ausgleich der bereits vorliegenden tiefgreifenden Behinderung des Unterkörpers und der unteren Extremitäten dient.
(1) Ein Hilfsmittel dient als Leistung zur medizinischen Rehabilitation dem "Ausgleich einer Behinderung", wenn es seinem Zweck entsprechend die Auswirkungen der Behinderung beseitigt oder mindert und damit der Befriedigung eines Grundbedürfnisses dient. Leistungen zum Zweck des Behinderungsausgleichs sind aber nicht unbegrenzt von der gesetzlichen Krankenversicherung zu erbringen (insgesamt dazu: BSG, Urteil vom 7. Mai 2020 – B 3 KR 7/19 R –, Rn. 26 ff., m. w. N., juris). Die originäre Leistungszuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung bestimmt sich nach dem Zweck des Hilfsmittels, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mindert und damit der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens und einem möglichst selbstbestimmten und selbstständigen Leben dient. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen zählen u. a. das Gehen und Stehen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Es besteht Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch auf eine Optimalversorgung. Im Ergebnis kommt es daher auf den Umfang der mit dem Hilfsmittel zu erreichenden Gebrauchsvorteile an, ohne dass hierfür maßgeblich die Unterscheidung zwischen unmittelbarem und mittelbarem Behinderungsausgleich heranzuziehen wäre. In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließt, ist als ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens das Erschließen eines körperlichen Freiraums und in Bezug auf Bewegungsmöglichkeiten das Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs der Wohnung von Versicherten mit einem Hilfsmittel anerkannt (BSG, ebd.; SächsLSG, Urteil vom 20. Mai 2020 – L 1 KR 270/18 –, Rn. 23 ff., und Urteil vom 23. September 2020 – L 8 KR 384/17, Rn. 27, jeweils juris).
(2) Bei der Bestimmung des Leistungsinhalts von § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V besitzt Verfassungsrecht eine besondere Bedeutung. Das Verbot der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ist Grundrecht und zugleich objektive Wertentscheidung (BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 2020 – 2 BvR 1005/18 –, Rn. 37, juris). Auch das Recht auf persönliche Mobilität aus Art. 20 UN-Behindertenrechtskonvention ist bei der Auslegung einfachgesetzlicher Normen zu berücksichtigen (BVerfG, a. a. O., Rn. 39, juris).
(aa) Nach der jüngeren Rechtsprechung des BSG, der sich die Kammer wiederum nach eigene Prüfung anschließt, gründet sich hierauf ein Paradigmenwechsel, der Menschen mit Behinderungen ermöglichen soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen (ebenso: LSG Niedersachsen-Bremen, a. a. O., Rn. 28). Der Anspruch auf ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung zum Behinderungsausgleich ist danach nicht von vornherein auf einen Basisausgleich im Sinne einer Minimalversorgung beschränkt (ebenso: HessLSG, Urteil vom 5. August 2021 – L 1 KR 65/20 –, Rn. 31 und 36, juris; LSG Niedersachsen-Bremen, a. a. O., Rn. 29 und jedenfalls im Ausgangspunkt auch LSG Schl.-H., Urteil vom 23. Februar 2021 – L 10 KR 118/17 – Rn. 45 ff., juris). Vielmehr kommt ein Anspruch auf Versorgung im notwendigen Umfang bereits in Betracht, wenn das begehrte Hilfsmittel wesentlich dazu beiträgt oder zumindest maßgebliche Erleichterung verschafft, Versicherten auch nur den Nahbereich im Umfeld der Wohnung in zumutbarer und angemessener Weise zu erschließen. Hierbei kommt auch dem Umstand Bedeutung zu, dass das von der Klägerin begehrte Hilfsmittel geeignet ist, ihrem Wunsch nach erheblicher Verbesserung ihrer Mobilität auch im Nahbereich gerade zu entsprechen. Das Wunsch- und Wahlrecht der Klägerin ist in die Betrachtung als ein wesentlicher Faktor einzubeziehen (BSG, a. a. O., Rn. 34). Ihm ist volle Wirkung zu verschaffen, sodass den
Leistungsberechtigten viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung der Lebensumstände gelassen und die Selbstbestimmung gefördert werden (HessLSG, a. a. O., Rn. 31 und 38; LSG Niedersachsen-Bremen, a. a. O., Rn. 31). Durch das Rollstuhlzuggerät kann die Klägerin den Nahbereich selbstbestimmt und durch eigene Kraftanstrengung vermittelt erschließen. Durch die Form der Kraftübertragung über ein größeres Vorderrad kann sie über den Aspekt der Selbstbestimmtheit hinaus auch Bodenunebenheiten und flache Hindernisse wie Schwellen und Bordsteinkanten bewältigen sowie längere Steigungen ohne fremde Hilfe überwinden.
(bb) Ein anderes ebenso geeignetes Hilfsmittel i. S. von § 33 SGB V, das dem Ziel des Behinderungsausgleichs gleichwertig entsprechen würde, ist nicht ersichtlich. Das Verweisen auf das Heilmittel der Krankengymnastik führt für die Mobilität im Nahbereich nicht weiter. Dasselbe gilt für einen mit elektrischen Zusatzantrieb versehenen Rollstuhl ("E-Motion"), weil dieser dem Selbstbestimmungsrecht der Klägerin nicht in derselben Weise Wirkung verliehe und keine gleich geeignete, zumutbare und angemessene Versorgung darstellte. Der durchgehende Elektroantrieb wird ihrem Grundbedürfnis an körperlicher Restaktivität und selbstständiger Mobilität unter Ausnutzung und Aktivierung der Restkraft von Armen und Rumpf nicht gerecht (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, a. a. O., Rn. 37). Es dient ferner dem Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung und der Führung eines selbstbestimmten Lebens, einen behinderten Menschen so lange wie möglich seinen Wünschen entsprechend nicht mit einem Elektrorollstuhl zu versorgen, der ihn zur absoluten Passivität zwingt (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, a. a. O., Rn. 39). Vor diesem Hintergrund überschreitet die Versorgung mit dem Rollstuhlzuggerät bzw. die darauf gerichtete Kostenübernahme auch nicht das Maß des Notwendigen nach § 33 Abs. 1 Satz 9 SGB V oder verletzt nicht das Wirtschaftlichkeitsgebot aus § 12 Abs. 1 SGB V.
d) Auch die erforderliche Kausalität zwischen der zu Unrecht ablehnenden Entscheidung der Beklagten und der Selbstbeschaffung durch die Klägerin liegt vor.
aa) Die Klägerin hat zeitlich weit vor der Anschaffung des Rollstuhlzuggeräts einen Antrag auf diese Leistung bei der Beklagten gestellt, den diese zu Unrecht abgelehnt hat. Die
Kostenerstattung ist nicht dadurch gehindert, dass die entstandenen Kosten in Anbetracht der Gesamthöhe mit ca. EUR 190 eher geringfügig über dem Kostenvoranschlag lagen. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist mit Preissteigerungen in dieser Größenordnung über mehrere Monate ohne Weiteres zu rechnen.
bb) Die Kostenerstattung steht auch nicht entgegen, dass der Kostenvoranschlag vom 20. April 2020 im Hauptbestandteil auf den Artikel "Husk-e Steps E6100" zum Einzelbetrag von EUR 5.790,00 und die Rechnung vom 4. März 2021 auf den Artikel "Husk-e Steps E8000 Mittelmotorantrieb" zum Einzelbetrag von EUR 5.390,00 gerichtet war. Es handelt sich jeweils um Rollstuhlzuggeräte desselben Herstellers, welche die Anforderungen der zu Grunde liegenden ärztlichen Verordnung erfüllen. Das Gericht muss hier weiteren Einzelheiten – wie z. B. etwaigen Lieferschwierigkeiten, Modellwechseln oder Anforderungen an die maximale Unterstützungsleistung der Fortbewegung – nicht weiter nachgehen. Die Beklagte hat dem Anspruch der Klägerin zudem generell entgegengehalten, dass ein Rollstuhlzuggerät nicht notwendig sei und sich dabei nicht auf unterschiedliche einzelne Modelle bezogen, sodass der Erstattungsfähigkeit der Kosten bei der Selbstbeschaffung nicht die Wahl des konkreten Modells entgegengehalten werden kann. Die Klägerin darauf zu verweisen, nochmals das Verfahren für das Modell E8000 anzustrengen, stellte eine Förmelei dar, zumal der auf den Hauptbestandteil mit Mittelmotoantrieb entfallende Kaufpreis nicht höher als im Kostenvoranschlag veranschlagt wurde.
e) § 13 Abs. 3a Sätze 1 und 6 SGB V scheiden als Anspruchsgrundlage aus. Grundsätzlich müssen zwar Krankenkassen innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang über Anträge auf Leistungen entscheiden und ohne Mitteilung eines entsprechenden Grundes für ein Hinausschieben der Entscheidung gilt nach Ablauf dieser Frist die Leistung als genehmigt. Nach § 13 Abs. 3a Satz 9 SGB V greifen aber für die Erstattung selbst beschaffter Leistungen – wie hier – zur medizinischen Rehabilitation vorrangig die §§ 14 bis 24 SGB IX. Bei Hilfsmitteln mit überwiegend rehabilitativen Charakter kann § 13 Abs. 3a Sätze 1 und 6 SGB V nicht zur Anspruchsbegründung herangezogen werden, sondern lediglich für Hilfsmittel, die auf (kurative) Krankenbehandlung oder der Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung gerichtet sind (BSG, Urteil vom 8. August 2019 – B 3 KR 21/18 R –, Rn. 19 ff., juris, und LSG Schl.-H., a. a. O., Rn. 25).
3. Ansprüchen der Klägerin nach dem Eingliederungshilferecht des SGB IX muss nicht weiter nachgegangen werden, weil die Klägerin diese ausdrücklich nicht geltend macht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache. Der Zulassung der Berufung bedurfte es nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG nicht.