L 6 U 2211/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 4 U 833/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 U 2211/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 7. Juli 2023 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.


Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer höheren Verletztenrente als nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 vom Hundert (v. H.) aufgrund eines Arbeitsunfalls vom 15. Januar 2018 umstritten, bei dem sich der Kläger die rechte Hand in einer Maschine einquetschte und die Langfinger DII bis DIV der rechten Hand (teilweise) amputiert werden mussten.

Er ist 1986 geboren, hat nach dem Hauptschulabschluss eine Lehre als Gießerei-Mechaniker abgeschlossen und arbeitet seit 2007 bei M1, derzeit als Rüster in der Gießerei. Er ist verheiratet, hat zwei noch minderjährige Kinder und bewohnt eine Eigentumswohnung (vgl. Anamnese S1).

Der Durchgangsarztbericht (D-Arztbericht) vom 15. Januar 2018 beschrieb, dass der Kläger seine rechte Hand in eine mechanische Presse bekommen habe, Schutzhandschuhe seien getragen worden. An der rechten Hand sei der Schutzhandschuh teilweise entfernt, das Handgelenk intakt gewesen. Am Mittelfinger rechts habe eine offene Fraktur bestanden, die Röntgenaufnahme zeige multiple Mittel- und Endgliedluxationsfrakturen an der rechten Hand.

Im Zwischenbericht der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik (BGU) über die ambulante Vorstellung am 16. Januar 2018 wurde dargelegt, dass an DII eine Transfixierung des Endglieds erfolgt sei, an DIII eine Amputation in Höhe des distalen Grundglieds, an DIV in Höhe des distalen Mittelgliedes und an DV eine Reposition sowie eine axiale K-Drahtosteosynthese mit Transfixierung des Endgliedes und Kunstnagelauflage.

Der Kläger sei wach und zu allen Qualitäten orientiert gewesen, dabei kreislaufstabil. Er habe deutliche Schmerzen an der rechten oberen Extremität beklagt, welche nur mittels intravenöser Schmerzmittelgabe suffizient hätten therapiert werden können.

Er wurde am 1. Februar 2018 entlassen. Während des Aufenthalts hätten sich die Finger allseits stark mazeriert, geschwollen und gerötet gezeigt, sodass ein täglicher Verbandswechsel unter Furacin-Salbentherapie nötig gewesen sei. Eine schmerztherapeutische Begleitung zur Einstellung der starken Schmerzen sowie eine psychologische Begleitung des Klägers sei erfolgt. Am 29. Januar 2018 sei eine operative Revision wegen Krustenbildungen an Zeige- und Kleinfinger und lividen Verfärbungen im Sinne von Minderdurchblutungen und Stauungen erfolgt. Die Wundverhältnisse hätten sich postoperativ zunächst noch angestrengt gezeigt. Die parenterale Antibiose mittels Cefazolin sei fortgeführt worden. Im weiteren Verlauf hätten sich die Wunden zunehmend gebessert. Mit der Beübung der Finger, auch mit Hilfe des Physiotherapeuten, sei begonnen worden. Die Entlassung sei mit reizlosen, jedoch weiterhin kontrollbedürftigen Wundverhältnissen in die ambulante Weiterbehandlung erfolgt.

Vom 8. März bis 12. April 2018 führte die Beklagte eine Komplex-Stationäre-Rehabilitation (KSR) in der BGU T1 durch. Nach dem Bericht des Rehabilitationsmanagers vom 9. April 2018 habe funktionell eine Verbesserung erzielt werden können, der Kläger könne mit der rechten Hand wieder Gegenstände fest und sicher greifen. Es gelinge ihm wieder, einen Flaschendrehverschluss mit der rechten Hand zu öffnen oder einen Kugelschreiber zu halten. Dennoch bestehe bezüglich des Faustschlusses ein deutliches Defizit. Der Kleinfinger weise eine geringe Drehfehlstellung aus. Im Vordergrund der Beschwerden stünden noch neuromartige Schmerzen im Bereich des Mittelfingerstumpfes, weswegen das Schmerzmittel Targin eingenommen werde. Silikon-Fingerprothesen seien bereits zur Probe angepasst worden.

Die Tätigkeit im Büro und in der Arbeitsvorbereitung werde der Kläger nach Abklingen der Berührungsschmerzhaftigkeit wieder ausführen können. Für den Arbeitseinsatz als Maschinenführer seien die funktionellen Einschränkungen der rechten Hand doch zu gravierend. Für das sichere Halten von Werkzeugen wie Schraubenschlüssel, Hammer oder Schraubenzieher werde eine ausreichende Greifkraftentwicklung fehlen. Mit dem Arbeitgeber sei ein Einsatz im Bereich „Röntgen“, in dem Werkstücke in ein Röntgengerät zur Überprüfung eingelegt werden müssten, vorgesehen.

Bei Entlassung hätten noch zwei potentielle operative Revisionen ausgestanden, zum einen eine Neuromrevision am radialen und ulnaren Mittelfinger sowie eine Korrekturarthrodese des Kleinfingerendgelenks. Soweit die Hypersensibilität weiter rückläufig sei, sei die Neuromrevision nicht zwingend erforderlich. Bei weiterhin bestehenden Beschwerden solle diese aber zeitnah durchgeführt werden. Die Umsetzung am Arbeitsplatz werde durch den Arbeitgeber organisiert.

Im Erstbericht Psychotherapeutenverfahren legte S2 dar, dass der Kläger über Bilder vom Unfall berichtet habe, dass er in Gedanken immer wieder den Unfall durchgehe und sich ärgere, noch an die dritte Maschine gegangen zu sein. Er fühle sich durch die Amputationen entstellt und verstecke die Hand, ziehe sich sozial zurück und stelle Pläne bezüglich seiner Zukunft in Frage. Es bestehe eine depressive Verstimmung, teilweise noch Intrusionen, starke Schamgefühle und Zukunftsängste, dabei keine Hinweise auf ein inhaltliche oder formale Denkstörung oder suizidale Tendenzen. Es solle eine Vorstellung in der Schmerzambulanz der Klinik L3 erfolgen, um eine Zweitmeinung zu erhalten. Das Vertrauensverhältnis zu den Ärzten in T1 sei massiv durch wechselnde Meinungen und Einschätzungen gestört. Darin sei ein Anteil für die resignative Verstimmung und die Apathie zu sehen.

Am 15. Mai 2018 stellte sich der Kläger zur Kontrolluntersuchung in der handchirurgischen Sprechstunde der BGU T1 vor. Diese befundete eine Bewegungseinschränkung der rechten Hand mit hypersensiblen Stümpfen an Mittel- und Ringfinger rechts sowie eine Pseudoarthrose im Kleinfinger rechts nach Mittelgliedkopffraktur. In der klinischen Untersuchung der rechten Hand hätten sich die bekannten Stumpfbildungen des Zeige- bis Ringfingers gezeigt. Am Zeigefingerstumpf bestehe eine gute Weichteilbedeckung bei reizlosem Befund. Am Mittelfingerstumpf sei die bekannte Hypersensibilität vor allem ulnar lokalisiert. Radial sei bei Palpation nur eine geringe Schmerzsymptomatik auszulösen. Am Ringfingerstumpf bestehe eine Blasenbildung radial mit deutlicher Hypersensibilität im Sinne eines positiven Hoffmann-Tinel-Zeichen mit Proximalisierung bis zum Ringfingergrundgelenk. Die Schmerzsymptomatik an den Stümpfen sei insgesamt sehr exakt zu lokalisieren, sodass der dringliche Verdacht auf Neurome bestanden habe.

Eine Stumpfrevision zur Neuromexstirpation sei empfohlen worden, um eine adäquate Weichteilbedeckung ohne konstante Schmerzsymptomatik zu schaffen. Ebenso solle eine Revision der Pseudoarthrose am Kleinfinger erfolgen, welche sich in der aktuellen Röntgenaufnahme zunehmend disloziert, ohne Tendenz der knöchernen Konsolidierung zeige. Trotz adäquater Schmerztherapie werde anders keine zufriedenstellende Situation erreicht werden.

Bei der erneuten Vorstellung am 13. Juni 2018 sei erneut die Möglichkeit einer Stumpfrevision zur Neuromrevision besprochen worden. Der Kläger habe ein operatives Vorgehen abgelehnt, intensives Abhärtetraining sei erneut rezeptiert, Eigenbeübung mit diversen Hilfsmitteln angeraten worden.

Im Folgebericht mit Weiterbehandlungsantrag legte S2 dar, dass das ursprüngliche Vermeidungsverhalten hinsichtlich der Hand habe verändert werden können. Es sei dem Kläger schrittweise gelungen, sich mit der Hand auch im privaten Kontext (Sportverein) zu zeigen und sich selbst an die Entstellung optisch zu gewöhnen. Die Wiedereingliederung ins Erwerbsleben sei zu unterstützen, die lange Zeit der Beschäftigungslosigkeit und die fehlende Ablenkung und Tagesstruktur führe zunehmend zu einer depressiven Störung. Als Diagnose wurde eine Anpassungsstörung bei chronischen Schmerzen nach Fingergliedamputationen genannt.

Im weiteren Bericht vom 3. Dezember 2018 führte S2 aus, dass in den Folgesitzungen die Bearbeitung und Veränderung von starken Stimmungsschwankungen, existenziellen Ängsten, Stolzverletzungen und Überforderungsgefühlen im Fokus der Behandlung gestanden hätten. In den Sitzungen sei es gelungen, die krisenhaft erlebten Situationen zu emotionalisieren und den Kläger zu beruhigen, zu motivieren und in einem guten Dialog mit dem Arbeitgeber zu bleiben.

Am 11. Januar 2019 beschrieb L1 eine zunehmende, fraglich unfallabhängige, psychische Überlagerung. Der Kläger fühle sich unfair behandelt, sei misstrauisch gegen den Betrieb und die Ärzte, habe allerdings Einsehen in die eventuelle psychische Überlagerung der Dynamik. Die rechte Hand sei in der Gebrauchsfähigkeit deutlich stabiler, er befinde sich in der letzten Phase der Arbeitserprobung. Eine abschließende Wiedervorstellung zur Beendigung der Behandlung sei für die zweite Woche nach Wiederaufnahme der Arbeit geplant. Die psychotherapeutische Behandlung müsse noch überlappend weitergeführt werden. An der rechten Hand bestünden insgesamt deutlich weniger Schmerzen, der Stumpf an DII sei aber merklich berührungsempfindlich.

Bei der Abschlussuntersuchung vom 1. Februar 2019 gab L1 an, dass die Arbeitserprobung erfolgreich gewesen sei. Es würden Schmerzen an den Amputationsstümpfen berichtet, DIII sei noch deutlich berührungsempfindlich. Die Arbeitsplatzsituation sei so gestaltet, dass der Kläger zurechtkomme. Dieser sei sehr besorgt über seine finanzielle Situation mit spürbaren Einbußen des Einkommens. Die psychische Anpassungsstörung stehe nicht im Vordergrund, hier sei die Behandlung noch nicht abgeschlossen. Die MdE sei auf 20 v. H. einzuschätzen.

Am 21. Februar 2019 stellte sich der Kläger erneut bei L1 vor und gab zunehmende Schmerzen an. Arbeitgeber, Kollegen und Ärzte wollten ihn nur fertigmachen, die Familie leide unter den Verhältnissen. Klinisch lasse sich die Schmerzhaftigkeit nachvollziehen, vom Arbeitgeber werde er verfrüht zu körperlich/krafttechnisch anspruchsvollen Arbeiten eingesetzt. Eventuell trete eine Berufsunfähigkeit ein. Es sei erneut Arbeitsunfähigkeit bescheinigt worden.

Am 1. April 2019 stellte sich der Kläger in der BGU T1 vor. Bei der klinischen Untersuchung habe sich ein blander Haut-/Weichteilmantel ohne Schwellung und Rötung gezeigt. Die Fingerstümpfe an Zeige-, Mittel- und Ringfinger seien gut mit Haut-/Weichteilen bedeckt. Der radiale Zeigefingernerv sei blande gewesen, am Mittelfinger habe ein leichter Druckschmerz an der Stumpfkappe bestanden. Am Zeige- wie Ringfinger sei die Flexion im Mittelgelenk noch mit Wackelbewegung möglich gewesen, am Kleinfinger bestehe eine etwa 25° messende Achsfehlstellung des Endgliedes. Die Bewegungsausmaße im Handgelenk seien beidseits frei. Eine operative Revision habe der Kläger nicht gewünscht.

Mit Bescheid vom 10. April 2019 gewährte die Beklagte Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 25 v. H.. Als Unfallfolgen wurden eine Amputation der Zeige- und Ringfingermittelglieder und des Mittelfingergrundgelenks jeweils mittelgelenksnah mit Hypersensibilität der Stümpfe und neurotypischer Hypersensibiliät des Mittelfingers, Bewegungseinschränkungen der verbliebenen Fingergrundgelenke und Fehlstellung des Kleinfingers mit Pseudoarthrose des Kleinfingerkopfes sowie eine psychische Belastungsreaktion nach operativ versorgter Quetschverletzung mit Trümmerbrüchen aller Langfinger anerkannt.

Während des Widerspruchsverfahrens gelangte der Folgebericht Psychotherapeutenverfahren der S2 zur Akte. Danach habe der Kläger weiterhin eine psychische Instabilität gezeigt, vor allem ausgelöst durch maladaptive Gedanken seine berufliche Zukunft betreffend hinsichtlich Interaktionen und Kommunikation. Er zeige ein soziales Rückzugsverhalten und depressive Symptome. Diagnostisch bestehe eine Anpassungsstörung bei Schmerzen und Körperschemaveränderung.

Der M2 führte beratungsärztlich aus, dass die Verletzungsfolgen mit einer MdE von 30 v. H. zu beurteilen seien. Bei der Untersuchung durch L1 am 1. Februar 2019 hätten sich neben den Amputationen des Zeige-, Mittel- und Ringfingers für alle Fingergrundgelenke der Langfinger rechts Bewegungseinschränkungen gezeigt. Die BGU T1 habe eine persistierende Überempfindlichkeit befundet und die vorhandenen Mittelgelenke am Zeige- und Ringfinger seien nur wackelbeweglich gewesen.

Eine Amputation der Langfinder DII bis DV auf Höhe der distalen Grundglieder entspreche einer MdE von 35 v. H., eine Amputation DII bis DIV auf Höhe der distalen Grundglieder einer MdE von 25 v. H.. Betrachte man die Verletzungsfolgen mit zwar erhaltenden Mittelgelenken an Zeige- und Ringfinger sowie erhaltendem Kleinfinger, sei die Einschränkung der Beweglichkeit in den angrenzenden Grundgelenken, die „Wackelbewegung“ in den Mittelgelenken des Zeige- und Ringfingers sowie die Wackelbewegung und Achsabweichung im Endgelenk wie Endglied des Kleinfingers mit einer deutlichen Funktionseinschränkung der rechten Hand verbunden. Daneben müsse die noch bestehende Überempfindlichkeit der Stümpfe mit Verdacht auf Neurome berücksichtigt werden.

L1 gab im Verlaufsbericht nach ambulanter Untersuchung vom 18. November 2019 an, dass der Kläger über eine anhaltende psychische Problematik berichtet habe. Am Arbeitsplatz finde mittlerweile ein Mobbing statt, ein adäquater Arbeitsplatzwechsel sei weiterhin nicht in Sicht. Auffallend sei, dass der Kläger in der Lage sei, spontan zur Begrüßung die Hand zu reichen. Jahreszeitbedingt bestünden wieder vermehrt Schmerzen, die ergotherapeutische Behandlung mit Paraffinbädern biete eine deutliche Besserung.

S2 gab in einem weiteren Folgebericht an, dass sich der Kläger in den letzten Sitzungen stark angespannt gezeigt habe. Die Neupositionierung am Arbeitsplatz aufgrund seiner Einschränkungen und die aus seiner Sicht fehlende Kommunikation wegen seiner künftigen Verwendung im Unternehmen verunsicherten ihn. Bezüglich des Akzeptanzprozesses schwanke er immer wieder zwischen Wutgefühlen auf sein Arbeitsumfeld und irrationalen Selbstvorwürfen. Die Schmerzen könne er gut tolerieren, problematisch seien die anhaltenden Schlafstörungen und ängstlich-depressiven Grübeleien. Erschwerend komme ein Rechtsstreit hinzu. Die Therapie müsse fortgesetzt werden, Zielsetzung sei eine kognitive Bewertungsveränderung. Eine Unterstützung durch die Beklagte hinsichtlich der Situation am Arbeitsplatz werde angeraten.

Nach Anhörung des Klägers und schriftlicher Einverständniserklärung veranlasste die Beklagte eine Heilverfahrenskontrolle bei dem L2. Diesem gegenüber beschrieb der Kläger bei der ambulanten Untersuchung vom 19. November 2019, dass er eine Maschine repariert habe und diese von einem Kollegen durch ein Missverständnis zu früh wieder eingeschaltet worden sei. Hierdurch sei seine Hand in eine Hydraulikpresse geraten. Es belaste ihn, dass er die Unfallberichte bis heute nicht bekommen habe, weder von der Beklagten noch von der Arbeitgeberin. Als er wieder angefangen habe zu arbeiten, sei er mitunter beschuldigt worden, an dem Unfall selbst schuld zu sein. Es sei ein richtiggehendes Mobbing erfolgt, er werde auf der Arbeit ignoriert und man nehme keine Rücksicht auf ihn. Er sei in der Gießerei beschäftigt worden, obwohl er die Eisenketten nicht tragen könne. Man habe ihm nur angeraten, sich innerbetrieblich umzubewerben.

Er habe Nervenschmerzen übrig behalten, es gebe an Ring-, Mitte- und Zeigefinger jeweils einen Punkt, der bei Berührung starke elektrisierende Schmerzen verursache. Im Winter habe er deutlich mehr Schmerzen als ihm Sommer. Die Schmerzen seien zu provozieren, wenn er versuche, mit der Hand etwas zu greifen. Es hänge vom Gewicht ab. Die Finger seien auch kälter, würden nicht mehr richtig durchblutet, was die Schmerzen verstärke.

Befragt zu Phantomschmerzen habe der Kläger angegeben, dass solche am Anfang bestanden, sich aber gebessert hätten. Am Mittelfinger seien sie noch dergestalt vorhanden, dass es sich so anfühle, als ob ein spitzer Gegenstand unter den Nagel geschoben und gedrückt werde. Außerdem habe er wiederkehrend Zustände, in denen sich die rechten Hand so anfühle, als sei sie in Fauststellung verkrampft und nicht mehr zu öffnen.

Der Kläger habe die Sorge geäußert, dass der Arbeitgeber feststellen könne, dass er zu krank sei, um eingesetzt zu werden. Dies wolle er vermeiden. Er sei auf seine Arbeit angewiesen und wolle auf keinen Fall seinen Arbeitsplatz verlieren.

Auf Befragen zu psychischen Beschwerden habe der Kläger angegeben, dass es immer wieder zu Angstzuständen komme. Er werde nachts oftmals wach und es kämen ihm die Probleme des Vortages in den Sinn. Gleiches passiere auch, wenn er mit der Familie beim Essen sitze. Er habe kaum noch Lust etwas zu unternehmen, gehe auch nicht mehr raus. Zwar kämen immer wieder noch die Freunde und erkundigten sich nach ihm. Er werde immer wegen seiner Hand befragt. Außerdem fehle es ihm an Selbstvertrauen bezüglich der Hand, er traue sich kaum, diese zu zeigen. Er habe kosmetische „Fingerlinge“, die aber eben nicht echt aussähen und in denen natürlich kein Gefühl sei. Seine Stimmung sei den Tag über schwankend, er werde auf jeden Fall schnell aggressiv, wenn ihn etwas ärgere. Morgens nehme er Duloxetin 60 mg und abends Quetiapin 50 mg.

Bei der Untersuchung sei die Muskulatur an den Armen etwa seitengleich und kräftig ausgeprägt gewesen, die Gelenke des Schultergürtels seien frei beweglich. Die Finger DII bis DIV rechts seien reizlos amputiert, der Finger DV rechts mit reizlosen Narben versehen und stehe in Beugestelle fehl. An DII bis DIV fänden sich neurosuspekte Tastbefunde. An den Händen zeigten sich keine Arbeitsspuren, der Faustschluss links sei vollständig, die Funktionsgriffe möglich. Die Muskulatur an den Beinen sei seitengleich und kräftig ausgeprägt, die Hocke werde vollständig erreicht. Das Gangbild sei flüssig, die Mitbewegungen seitengleich.

Motorisch zeigten sich keine zentral-motorischen Paresen, bei den Halteversuchen keine Auffälligkeiten. Die Kraftentfaltung beim Faustschluss habe rechts 6 kg und links 39 kg betragen.

Psychisch sei der Kläger bewusstseinsklar und allseits orientiert gewesen, die Stimmungslage insgesamt noch ausgeglichen. Bei der Schilderung von Problemen am Arbeitsplatz scheine er deutlich emotional beteiligt zu sein. Das affektive Schwingungsvermögen sei regelhaft erhalten, wobei die Affektäußerung hinsichtlich Mimik, Gestik und Prosodie eher verhalten sei. Die Kontaktaufnahme erfolge regelrecht, das Mitteilungsvermögen sei ungestört. Für Störungen von Wahrnehmung, Konzentration, Merkfähigkeit, Antrieb und Psychomotorik bestünden keine Hinweise.

Die klinisch-neurologische Untersuchung habe an den Stümpfen DII bis DIV der rechten Hand zwar reizlose Narbenverhältnisse ergeben, allerdings jeweils neurosuspekte Tastbefunde mit neuromtypisch auslösbaren Schmerzen. Darüber hinaus seien Phantomschmerzen geschildert worden, die in Anbetracht der Amputationen zwanglos nachvollziehbar seien. Ferner sei eine dem Unfall nicht zuzuordnende Gefühlsminderung im Versorgungsgebiet des linken Nervus cutaneus femoris lateralis angegeben worden, die am ehesten dem adipösen Ernährungszustand geschuldet sei.

Der aktuelle psychische Befund zeige einen freundlichen und zugewandten, altersentsprechenden Mann, der insbesondere beim Erzählen der Arbeitsplatzsituation mit Erlebnissen bis hin zu gefühltem Mobbing deutlich emotional involviert gewesen sei, diesbezüglich eine Anpassungsstörung habe erkennen lassen. Dass gleichzeitig eine krankhafte Unfallfehlverarbeitung vorliege, habe sich nicht (mehr) erkennen lassen. Bei der Thematisierung des Unfallereignisses und seiner Folgen seien keine psychopathologisch auffälligen Reaktionsweisen festzustellen gewesen.

Bei den testpsychologischen Untersuchungen habe eine unzureichende Leistungsmotivation vorgelegen, sodass die Ergebnisse nicht im Krankheitssinne zu interpretieren seien.

Insgesamt seien die Befundauffälligkeiten damit Anpassungsstörungen im Hinblick auf die Arbeitssituation zuzuschreiben. Im Gespräch habe sich die Situation so dargestellt, dass keine Unfallfolgen mehr vorlägen, sondern die berufliche Konfliktsituation und damit einhergehend auch die berufliche Zukunft Ursache der psychischen Gesundheitsstörungen sei. Zwar bestünden keine psychisch bedingten Unfallfolgen mehr, indessen handele es sich bei Phantom- und Neuromschmerzen um jeweils typische außergewöhnliche Schmerzen, die üblicherweise unter Bezugnahme auf die üblichen Bewertungsstandards in der gesetzlichen Unfallversicherung zu einer MdE-Erhöhung führen könnten, dies auch in höherem Umfang, als bislang von M2 vorgeschlagen.

Mit Teilabhilfebescheid vom 6. Februar 2020 gewährte die Beklagte Verletztenrente nach einer MdE von 30 v. H.. Bei der MdE-Einschätzung mit 25 v. H. seien die bestehenden Amputationen mit Funktionseinschränkungen einschließlich der Hypersensibilität der Stümpfe und der neuromtypischen Hypersensibilität des Mittelfingers nur unzureichend berücksichtigt worden, sodass eine Erhöhung auf 30 v. H. erfolgt sei.

Den Widerspruch im Übrigen wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. März 2020 zurück. Die bestehenden Unfallfolgen rechtfertigten keine über eine MdE von 30 v. H. hinausgehende Bewertung.

Am 20. März 2020 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Die Beklagte hat zunächst eine weitere beratungsärztliche Stellungnahme des M2 vorgelegt. Danach bestehe an der rechten Hand des Klägers eine Überempfindlichkeit im Bereich der gebildeten Stümpfe mit dem Verdacht auf Neurome. Hieraus resultiere eine Funktionseinschränkung der rechten Hand. Die in der ersten Stellungnahme berücksichtigte, persistierende psychische Beeinträchtigung stehe laut L2 nicht in unmittelbaren Unfallzusammenhang, die Anpassungsstörung sei vielmehr auf die Arbeitsplatzsituation zurückzuführen. Berücksichtige man nun statt der unfallunabhängigen psychischen Beeinträchtigung die in der ersten Stellungnahme nicht aufgeführten Phantomschmerzen, sei die Einschätzung mit einer MdE von 30 v. H. weiterhin korrekt.

In den testpsychologischen Untersuchungen bei L2 habe sich eine unzureichende Leistungsmotivation gezeigt und in den Beschwerdevalidierungsverfahren habe sich ein erhöhter Wert mit undifferenzierter Bejahung unplausibler Symptome ergeben, sodass darauf hingewiesen worden sei, dass hinsichtlich der Beschwerdeangaben Vorbehalte angebracht seien. Die Phantomschmerzen seien durch L2 unmittelbar angesprochen worden. Elektrophysiologisch hätten höhergradige Armnervenschädigungen ausgeschlossen werden können.

Weiter hat das SG das neurologisch-psychiatrische Sachverständigengutachten des S1 aufgrund ambulanter Untersuchung vom 12. November 2020 erhoben. Diesem gegenüber hat der Kläger angegeben, Schlafprobleme zu haben, er könne schlecht ein- und durchschlafen. Es bestehe eine Grübelneigung, er denke über die Zukunft nach. Er sei ängstlich, wie es weitergehe. An der rechten Hand bestünden Sensibilitätsstörungen vor allem am Zeigefinger rechts, aber auch an DIII und DIV. Am Mittelfinger habe er eine vermehrte Empfindlichkeit und auch Schmerzen. Er denke, dass er jetzt an allen Fingern Neurome habe, eine weitere Operation wolle er nicht. Es bestünden Phantomschmerzen am Mittelfinger rechts, bei Kälte verstärkten sich die Beschwerden. Die Finger wärmten sich nicht mehr so schnell auf, es bestehe eine vermehrte Kälteempfindlichkeit. Das Schlimmste sei, dass er nicht mehr einschlafen könne und die Ängstlichkeit. Er gehe nicht mehr raus, fühle sich unwohl zwischen Menschen. Er habe sich zu Hause praktisch eingeschlossen. Nach dem Unfall sei er zunächst ein Jahr daheim gewesen, habe damals auch seine Hand versteckt. Aktuell habe er keine Schmerzen, die Schmerzen habe er bei Berührungen. Die Schmerzen verstärkten sich, wenn er etwas Kaltes anfasse.

Zum Unfallhergang habe der Kläger angegeben, dass sie zu dritt an einer Maschine gearbeitet und diese umgerüstet hätten. Einer der drei Arbeiter habe versehentlich gedacht, dass die Arbeiten abgeschlossen seien. Der Hubzylinder sei dann vorgefahren und er habe sich die rechte Hand eingequetscht. Eine weitere Verletzung werde verneint, eine Bewusstlosigkeit habe nicht bestanden. Der Kläger habe sich ausführlich darüber beschwert, dass von der Beklagten keine gutachterliche Untersuchung erfolgt sei. Ein anderer Arbeitskollege habe damals einen Vorschlag mit drei Gutachtern erhalten. Dieser habe seinen Mittelfinger verloren, habe auch eine MdE von 30 v.H., arbeite jetzt im Büro, sein Lohn werde ausgeglichen.

Den K1 suche der Kläger alle drei Monate auf, eine medikamentöse Behandlung finde mit Quetiapin 50 mg und Duloxetin 60 mg statt. Weiter werde bei Bedarf Novaminsulfon eingenommen.

Zum Tagesablauf habe der Kläger angegeben, im Drei-Schicht-System zu arbeiten. In seiner Freizeit schaue er fern und beschäftige sich mit dem Handy. Die Ehefrau habe einen Mini-Job, er helfe ein bisschen im Haushalt. Er habe schon noch Kontakte. Besondere Wochenendaktivitäten seien verneint worden, er unternehme etwas mit den Kindern, wie Spielen oder Fahrrad fahren. Der letzte Urlaub sei im Sommer 2020 in der Türkei gewesen. Er arbeite seit seinem 19. Lebensjahr im Drei-Schicht-System, die Schlafstörungen hätten vor dem Unfall nicht bestanden.

Die Stimmungslage habe der Kläger als schwankend beschrieben. Eine tageszeitliche Abhängigkeit der Stimmungslage oder ein episodenhafter Verlauf seien verneint worden. Konkret befragt nach der Diagnose „Depressionen“ habe der Kläger angegeben, dass solche nach dem Unfall bei ihm diagnostiziert worden seien. Er denke jeden Tag an den Unfall, da sich dadurch alles verändert habe. Eine manische Symptomatik sei von der Anamnese her nicht bekannt. Auf die Frage, ob alles besprochen sei, habe der Kläger einen Zettel hervorgeholt, auf dem handschriftlich Beschwerden notiert gewesen seien.

Neurologisch seien die Narben an DIII bis DIV reizlos gewesen, es bestehe eine Fehlstellung des Kleinfingers rechts. An den Fingerkuppen DII bis DV zeigten sich Sensibilitätsstörungen, an den DII und DIII würden Phantomschmerzen beklagt. Eine ausgeprägte Hypersensibilität könne nicht erhoben werden. Der Kläger könne rechts in Druckschrift schreiben, das Schriftbild sei zittrig, aber lesbar.

Psychisch sei der Kläger auskunftsbereit und kooperativ gewesen, die Sprache regelrecht moduliert und fest. Störungen des Bewusstseins, der Orientierung, der Auffassung und der Konzentration hätten nicht bestanden, ebenso keine solchen des Gedächtnisses. Daten seien teilweise nicht gut erinnerlich gewesen, für eine hirnorganisch bedingte psychische Symptomatik habe sich kein Anhalt ergeben. Eine Antriebsminderung oder eine psychomotorische Hemmung habe nicht vorgelegen. In der Grundstimmung wirke er unterschwellig gereizt, die affektive Resonanzfähigkeit sei eher zum negativen Pol verschoben, zum positiven aber nicht aufgehoben gewesen. Das formale Denken sei nicht verlangsamt und folgerichtig, eine Grübelneigung sei berichtet worden. Es lägen keine inhaltlichen Denkstörungen, keine Sinnestäuschungen und keine Ich-Störungen vor. Der Kläger habe ein sowohl somatisch als auch seelisch orientiertes Krankheitsgefühl, in seinen Äußerungen sei er vor allem auf die sozialen Fragen des Unfalls zentriert. In der Grundpersönlichkeit wirke er impulsiv veranlagt.

Die Schilderung des Unfalls und der Umstände sei sachlich, präzise und in vollständigen Sätzen ohne eine Sprachverlangsamung erfolgt. Es hätten sich keine Anhaltspunkte für eine irgendwie geartete psychovegetative Irritation gezeigt, insbesondere kein Zittern, keine vertiefte Atmung oder Hyperventilation, kein Schwitzen, Weinen und keine dissoziative Symptomatik. Es würden regelmäßig zwei Psychopharmaka eingenommen, daneben Novaminsulfon als Bedarfsmedikation. Es handele sich um eine Schmerztherapie der Stufe 1 nach den Richtlinien der WHO, der internistische Untersuchungsbefund sei unauffällig gewesen.

Manifeste neurologische Auffälligkeiten bestünden nicht. Die Sensibilitätsstörungen am linken Oberschenkel seien unfallunabhängig, weiterhin lägen solche an den Fingern der rechten Hand vor, insofern bestehe keine Diskrepanz zu den aktenkundigen Befunden.

Im psychischen Befund bestehe keine Antriebsminderung oder gar psychomotorische Hemmung. Der Kläger sei geistig gut flexibel ohne kognitive oder mnestische Defizite. Für eine hirnorganisch bedingte Symptomatik bestehe kein Anhalt. In der Grundstimmung wirke er unterschwellig gereizt, die affektive Resonanzfähigkeit sei nicht relevant eingeschränkt, eine emotionale Stumpfheit oder Hypervigilanz liege nicht vor. In seiner Grundpersönlichkeit wirke er impulsiv veranlagt, für eine Persönlichkeitsstörung oder eine sozialmedizinische Suchterkrankung ergebe sich kein Anhalt.

Auf psychiatrischem Fachgebiet sei keine Diagnose zu stellen. Es lägen seelische Beschwerden durch die psychosozialen Belastungsfaktoren vor. In der Psychiatrie gebe es den Begriff der „diagnostischen Schwelle“, der besage, dass eine psychische Störung erst dann zu diagnostizieren sei, wenn eine gewisse Mindestanzahl von Symptomen erfüllt sei bzw. eine entsprechende Ausgeprägtheit vorliege. Diese Diagnoseschwelle diene dazu, um physiologische Befindlichkeitsstörungen von einer psychiatrischen Erkrankung abzugrenzen. Die Schwerpunkte des Beschwerdebildes lägen auf handchirurgischem Fachgebiet. Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht habe die MdE immer bei kleiner 10 v. H. gelegen. Die Sensibilitätsstörungen seien aus handchirurgischer Sicht zu beurteilen. Der Bewertung von L2 hinsichtlich des Kausalzusammenhangs und der MdE sei zu folgen, soweit. S2 Anpassungsstörungen beschreibe, sei darauf hinzuweisen, dass solche definitionsgemäß zeitlich befristet seien. Abgesehen davon, dass keine relevante psychotraumatologische Diagnose zu stellen sei, müsse angemerkt werden, dass psychoreaktive Störungen wegen veränderter Lebensumstände auch nicht als Unfallfolge anzuerkennen seien, wenn die veränderten Lebensumstände wegen Unfallfolgen eingetreten seien.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG das Sachverständigengutachten der H1 aufgrund ambulanter Untersuchung vom 4. November 2022 erhoben. Dieser gegenüber hat der Kläger angegeben, immer wieder unter Angstzuständen zu leiden. Es bestünden wiederkehrende Erinnerungen an den Unfall und die damit in Zusammenhang stehenden Krankenhausaufenthalte. Die Ein- und Durchschlafstörungen schwankten. Er habe öfter das Gefühl verfolgt zu werden, er habe den Eindruck, jemand stehe hinter ihm und er spüre dessen Atem. Manchmal glaube er, Stimmen und Geräusche zu hören. Wenn er alleine sei, habe er den Eindruck, wenn er in den Spiegel schaue, sehe er eine andere, fremde Person hinter sich. Er nehme kein Essen mehr mit auf die Arbeit, da er Angst habe, dass ihm etwas „reingetan“ werde.

Nach dem Unfall habe sich alles verändert, Familie und Beruf. Er wolle nur in Ruhe gelassen werden, wolle einfach nur arbeiten gehen. Er habe das Gefühl, auf seiner Arbeit anders behandelt worden zu sein. Er habe viel unter Druck gestanden, aktuell habe er neue Chefs, dadurch habe sich die Situation verbessert, er werde in Ruhe gelassen.

Auch seine familiäre Situation habe sich verändert. Er gehe nicht mehr mit der Familie raus, meide große Menschenmengen. Er habe den Eindruck, alle seien nur auf den eigenen Profit aus. Er wolle nur seine Ruhe, spreche weniger mit seiner Familie. Er habe auch das Problem, dass er Schmerzen im Stumpf der Finger DII bis DIII rechts habe, vor allem im Winter bei Kälte. Die Schmerzen seien aber besser gegenüber dem Anfang geworden. Die Kraft der Hand sei eingeschränkt, das Greifen erschwert, da die Finger fehlten.

Es seien bei dem Unfall alle Finger in die Gießmaschine eingequetscht worden. Man habe versucht zwei Finger anzunähen, sie seien aber nicht angewachsen. Am Mittelfinger habe man es gleich nicht versucht. Nach ein bis zwei Wochen seien die Finger schwarz geworden und auch amputiert worden.

Das Gespräch mit der Psychologin habe ihm gut getan, er habe eigentlich genug von Ärzten. Er gehe zum Psychiater. Zu den Gesprächen gehe er nicht mehr, da die Beklagte es nicht mehr bezahle. Er habe Stress mit seiner Frau, gehe aber weiter zur Arbeit, dann sei er zufrieden. Er habe sonst keine Lust mehr, habe sich zurückgezogen, das finde seine Frau nicht gut. Er fühle sich nicht verstanden. Er komme einfach nicht damit klar, wie die Hand aussehe, für seine Frau sei es wohl gar nicht so schlimm. Er arbeite bei M1. Er habe Angst gehabt, dass man ihm etwas in der Tasche tue, er dann an der Pforte erwischt und gekündigt werde. Auf weitere Nachfrage sei keine Erklärung zu erhalten gewesen. Jetzt sei es besser, da die Führungsebene ausgetauscht worden sei. Das habe teilweise mit dem Unfall zu tun gehaben. Es seien wohl Vorschriften nicht eingehalten worden, er habe die Unfallberichte aber nicht gelesen. Die Unfall-Untersuchungsberichte seien von der Beklagten nicht herausgegeben worden.

Über den Unfalltag habe der Kläger nicht reden wollen. Auf Nachfrage habe er angegeben, dass ein Zylinder heraus gekommen sei, der ihm die Hand gequetscht habe. An einer ähnlichen Maschine habe ein Kollege vor ein bis zwei Jahren seine Mittelfinger verloren. Der Kläger habe sehr bedrückt und verschlossen gewirkt, weitere Angaben seien nicht erhältlich gewesen.

Zum Tagesablauf habe der Kläger angegeben, dass dieser je nach Schicht unterschiedlich sei. Er pendle 70 km zur Arbeit. Nach der Arbeit gehe er nach Hause, dort mache er „nichts“. Er esse etwas, dann ziehe er sich meist zurück. Wenn er alleine sei, grüble er auch viel. Hobbys würden verneint, selten mache er alleine kleine Spaziergänge. Er schaue regelmäßig fern, nutze keine sozialen Medien, schaue Nachrichten im Internet oder spiele Spiele. Zuletzt sei er im Sommer 2022 gemeinsam mit der Familie bei den Eltern in der Türkei gewesen. Dies sei positiv gewesen.

Neurologisch seien die Grundgelenke aller Langfinger der rechten Hand eingeschränkt beweglich, die grobe Kraft beim Faustschluss reduziert. Das Umfassen von Gegenständen und Festhalten durch Opposition von Langfinger und Daumen sei aufgrund der Amputation nicht mehr möglich. Halten, Gegenhalten und der Fingerschluss zwischen Daumen und Kleinfinger sei aufgrund der Deformierung und Instabilität im Kleinfinger nicht mehr mit Kraft möglich. Die rechte Hand zeige im Vergleich zu links im Bereich des Handrückens und der Langfinger, vor allem DII bis DIV, eine deutlich sichtbare Schwellungsneigung mit verstrichenen Hautfalten. Die Stümpfe stellten sich reizlos dar, die Kuppen der Stümpfe würden eingesetzt, was an der Beschwielung erkennbar sei. Seitlich an DII bis DIV seien Neurome tastbar, welche durch Berührung zu unangenehmen schmerzhaften Missempfindungen führten. Die Sensibilität im Bereich aller Fingerstümpfe sei herabgesetzt, Dysästhesie und Hypästhesie bestünden im Bereich des Kleinfingers rechts. Das Schmerz- und Temperaturempfinden im Bereich der Stümpfe sei reduziert. Die Feinmotorik der rechten Hand sei schwer gestört.

Psychisch sei der Kläger im Kontaktverhalten ängstlich, abwartend, später offen und zugänglich gewesen. Er sei bewusstseinsklar, zu allen Qualitäten uneingeschränkt orientiert. Aufmerksamkeit und Konzentration seien unbeeinträchtigt, der formale Gedankengang geordnet und normal. Der inhaltliche Gedankengang sei aktuell ohne Hinweis auf eine paranoide Umdeutung der Realität oder Verkennungen, Beziehungsideen oder Wahnerleben. In der Vorgeschichte bestünden paranoide Inhalte und Verfolgungsideen. Die Intelligenz sei orientierend unauffällig, das Auffassungsvermögen nicht auffällig reduziert. Das Kurz- und Langzeitgedächtnis sei nicht wesentlich beeinträchtigt, die Stimmung sei depressiv, bedrückt und resigniert. Die affektive Schwingungsfähigkeit zeige sich deutlich reduziert, eine Affektlabilität sei angegeben und im Gutachten beobachtet worden. Es bestünden Platzangst und Panikattacken nachts oder auch selten tagsüber mit Herzrasen und Hitzegefühlen. Der Antrieb sei reduziert, die Psychomotorik ruhig, das Selbstwertgefühl massiv reduziert. Die angegebene Wahrnehmung von einer „Person“ im Spiegel hinter sich sei nicht als Wahrnehmungsstörung zu werten, sondern kulturell als symbolisches Bild zu bewerten.

In den Testverfahren habe ein deutlicher Hinweis auf eine Depression bei einem erheblichen Unterschied zwischen Fremd- und Selbstbeurteilung bestanden. Hinweise auf eine hirnorganische Komponente oder Demenz hätten sich nicht ergeben. Im Essener Trauma-Inventar sei bei der Abfrage 1 in Teil 1 (Abfrage traumatisierender Ereignisse) der Unfall nicht angegeben worden.

Es sei zunächst eine ausführliche Anamnese erhoben worden, der Kläger habe hierbei mehrere Beschwerden angegeben. Die Beschwerdeschilderung sei wortkarg und der Kläger bei der Schilderung seines Befindens wie der Vorgänge um den Unfall und die Therapien stark emotional berührt gewesen. Glaubhaft angegeben worden seien weiterhin bestehenden Sensibilitätsstörungen im Bereich der amputierten Finger und des kleinen Fingers rechts im Sinne einer reduzierten Empfindlichkeit und eines reduzierten Tast- und Fühlvermögens der rechten Hand. Des Weiteren seien teilweise auftretende stumpfe Schmerzen angegeben worden, diese würden nachvollziehbar und typisch geschildert, sie verstärkten sich nach Angaben des Klägers bei Überlastung und Kälte. Ebenfalls kongruent sei die Schilderung, dass die Beschwerden zwischenzeitlich nachgelassen hätten. Passend zur Schilderung sei auch die gut sichtbare Beschwielung der Innenhand, welche deutlich zeige, welche Finger geschont würden. Man erkenne, dass die rechte Hand insgesamt wenig belastet werde. In der Untersuchung hätten Neurom-Knötchen seitlich an den Langfingerstümpfen getastet werden können. Diese führten teilweise spontan, häufiger bei Berührung und Druck zu schmerzhaft einschießenden Missempfindungen, was als typisch anzusehen sei. Die neurologischen Ausfallerscheinungen und die Störungen durch die Neurom-Knötchen seien mit Sicherheit auf den Unfall zurückzuführen.

Weiter würden psychische Beschwerden angegeben und eine wechselnde Stimmungslage, Rückzug, Freudlosigkeit, Verlust von Interessen, Aufgabe von Hobbys, der Verlust der körperlichen Integrität wie von Libido und Genussfähigkeit, depressive Gedanken, eingeschränkte Schwingungsfähigkeit und eine Affektlabilität beschrieben. Weiterhin würden bis heute anhaltend in bestimmten Triggersituationen Flashbacks vom Unfall und Intrusionen angegeben. Diese Symptome erfüllten nicht die diagnostischen Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), es bestehe aber weiterhin eine anhaltende Belastungsreaktion, die sich nahtlos an die bereits diagnostizierte Anpassungsstörung anschließe. Diese seien glaubhaft wie nachvollziehbar und ließen sich in der Aktenlage seit dem Unfall nachvollziehen. Es fänden sich zahlreiche Dokumente, die über die psychische Situation des Klägers, seine Verzweiflung, Resignation, Scham, Flash-backs, Intrusionen und weitere Beschwerden eindeutig Auskunft gäben. Diese zu berücksichtigen sei von den Vorgutachtern versäumt worden. Es handele sich hierbei um eine grobe Nachlässigkeit zum Nachteil des Klägers. Es sei der Kläger selbst gewesen, der im Anschluss an den Unfall psychische Probleme bei sich festgestellt habe. Hinweise auf eine vorbestehende psychische Problematik oder eine stumme Anlage fänden sich nicht. Der Unfall mit seinen schwerwiegenden Folgen stelle einen gravierenden Einschnitt sowohl gesundheitlich als auch psychisch dar. Die geschilderten körperlichen Folgen seien ohne das Unfallereignis nicht aufgetreten und seien in direktem Zusammenhang mit dem Unfall fachkundig festgestellt und dokumentiert. Eine handchirurgische Einschätzung der Folgen sei bereits vorgenommen und mit einer MdE von 30 v. H. berücksichtigt worden.

Die anhaltende Belastungsreaktion mit mittelgradig depressiven Symptomen sei ebenfalls auf den Unfall zurückzuführen. Es ergäben sich keine Hinweise auf zuvor bestehende psychische Krankheiten. Die Symptome seien in mehreren Berichten unabhängig voneinander nach dem Unfall dokumentiert worden. Die Symptome würden heute noch schlüssig und nachvollziehbar berichtet. Es sei aktuell eher von Dissimulation auszugehen. Hinweise auf Antwortverzerrungen oder Inkonsistenzen in der gesamten Anamnese hätten sich nicht ergeben. Lediglich die angegebene Medikation werde wohl nicht eingenommen (kein Spiegel).

Bei dem Karpaltunnelsyndrom links könne es sich um einen indirekten Zusammenhang mit den Unfallfolgen handeln, hervorgerufen durch die naturgemäße Mehrbeanspruchung der linken nach Schädigung der rechten Hand. Eine mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestehender alleiniger und direkter Zusammenhang bestehe nicht. Als zusätzliche unfallunabhängige Faktoren kämen auch die berufliche Belastung und eine anatomische Veranlagung in Frage.

Die anhaltende Belastungsreaktion mit mittelgradig depressiven Symptomen sei ebenfalls auf den Unfall zurückzuführen. Andere konkurrierende Ursachen bestünden nicht. Der Arbeitsplatz sei noch vorhanden, der Kläger arbeite weiter, die Familie bestehe weiterhin. Durch die psychische Veränderung, die unfallbedingt sei, komme es zu zusätzlichen Problemen und nicht umgekehrt. Psychotherapie sei gemacht worden. Eine Medikation werde wohl aktuell nicht mehr eingenommen, könne aber in geeigneten Form die aktuellen Beschwerden voraussichtlich bessern. Allerdings seien die Nebenwirkungen wie Libidoverlust, Müdigkeit, Reduktion des Reaktionsvermögens zu beachten, was die Auswahl schwierig mache. Die anhaltende Belastungsreaktion sei mit einer MdE von 30 v. H. zu bewerten, die Gesamt-MdE mit 50 v. H..

Der Bericht des L2 werfe einige Fragen auf und sei wegen schwerer Fehler inakzeptabel. Die von dem Kläger angegebenen Beschwerden würden sich im psychischen Befund in sonderbarer Weise nicht wiederfinden. L2 komme zu dem Schluss, dass eine Anpassungsstörung vorliege, halte hierfür aber nicht den Unfallhergang für verantwortlich, sondern eher die erheblichen Schwierigkeiten und Konflikte am Arbeitsplatz. Der von L2 erhobene psychiatrische Befund passe nicht zu der Anamnese und den vom Kläger gemachten Angaben. Eine Erklärung werde nicht versucht. L2 beschreibe auch keine psychische Vorerkrankung, komme dennoch zu dem überraschenden und unlogischen Schluss, die Beschwerden seien nicht unfallbedingt. Wie er zu dem Schluss komme, erkläre er nicht. Es sei davon auszugehen, dass all diese deutlich einschränkenden körperlichen und psychischen Beschwerden ohne die Unfallverletzung mit Sicherheit nicht aufgetreten wären. Bei den testpsychologischen Untersuchungen blieben ebenfalls viele Fragen offen. Durch das stark fehlerhafte und formal und fachlich unzureichende Gutachten des L2 seien beim Kläger nicht nur die erheblichen psychischen Folgen nicht anerkannt, sondern diesem auch künftige Therapien verwehrt worden. Durch diese fehlerhafte Einschätzung und die weiteren schweren Folgen für ihn sei es zu einer weiteren Chronifizierung der psychischen Symptomatik gekommen. Die bereits bestehende Resignation und das reduzierte Selbstwertgefühl sowie das Vertrauen seien dadurch weiter geschädigt worden. Die Einschätzung der Beklagten richte sich nach dem fehlerhaften Gutachten zum Nachteil des Klägers.

Das Sachverständigengutachten des S1 sei unlogisch und inkongruent. Angaben des Klägers seien wieder, wie bei L2, nicht berücksichtigt worden. Der Sachverständige habe selbst festgestellt, dass vor dem Unfall keine psychische Beeinträchtigung bestanden habe, was er auch nicht in Zweifel ziehe. Seine Einschätzung, dass nun keine psychische Erkrankung bestehe, sei nicht nachvollziehbar, ebenso, dass diese nach seiner Einschätzung eigentlich nicht vorhandene psychische Beeinträchtigung nicht auf den Unfall zurückzuführen sei. Es werde auch nicht erwähnt, diskutiert oder berücksichtigt, welche Wirkung und Indikation die bekannte Medikation habe, weiter warum diese seit dem Unfall genommen werde. Auch auf neurologischem Gebiet sei das Sachverständigengutachten nicht logisch. Es bleibe unbegründet, warum die Sensibilitätsstörung keine neurologische Ursache habe. Es handele sich unstreitig um Folgen von Schäden an den Nerven der Finger. Dass der Nerv im Bereich des Handgelenks nicht betroffen sei, erstaune nicht und stehe der Annahme einer Nervenschädigung im Bereich der Finger auch nicht entgegen. Man könne fast den Eindruck gewinnen, der Sachverständige sei zu seinen Schlüssen ohne die eigenen Erhebungen wie die Aktenlage zu kennen und zu berücksichtigen gekommen. Nach einer schwersten Quetschverletzung der Finger mit Amputation von drei Langfingern und schwerer Schädigung mit Instabilität des kleinen Fingers der rechten Hand bei einem Rechtshänder und anschließenden typisch geschilderten Sensibilitätsstörungen, Neurom- und Phantomschmerzen von einem „wahrscheinlichen“ Zusammenhang mit dem Unfall zu sprechen, sei nicht nur falsch, sondern auch fast zynisch.

Die Beklagte ist dem Sachverständigengutachten entgegengetreten und hat darauf hingewiesen, dass nach der einschlägigen Rentenliteratur nicht nachvollziehbar sei, wie eine Belastungsreaktion nach einem Zeitfenster von 5 Jahren noch Unfallfolge sein solle. Worauf die Einschätzung einer MdE von 30 v. H. gründe, erschließe sich ebenfalls nicht, zumal der Kläger im Drei-Schicht-System arbeite und von einem Sommerurlaub berichtet habe, der positiv erlebt worden sei.

Die Sachverständige H1 hat ergänzend gehört dargelegt, dass es sich bei der anhaltenden Belastungsreaktion um eine Störung des psychischen Befindens handele, die in Folge eines nicht oder nur schwer zu verarbeitenden Ereignisses eintrete. Eine akute Belastungsreaktion sei in der Tat rasch abklingend, es gebe aber auch anhaltende Anpassungsstörungen, im Falle des Klägers sei hierdurch eine mittelgradige depressive Symptomatik begründet. Das Karpaltunnelsyndrom sei seit Jahren als Berufskrankheit für Menschen mit körperlich anstrengenden Berufen anerkannt. In der Durchschnittsbevölkerung liege das Erkrankungsrisiko im Laufe des Lebens bei 10 %. Da der Kläger mit den Händen arbeiten müsse, sei sein Risiko auf ein Karpaltunnelsyndrom erhöht. Auch dies sei zunächst unfallunabhängig. Nun könne er aber statt bisher beide Hände nur vorwiegend die linke Hand einsetzen, insbesondere für Tätigkeiten mit Kraftaufwand, Faustschluss und ähnlichem sei er gezwungen, die linke Hand einzusetzen. Hierdurch erhöhe sich sein Risiko auf ein Karpaltunnelsyndrom. Diese Erhöhung aufgrund der unfreiwilligen Mehrbelastung der linken Hand sei unfallbedingt.

Die Beklagte hat erneut darauf hingewiesen, dass die Ausführungen neben der pauschalen Wiedergabe der ICD-Definitionen nur spekulativ und anhand der Rentenliteratur nicht zu erklären seien. Dies betreffe vor allem die Darstellungen zum Karpaltunnelsyndrom, das jetzt nach nicht nachvollziehbaren Angaben von BK-Definitionen als mögliche unfallbedingte Entwicklung dargestellt werde.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 7. Juli 2023 die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Abänderung des Bescheides vom 10. April 2019 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 6. Februar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2020 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 vom Hundert seit dem 14. Januar 2019 zu gewähren. Die Unfallfolgen an der rechten Hand seien mit einer MdE von 30 v. H. zu bewerten, da zusätzlich zum Finger-(teil-)Verlust Phantom- und Neuromschmerzen bestünden. Die Beklagte habe bereits eine psychische Belastungsreaktion berücksichtigt, nach Überzeugung der Kammer liege aber eine eigenständige MdE-relevante unfallabhängige Erkrankung vor. Die Sachverständige H1 habe schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass eine anhaltende Belastungsreaktion bestehe, die auch durch die Berichte in der Verwaltungsakte bestätigt werde. Eine solche habe L2 auch diagnostiziert, wenngleich er sie nicht auf den Unfall zurückführe. Die Unfallkausalität für die Belastungsreaktion sei gegeben, da keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass diese ohne das Ereignis eingetreten wäre. Hinweise auf eine vor dem Unfallereignis bestehende Erkrankung bestünden nicht. Vor dem Hintergrund der Ausführungen der Sachverständigen H1 seien die Feststellungen des S1, der eine Erkrankung auf psychiatrischem Fachgebiet verneine, nicht schlüssig. Die dokumentierte Medikation werde nicht hinterfragt, ebenso nicht die angegebene regelmäßige Vorstellung bei dem K1.

Am 2. August 2023 hat die Beklagte Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Es sei bereits im Teilabhilfebescheid vom 6. Februar 2020 darauf hingewiesen worden, dass eine psychische Belastungsreaktion unfallbedingt nicht mehr bestehe. Die Sachverständige H1 habe keinen Diagnoseschlüssel vergeben, in der ICD-10 Klassifikation finde sich auch keine anhaltende Belastungsreaktion als Diagnose, sondern lediglich eine akute Belastungsreaktion. Der Verweis auf die in der Verwaltungsakte beschriebene Anpassungsstörung überzeuge nicht, da dort eben keine anhaltende Belastungsreaktion als Diagnose genannt werde. Eine Anpassungsstörung beschreibe die Sachverständige gerade nicht. Weiter gebe es im Bereich des Arbeitsunfalls keine Beweisregel dahingehend, dass bei fehlender Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache sei, weil dies bei komplexen Krankheitsgeschehen zu einer Beweislastumkehr führe. Aus einem rein zeitlichen Zusammenhang und der Abwesenheit konkurrierender Ursachen könne bei komplexen Gesundheitsstörungen nicht automatisch auf die Wesentlichkeit der einen festgestellten naturwissenschaftlich-philosophischen Ursache geschlossen werden. Das SG berücksichtige auch nicht, dass sich die Sachverständige H1 in erster Linie auf subjektive Angaben, nicht aber auf objektive Befunde stütze. Die Kritik an dem Bericht über die Heilverfahrenskontrolle des L2 verfange nicht, im Übrigen habe sich die Sachverständige H1 nicht mit den Beweisgrundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung auseinandergesetzt. Dass die Sachverständige selbst darauf hinweise, dass der Kläger beim Essener-Trauma-Inventar-Test den Unfall gar nicht angegeben habe, werde von ihr nicht gewürdigt. Die Sachverständige setze sich nicht damit auseinander, dass die Spiegelbestimmung keine Anhaltspunkte dafür ergeben habe, dass die Medikamente weiter eingenommen würden. Letztlich sei die MdE-Einschätzung nicht nachvollziehbar, da hierbei das Bestehen einer Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ausgehend von den konkreten Funktionseinbußen beurteilt werden müsse. Funktionseinschränkungen, die zu einer MdE von 30 v. H. führten, benenne die Sachverständige H1 indessen nicht.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 7. Juli 2023 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

            die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Er verweist auf die angefochtene Entscheidung. Die Sachverständige H1 habe schlüssig begründet, weshalb eine chronische Belastungsreaktion bei chronischen Schmerzen nach Fingeramputation vorliege. Weshalb auf psychiatrischem Fachgebiet eine Teil-MdE von 30 v. H. anzunehmen sei und sich eine Gesamt-MdE von 50 v. H. ergebe, werde von der Sachverständigen H1 dargelegt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung der Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG), ist statthaft (§§ 143, 144 SGG), auch im Übrigen zulässig und begründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 7. Juli 2023, mit dem die Beklagte auf die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) verurteilt worden ist, unter Abänderung des Bescheides vom 10. April 2019 in der Fassung des Teilabhilfebescheides (§ 86 SGG) vom 6. Februar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§ 95 SGG) vom 10. März 2020 Verletztenrente nach einer MdE von 50 v. H. seit dem 14. Januar 2019 zu gewähren. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Kommentar zum SGG, 14. Aufl. 2023, § 54 Rz. 34), ohne eine solche derjenige der Entscheidung.

Die Begründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 10. April 2019 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 6. Februar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Zur Überzeugung des Senats kann er die Gewährung einer höheren Verletztenrente als nach einer MdE von 30 v. H. nicht beanspruchen. Den Ausführungen der Sachverständigen H1 konnte sich der Senat nicht anschließen, nachdem deren Schlussfolgerungen überwiegend auf subjektiven Beschwerdeangaben resultieren und eine hinreichende Objektivierung vermissen lassen sowie daneben die – rechtliche – MdE-Bewertung mit den einschlägigen Bewertungsgrundsätzen nicht korrespondiert, worauf die Beklagte zu Recht hingewiesen hat. Das SG hätte der Klage daher nicht entsprechen dürfen, sondern sie abweisen müssen.

Anspruchsgrundlage für die Gewährung einer Verletztenrente ist § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Danach haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls (§§ 8, 9 SGB VII) über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, Anspruch auf Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern (§ 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII).

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Um das Vorliegen der MdE beurteilen zu können, ist zunächst zu fragen, ob das aktuelle körperliche oder geistige Leistungsvermögen beeinträchtigt ist. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang dadurch die Arbeitsmöglichkeiten der versicherten Person auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vermindert werden. Entscheidend ist, in welchem Ausmaß Versicherte durch die Folgen des Versicherungsfalls in ihrer Fähigkeit gehindert sind, zuvor offenstehende Arbeitsmöglichkeiten zu ergreifen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 123). Die Bemessung des Grades der MdE erfolgt als Tatsachenfeststellung des Gerichts, die dieses gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (vgl. BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 – B 2 U 5/10 R –, SozR 4-2700 § 200 Nr. 3, Rz. 16 m. w. N.). Die zur Bemessung der MdE in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind dabei zu beachten. Sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen ständigem Wandel (vgl. BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 – B 2 U 14/03 R –, juris, Rz. 12).

Die Einschätzung der MdE setzt voraus, dass der jeweilige Versicherungsfall eine Beeinträchtigung des Leistungsvermögens hervorgerufen hat, entweder durch einen unfallbedingten Gesundheitserst- oder einen damit im Ursachenzusammenhang stehenden Gesundheitsfolgeschaden.

Die unfallversicherungsrechtliche Zurechnung setzt erstens voraus, dass die Verrichtung der versicherten Tätigkeit den Schaden, gegebenenfalls neben anderen konkret festgestellten unversicherten (Wirk-)Ursachen, objektiv (mit-)verursacht hat. Für Einbußen der Verletzten, für welche die versicherte Tätigkeit keine (Wirk-)Ursache war, besteht schlechthin kein Versicherungsschutz und haben die Trägerinnen der gesetzlichen Unfallversicherung nicht einzustehen. (Wirk-)Ursachen sind nur solche Bedingungen, die erfahrungsgemäß die in Frage stehende Wirkung ihrer Art nach notwendig oder hinreichend herbeiführen. Insoweit ist Ausgangspunkt der Zurechnung die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie, nach der schon jeder beliebige Umstand als notwendige Bedingung eines Erfolges gilt, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele („conditio sine qua non“). Im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung muss eine versicherte Verrichtung, die im Sinne der „Conditio-Formel“ eine erforderliche Bedingung des Erfolges war, darüber hinaus in seiner besonderen tatsächlichen und rechtlichen Beziehung zu diesem Erfolg stehen. Sie muss (Wirk-)Ursache des Erfolges gewesen sein, muss ihn tatsächlich mitbewirkt haben und darf nicht nur eine im Einzelfall nicht wegdenkbare zufällige Randbedingung gewesen sein.

Ob die versicherte Verrichtung eine (Wirk-)Ursache für die festgestellte Einwirkung und die Einwirkung eine (Wirk-)Ursache für den Gesundheitserstschaden (oder den Tod) war, ist eine rein tatsächliche Frage. Sie muss aus der nachträglichen Sicht („ex post“) nach dem jeweils neuesten anerkannten Stand des Fach- und Erfahrungswissens über Kausalbeziehungen, gegebenenfalls unter Einholung von Sachverständigengutachten, beantwortet werden (vgl. dazu BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 – B 2 U 9/11 R –, SozR 4-2700 § 8 Nr. 44, Rz. 61 ff.).

Eine Verrichtung ist jedes konkrete Handeln von Verletzten, das objektiv seiner Art nach von Dritten beobachtbar und subjektiv, also jedenfalls in laienhafter Sicht, zumindest auch auf die Erfüllung des Tatbestandes der jeweiligen versicherten Tätigkeit ausgerichtet ist. Als objektives Handeln der Verletzten kann es erste Ursache einer objektiven Verursachungskette sein. Diese kann über die Einwirkung auf den Körper, über Gesundheitserstschäden oder den Tod hinaus bis zu unmittelbaren oder im Sinne von § 11 SGB VII, der für die zweite Prüfungsstufe andere Zurechnungsgründe als die Wesentlichkeit regelt, mittelbaren Unfallfolgen sowie auch zur MdE reichen, derentwegen das SGB VII mit der Rente ein Leistungsrecht vorsieht (vgl. BSG, a. a. O., Rz. 31).

Erst wenn die Verrichtung, die möglicherweise dadurch verursachte Einwirkung und der möglicherweise dadurch verursachte Erstschaden festgestellt sind, kann und darf auf der ersten Prüfungsstufe der Zurechnung, also der objektiven Verursachung, über die tatsächliche Kausalitätsbeziehung zwischen der Verrichtung und der Einwirkung mit dem richterlichen Überzeugungsgrad mindestens der Wahrscheinlichkeit entschieden werden. Es geht hierbei ausschließlich um die rein tatsächliche Frage, ob und gegebenenfalls mit welchem Mitwirkungsanteil die versicherte Verrichtung, gegebenenfalls neben anderen konkret festgestellten unversicherten (Wirk-)Ursachen, eine (Wirk-)Ursache der von außen kommenden, zeitlich begrenzten Einwirkung auf den Körper von Versicherten war (vgl. BSG, a. a. O., Rz. 32).

Zweitens muss der letztlich durch die versicherte Verrichtung mitbewirkte Schaden rechtlich auch unter Würdigung unversicherter Mitursachen als Realisierung einer in den Schutzbereich der begründeten Versicherung fallenden Gefahr, eines dort versicherten Risikos, zu bewerten sein. Denn der Versicherungsschutz greift nur ein, wenn sich ein Risiko verwirklicht hat, gegen das die jeweils begründete Versicherung Schutz gewähren soll (vgl. BSG, a. a. O., Rz. 33).

Wird auf der ersten Stufe die objektive (Mit-)Verursachung bejaht, indiziert dies in keiner Weise die auf der zweiten Stufe der Zurechnung rechtlich zu gebende Antwort auf die Rechtsfrage, ob die Mitverursachung der Einwirkung durch die versicherte Verrichtung unfall-versicherungsrechtlich rechtserheblich, also wesentlich, war. Denn die unfallversicherungs-rechtliche Wesentlichkeit der (Wirk-)Ursächlichkeit der versicherten Verrichtung für die Einwirkung muss eigenständig rechtlich nach Maßgabe des Schutzzweckes der jeweils begründeten Versicherung beurteilt werden (vgl. BSG, a. a. O., Rz. 34). Sie setzt rechtlich voraus, dass der Schutzbereich und der Schutzzweck der jeweiligen durch die versicherte Verrichtung begründeten Versicherung durch juristische Auslegung des Versicherungstat-bestandes nach den anerkannten Auslegungsmethoden erkannt werden. Insbesondere ist festzuhalten, ob und wie weit der Versicherungstatbestand gegen Gefahren aus von ihm versicherten Tätigkeiten schützen soll (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 15. Mai 2012 – B 2 U 16/11 R –, SozR 4-2700 § 2 Nr. 21, Rz. 21 ff.). Nur wenn beide Zurechnungskriterien bejaht sind, erweist sich die versicherte Verrichtung als wesentliche Ursache (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 – B 2 U 9/11 R –, SozR 4-2700 § 8 Nr. 44, Rz. 37).

Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt für die Beweiswürdigung bei der Tatsachenfeststellung, dass die Tatsachen, die solche Gesundheitsschäden erfüllen, im Grad des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen müssen. Demgegenüber genügt für den Nachweis der naturphilosophischen Ursachenzusammenhänge zwischen der versicherten Einwirkung und einem Gesundheitserstschaden sowie zwischen einem Gesundheitserst- und einem Gesundheitsfolgeschaden der Grad der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die Glaubhaftmachung und erst Recht nicht die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteile vom 2. April 2009 – B 2 U 9/07 R –, juris, Rz. 16 und vom 31. Januar 2012 – B 2 U 2/11 R –, SozR 4-2700 § 8 Nr 43, Rz. 17).

Das Bestehen einer Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens muss ausgehend von konkreten Funktionseinbußen beurteilt werden. Soweit die MdE sich nicht ausnahmsweise unmittelbar aus den Unfallfolgen erschließt, bilden festgestellte und eindeutig nach gängigen Diagnosesystemen (z. B. ICD-10, DSM-IV) konkret zu bezeichnende Krankheiten (vgl. BSG, Urteile vom 9. Mai 2006 – B 2 U 1/05 R –, BSGE 96, 196 <203> und vom 15. Mai 2012 – B 2 U 31/11 R –, juris, Rz. 18; Urteile des Senats vom 26. November 2015 – L 6 U 50/15 –, juris, Rz. 48 m. w. N. und vom 17. März 2016 – L 6 U 4796/13 –, juris, Rz. 37), wobei von einem normativ-funktionalen Krankheitsbegriff auszugehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 27. Juni 2017 – B 2 U 17/15 R –, juris, Rz. 22 m. w. N.), die Tatsachengrundlage, von der ausgehend die Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Leistungsvermögens auf dem Gebiet des gesamten Erwerbslebens zu beurteilen ist (BSG, Urteil vom 18. Januar 2011 – B 2 U 5/10 R –, SozR 4-2700 § 200 Nr 3, Rz. 17 m. w. N.).

Ausgehend von diesen Maßstäben hat die Beklagte mit dem Bescheid vom 10. April 2019 – für den Senat bindend (vgl. § 77 SGG) – die Quetschverletzung der rechten Hand des Klägers mit Finger-(teil-) Amputation vom 15. Januar 2018 als Arbeitsunfall anerkannt und eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 v. H. auf Dauer gewährt.

Dabei hat sie berücksichtigt, dass nach den einschlägigen Erfahrungssätzen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 609) eine Amputation der Langfinger DII bis DV auf Höhe der distalen Grundglieder zu einer MdE von 35 v. H. (Abb. 4.18) und eine solche auf Höhe der distalen Grundglieder DII bis DIV zu einer MdE von 25 v. H. (Abb. 3.31) führt. Hierzu hat der Beratungsarzt der Beklagten M2, dessen beratungsärztliche Stellungnahme im Verwaltungsverfahren der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet (§ 118 Abs. 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung [ZPO]), überzeugend herausgearbeitet, dass beim Kläger sowohl der Kleinfinger erhalten ist, als auch die Mittelgelenke an den Fingern DII und DIV, sodass zunächst günstigere Verhältnisse vorliegen als beim Verlust von vier Fingern bzw. drei Fingern im Grundglied. Allerdings hat er weiter in Rechnung gestellt, dass die einschlägigen Erfahrungssätze von gut einsetzbaren Amputationsstümpfen ohne Durchblutungs- und Sensibilitätsstörungen ausgehen, sowie davon, dass keine Neurome vorhanden sind und sich die vorhandenen Gelenke in der Bewegung frei zeigen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 604). Vor diesem Hintergrund hat er schlüssig aufgezeigt, dass aufgrund der Überempfindlichkeit durch die Neurome, der persistierenden psychischen Beeinträchtigung, der Wackelsteifigkeit der Gelenke und der Bewegungseinschränkungen an DV eine Erhöhung der MdE gerechtfertigt ist, aber auch dadurch kein Zustand erreicht wird, der einem vollständigen Verlust von vier Fingern im Grundgelenk entspricht. Nachvollziehbar hat er die MdE daher auf 30 v. H. eingeschätzt und die Beklagte ist dieser Einschätzung gefolgt. An dieser Beurteilung hat er in seiner weiteren Stellungnahme im Klageverfahren, die der Senat als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen verwertet, mit dem Hinweis darauf festgehalten, dass selbst wenn nur unfallunabhängige psychische Beeinträchtigungen gegeben sind, jedenfalls die Phantomschmerzen eine entsprechende Bewertung weiterhin rechtfertigen.

Eine eigenständige unfallbedingte psychische Erkrankung besteht daneben zur Überzeugung des Senats nicht, sodass eine solche bei der MdE-Bemessung nicht zu berücksichtigt ist. Der Sachverständige S1 hat schlüssig herausgearbeitet, dass bei dem Kläger zwar seelische Beschwerden aufgrund psychosozialer Belastungsfaktoren bestehen, die aber schon die diagnostische Schwelle nicht überschreiten. Daneben hat er aufgezeigt, dass der Kläger zu einer sachlichen Schilderung des Unfalls in der Lage gewesen ist und keine psychovegetativen Irritationen auftraten. Dies korrespondiert mit den Feststellungen desL2, dessen Bericht über die Heilverfahrenskontrolle im Verwaltungsverfahren der Senat im Wege des Urkundsbeweises verwertet, dass sich bei dem Kläger keine krankhafte Unfallverarbeitung zeigte und es bei der Thematisierung des Unfallereignisses und seiner Folgen zu keinen auffälligen psychopathologischen Reaktionsweisen gekommen ist. Vielmehr zeigte sich der Kläger nur bei der Beschreibung der Arbeitsplatzsituation emotional involviert, was L2 als bezüglich der Arbeitsplatzsituation bestehende Anpassungsstörung bewertet hat. Das affektive Schwingungsvermögen ist von ihm als erhalten und die Stimmungslage als noch ausgeglichen befundet worden. Nur bei der Schilderung von Problemen am Arbeitsplatz zeigte sich eine emotionale Beteiligung, sodass die Schlussfolgerung des L2 mit den von ihm erhobenen Befunde in Einklang stehen. Weiter ist hierdurch die Einschätzung des L1, dass sich eine fraglich unfallabhängige psychische Überlagerung gezeigt hat, fachärztlich bestätigt worden. Bereits L1 hat nämlich aufgezeigt, dass der Kläger angegeben hat, sich am Arbeitsplatz unfair behandelt zu fühlen und misstrauisch gegenüber dem Betrieb zu sein. Dies korrespondiert mit seiner Befunderhebung, die derjenigen der BGU T1 entspricht, nach der von einer erfolgreichen Arbeitserprobung ausgegangen worden ist, die Unfallfolgen der Wiederaufnahme der Tätigkeit also nicht entgegenstanden. Dies wird dadurch untermauert, dass der Kläger seine Tätigkeit auch weiterhin ausübt.

Der fachärztlichen Beurteilung der L2 und S1 stehen die Ausführungen der S2 nicht entgegen. Diese hat den Kläger ebenfalls darauf hingewiesen, dass ein guter Dialog mit dem Arbeitgeber notwendig ist und hat ausgeführt, dass dieser durch die Neupositionierung am Arbeitsplatz und die seiner Auffassung nach unzureichende Kommunikation verunsichert ist, was sich in der Untersuchung bei S1 nochmals bestätigt hat. Diesem gegenüber hat sich der Kläger darüber beschwert, dass die Beklagte keine Untersuchung veranlasst habe und ein Arbeitskollege, der einen Mittelfinger verloren habe, im Betrieb umgesetzt worden sei, Verletztenrente nach einer MdE von 30 v. H. und Lohnausgleich erhalte. Dass der Kläger sich weiter dadurch belastet sieht, dass ihm der – betriebliche – Unfallbericht nicht zugänglich gemacht wurde, sieht S1 zu Recht ebenfalls nicht als bewertungsrelevant an. Ob seitens der Beklagten eine intensivere Begleitung der Wiedereingliederung wünschenswert gewesen wäre, worauf S2 hinweist, ist nicht entscheidungserheblich und kann dahinstehen.

Das Sachverständigengutachten der H1 überzeugt demgegenüber nicht. Die Beklagte moniert zu Recht, dass sich diese schon nur auf subjektive Angaben des Klägers stützt und diese nicht hinterfragt. Während der Kläger nämlich bei L2 und S1 jeweils in der Lage gewesen ist, ohne für die Fachärzte erkennbare psychopathologische Irritation über das Unfallereignis und seine Folgen zu berichten, hat er gegenüber der Sachverständigen H1 nur angegeben, über den Unfalltag nicht erzählen zu wollen und deshalb nur spärliche Angaben gemacht. Nur auf diese stützt die Sachverständige ihre Schlussfolgerungen, ohne sich mit den Vorbefunden – und der dort problemlos möglichen Schilderung des Unfallereignisses – auch nur ansatzweise auseinanderzusetzen. Sie geht damit von nur unzureichend objektivierten Anknüpfungstatsachen aus, sodass ihre Kritik an den vorausgegangenen Bewertungen schon deshalb fehl geht. Entsprechendes gilt dafür, wenn sie unkritisch angegebene Triggersituationen, Flash-backs vom Unfall und Intrusionen ihrer Beurteilung zu Grunde legt.

Dass S2  beschrieben hat, dass es dem Kläger im Laufe der Therapie gelungen ist, seine Hand im privaten Kontext zu zeigen und sich selbst an die optische Entstellung zu gewöhnen, wird von der Sachverständigen H1 nicht gewürdigt, sondern sie geht auch hier nur von den – gegenteiligen – Angaben des Klägers aus, ohne diese zu hinterfragen. Ebenso setzt sie sich nicht damit auseinander, dass L1 und die BGU T1 eine erfolgreiche Belastungserprobung beschrieben haben, die Unfallfolgen selbst den Kläger also an der Wiederaufnahme der Tätigkeit nicht hinderten, sondern die Problematik am Arbeitsplatz darin bestand, dass der Kläger offensichtlich eine andere Erwartungshaltung an den Arbeitgeber hatte. In diesem Zusammenhang hätte sich die Sachverständige damit zu befassen gehabt, dass der Kläger selbst eine Besserung der beruflichen Situation durch neue Chefs beschrieben hat, was ebenfalls unterblieben ist. Letztlich hätte das von der Sachverständigen selbst erhobene Essener Trauma Inventar, in dem der Kläger bei der Frage nach belastenden Ereignissen den Arbeitsunfall nicht einmal angegeben hat, Veranlassung geboten, sich mit dem Unfallzusammenhang der geklagten Beschwerden eingehend auseinanderzusetzen, wie dies insbesondere S1 getan hat. Es überzeugt daher schon aus tatsächlichen Gründen nicht, wenn sie von einer sich nahtlos an den Unfall anschließenden Belastungsreaktion ausgeht und diese dem Unfallereignis zuschreibt. Inwieweit ihre diagnostischen Einordnungen von den Vorgaben der ICD-10 getragen werden, was seitens der Beklagte mit beachtlichen Argumenten bezweifelt wird, kann deshalb dahinstehen.

Die Angaben des Klägers, dass er Angst habe, dass ihm im Betrieb etwas ins Essen getan werde oder ihm etwas in die Tasche gesteckt werde, um ihn kündigen zu können, werden von der Sachverständigen H1 nicht hinterfragt, sondern sie beschränkt sich darauf mitzuteilen, dass keine näheren Angaben zu erhalten gewesen seien. Nachdem der Arbeitsunfall in einer mechanischen Schädigung der Hand bestand und nicht etwa in einer Vergiftung, wäre zum einen zu erörtern gewesen, wie die angegebene Angst, dass ihm etwas ins Essen getan werde, in einen Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall zu bringen sein soll. Entsprechendes gilt für die angegebene Platzangst. Zum anderen wäre darzulegen gewesen, welche Anhaltspunkte dafür bestehen sollten, dass die Arbeitgeberin den Kläger nicht weiter beschäftigen wolle. Die tatsächlich – und erfolgreich – durchgeführte Wiedereingliederung belegt vielmehr das Gegenteil.

Die Ausführungen der Sachverständigen H1 zu den Unfallfolgen an der Hand sind ebenso nicht nachvollziehbar. Dass es durch den Fingerteilverlust zu einer Einschränkung der Feinmotorik kommt, ist ebenso offensichtlich wie, dass die Kraft gemindert wird. Ihr Rückschluss auf eine faktische Gebrauchsunfähigkeit der Hand wird dadurch aber nicht getragen. Tatsache ist nämlich, dass die BGU T1 schon im April 2018 beschrieben hat, dass der Kläger Gegenstände wieder fest greifen, einen Flaschendrehverschluss mit der rechten Hand öffnen und einen Kugelschreiber halten konnte. Korrespondierend hierzu hat S1 erhoben, dass der Kläger mit der rechten Hand zumindest in Druckbuchstaben lesbar schreiben kann und sich bei der Untersuchung durch L2 die Muskulatur an beiden Armen seitengleich und kräftig ausgeprägt zeigte. Dies spricht für einen tatsächlichen Einsatz der rechten Hand und wird dadurch untermauert, dass der Kläger nicht nur täglich 70 km mit dem Auto zur Arbeit fährt, sondern sich in seiner Freizeit mit seinem Handy, dann noch mit Spielen, beschäftigen kann. Das unterstreicht, dass die Feinmotorik erhalten geblieben ist. Die Sachverständige H1 hat dazu passend selbst reizlose Stümpfe beschrieben und sogar darauf hingewiesen, dass der tatsächliche Einsatz der Hand durch die Beschwielung erkennbar wird. Die Richtigkeit dieser Feststellungen wird durch den Hinweis des L1 untermauert, dass der Kläger ihm zur Begrüßung die rechte Hand gereicht hat, was diesen überraschte.

Weiter setzt sich die Sachverständige H1 mit ihrem eigenen Befund, dass der Hinweis auf eine Depression im Testverfahren einen Unterschied in der Eigen- und Fremdbeurteilung ergeben hat, ebenso wenig auseinander wie mit der Tatsache, dass die angegebene Medikation, die S1 noch berücksichtigt hatte, nach dem erhobenen Spiegel offenbar gar nicht eingenommen wird. Auch das niedrigfrequente Aufsuchen des Psychiaters nur alle drei Monate spricht eine deutliche Sprache, nämlich offensichtlich keinen Leidensdruck. In diesem Zusammenhang ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass sich schon bei L2 eine nur unzureichende Leistungsmotivation des Klägers bei den testpsychologischen Untersuchungen zeigte, sodass diese als nicht verwertbar beurteilt worden sind.

Unabhängig von der Unfallkausalität der Beschwerden spricht beides gegen einen deutlich ausgeprägten pathologischen Befund, wie ihn die Sachverständige sehen will. Daneben würdigt die Sachverständige nicht, dass der Kläger in der Lage ist, 70 km zur Arbeit zu pendeln, im Drei-Schicht-System zu arbeiten und regelmäßige Fernreisen in die Türkei zu unternehmen. Weiter hat er bei S1 noch über regelmäßige Unternehmungen mit den Kindern an den Wochenenden sowie regelmäßiges Fernsehen und das Lesen der Nachrichten im Internet berichtet, so dass die Medien weiter genutzt werden. Zu Unrecht meint die Sachverständige H1 weiter, allein aus dem Fehlen von Vorbefunden auf ihrem Fachgebiet auf eine Unfallkausalität schließen zu können. Sie verkennt dabei, dass das Unfallereignis rechtlich wesentliche Ursache für die Beschwerden sein muss, was bei dem Kläger nach den überzeugenden differentialdiagnostischen Überlegungen von L2 und S1 gerade nicht der Fall ist.

Aus Vorstehendem folgt gleichzeitig, dass der – rechtlichen – Bewertung der MdE durch die Sachverständige mit 30 v. H. auf ihrem Fachgebiet nicht gefolgt werden kann. Die Sachverständige verkennt, dass sich die MdE nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens richtet (vgl. § 56 Abs. 2 SGB VII), sie aber keine Befunde erhoben hat, aufgrund derer plausibel wäre, dass dem Kläger – unabhängig von den Verletzungen an der rechten Hand – 30 v. H. der Tätigkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens verschlossen sein sollen. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass er sogar in sein altes Arbeitsumfeld hat zurückkehren können. S1 hat vor diesem Hintergrund zu Recht ausgeführt, dass die MdE auf neurologisch-psychiatrischen Fachgebiet durchgehend mit unter 10 v. H. zu bewerten ist. Die neurologischen Folgen der Teilamputationen ebenso wie die damit verbundenen Schmerzen sind auf handchirurgischen Gebiet zu bewerten, was M2 dazu veranlasst hat, die MdE auf 30 v. H. zu erhöhen. Befunde, die eine weitergehende Erhöhung rechtfertigen würden, wie sie L2 noch in den Raum gestellt hat, sind von S1 nicht erhoben worden. Insbesondere hat dieser nur eine Schmerzmedikation nach Stufe 1 der WHO beschrieben. Es kann deshalb dahinstehen, dass auch die von der Sachverständigen H1 angenommene Gesamt-MdE von 50 v. H. weder von der Befundlage getragen wird noch den Bewertungsvorgaben entspricht.

 

Auf die Berufung der Beklagten war daher der Gerichtsbescheid des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt das Unterliegen des Klägers in beiden Instanzen.

 

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

 

Rechtskraft
Aus
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