L 9 SO 314/23 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 11 SO 207/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 314/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 30.10.2023 wird zurückgewiesen.

 

Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

 

 

Gründe

 

I.

 

Die Antragstellerin begehrt die Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme von Zahnbehandlungskosten einschließlich Zahnersatz im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Sie verletzte sich im Rahmen eines Grand-Mal-Anfalles am 03.01.2019 an ihren Zähnen. Die Antragstellerin macht geltend, die Notversorgung im Anschluss an ihren Unfall sei langfristig unzureichend, sie benötige besonders aufgrund ihrer Epilepsie-Erkrankung eine langfristig stabile Implantatversorgung ihrer Zähne.

 

Das im hiesigen Verfahren verfolgte Begehren der Antragstellerin war bereits Gegenstand von Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes beim LSG Nordrhein-Westfalen gegen den LVR, die erfolglos geblieben sind (LSG Nordrhein-Westfalen Beschlüsse vom 03.02.2020 – L 20 SO 428/19 B ER und vom 15.01.2021 – L 20 SO 259/20 B ER sowie Beschlüsse des Senates vom 07.07.2022 – L 9 SO 161/22 B ER und vom 26.09.2022 – L 9 SO 266/22 B ER). Ebenfalls erfolglos geblieben sind einstweilige Rechtsschutzverfahren mit diesem Begehren gegen die zuständige Krankenkasse (LSG Berlin-Brandenburg Beschlüsse vom 28.10.2019 – L 1 KR 357/19 B ER, vom 09.03.2020 – L 1 KR 106/20 B ER und vom 10.11.2020 – L 28 KR 358/20 B ER). Gegen die letztgenannte Entscheidung hatte die Antragstellerin erfolglos Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt (BVerfG Beschluss vom 13.10.2020 – 1 BvR 2207/20). Eine Klage der Antragstellerin gegen die Krankenkasse auf Übernahme der Kosten für die Zahnbehandlung hatte ebenfalls keinen Erfolg (SG Berlin Urteil vom 25.11.2021 – S 72 KR 3707/19; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 09.06.2022 – L 14 KR 11/22; BSG Beschluss vom 21.06.2023 – B 1 KR 20/23 B).

 

Mit Bescheid vom 25.09.2023 lehnte der Antragsgegner den Antrag der Antragstellerin auf Übernahme von Zahnbehandlungskosten in ihrem Aufenthaltsland Spanien als Leistung der Eingliederungshilfe ab. Mit Beschluss vom 30.10.2023 hat das Sozialgericht Münster einen entsprechenden Eilantrag der Antragstellerin abgelehnt, weil kein Rückkehrhindernis iSd § 101 Abs. 1 Satz 2 SGB IX gegeben sei. Hiergegen hat die Antragstellerin am 31.10.2023 Beschwerde erhoben. Sie trägt vor, in Verbindung mit ihrer Epilepsieerkrankungen liege durch die bislang nur unzureichende Versorgung ihrer Zähne ein lebensbedrohlicher Zustand vor, dem durch die begehrte Leistung im Rahmen der Eingliederungshilfe dringend abgeholfen werden müsse. Es sei Gefahr im Verzug.

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.01.2014 hat der Antragsgegner den Widerspruch der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 25.09.2023 zurückgewiesen. Anhaltspunkte dafür, dass zum jetzigen Zeitpunkt ohne die beantragte Zahnbehandlung und die Anfertigung eines Zahnersatzes akute, irreversible Schäden für die Gesundheit der Antragstellerin bestünden, seien nicht erkennbar. Ihr Kostenübernahmeantrag resultiere aus einer Verletzung mehrerer Zähne im Oberkiefer aufgrund eines Sturzes Anfang des Jahres 2019. Unmittelbar nach dem Unfall seien aber bereits eine Notbehandlung sowie die Versorgung mit einem Provisorium erfolgt, das die Antragstellerin bis zum jetzigen Zeitpunkt trage.

 

II.

 

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antrag zu Recht abgelehnt.

 

Der Antrag ist zulässig. Die Rechtskraft der genannten Entscheidungen steht dem erneuten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht entgegen, da sich der vorliegende Antrag gegen einen anderen Antragsgegner richtet.

 

Der Antrag ist unbegründet. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch iSd § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG nicht glaubhaft gemacht.

 

Ein Anspruch besteht bei der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung nicht im Rahmen der Eingliederungshilfe nach Teil 2 des SGB IX (§§ 90 ff SGB IX). Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es gem. § 90 Abs. 1 SGB IX, Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Es handelt sich mithin um Teilhabeleistungen, die von denen zur Krankenbehandlung abzugrenzen sind. Denn die SGB IX-Regelungen gelten ausschließlich für Leistungen der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, dh nicht für die Leistungen der GKV (vgl § 11 SGB V), insbesondere nicht für solche zur kurativen (Akut-)Behandlung einer Krankheit. Bei der Abgrenzung kommt es darauf an, ob die Behandlung aufgrund einer „Krankheit“ oder einer „Behinderung“ notwendig ist (BSG Urteil vom 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R).

 

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist Krankheit ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, der behandlungsbedürftig ist oder den Versicherten arbeitsunfähig macht (BSG Urteil vom 15.03.2018 – B 3 KR 18/17 R). Demgegenüber liegt gem. § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX eine zu einer Behinderung führende Beeinträchtigung vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.

 

Eine Abgrenzung zwischen Krankheit und Behinderung wird durch die Parallelen beider Begriffe erschwert, insbesondere die Maßgeblichkeit einer (Funktions-)Abweichung vom Regelzustand als dem für das Lebensalter typischen Zustand. Bei chronischen Krankheiten besteht Parallelität auch bezüglich der Dauerhaftigkeit, weshalb auch dieses Kriterium zur Abgrenzung ausscheidet. Als maßgebliches Unterscheidungskriterium ist deshalb in erster Linie die auf der (Funktions-)Abweichung beruhende Teilhabebeeinträchtigung heranzuziehen, die sich aus der Wechselwirkung des Gesundheitsproblems mit inneren und äußeren Kontextfaktoren ergibt. Denn die Teilhabebeeinträchtigung gehört ausschließlich zur Charakteristik der Behinderung, nicht der Krankheit (BSG Urteil vom 15.03.2018 – B 3 KR 18/17).

 

Die Teilhabeleistungen der Eingliederungshilfe kommen daher nur in Betracht, wenn eine Teilhabebeeinträchtigung geltend gemacht wird. Zwar kann auch Zahnersatz eine Leistung der (medizinischen) Rehabilitation sein (vgl. dazu SG Hannover Urteil vom 12.04.2019 – S 89 KR 434/18; Nellissen in: jurisPK-SGB IX, 4. Aufl., § 42, Rn. 69). Die Antragstellerin begehrt vorliegend jedoch keine (medizinische) Teilhabeleistung, sondern eine akute Krankenbehandlung. Dies wird dadurch deutlich, dass sie sich zur Begründung ihres Anspruchs zentral auf die nach ihrer Auffassung bestehende permanente Lebensgefahr und gerade nicht auf eine Teilhabebeeinträchtigung bezieht. Leistungen zur Bekämpfung eines akuten – nach Meinung der Antragstellerin lebensgefährlichen – regelwidrigen körperlichen Zustands unterfallen nicht den Vorschriften über die medizinische Rehabilitation als Leistung der Eingliederungshilfe (§§ 102 Abs. 1 Nr. 1, 109 SGB IX), sondern den Leistungssystemen zur akuten Krankenbehandlung, also allein dem SGB V und dem SGB XII.

 

Leistungen zur Sozialen Teilhabe nach den §§ 113 ff. SGB IX kommen vor dem Hintergrund dieser Ausführungen ebenfalls nicht in Betracht. Die von der Antragstellerin begehrte Krankenbehandlung dient – wie jede Krankenbehandlung – zwar mittelbar auch der sozialen Teilhabe. Dies ist als lediglich mittelbare Folge aber unbeachtlich (BSG Urteil vom 28.08.2018 – B 8 SO 5/17 R).

 

Die Antragstellerin hat wegen der begehrten Zahnbehandlung auch keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB V bzw. Hilfe bei Krankheit nach § 48 SGB XII, sodass eine Beiladung und ggfs. Verpflichtung der Träger der GKV oder der Sozialhilfe (§ 75 Abs. 5 SGG) nicht in Betracht kommen. Der Senat nimmt insoweit Bezug auf die genannten Entscheidungen, namentlich den Beschluss des BSG vom 21.06.2023 – B 1 KR 20/23 B. Das BSG hat in dieser Entscheidung zutreffend darauf abgestellt, dass Versicherte es angesichts des gleichzeitigen Gewinns an Freizügigkeit hinzunehmen haben, dass ihnen im Ausland weder der Form noch dem Inhalt nach identische Ansprüche zustehen wie im Inland. Diese Ausführungen zur GKV beanspruchen auch für einen Sozialhilfeanspruch Geltung, da die Sozialhilfeleistungen bei Krankheit nicht über die Leistungen der GKV hinausgehen (§ 48 Satz 1 SGB XII).

 

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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