S 29 R 250/22

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 29 R 250/22
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze

1.  Das Bestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses ist eine allgemeine Prozessvoraussetzung für die Zulässigkeit der Führung eines Klageverfahrens, die von den Gerichten in jeder Phase des Verfahrens vom Amts zu prüfen ist (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 12. Juli 2012, Aktenzeichen B 14 AS 35/12 R, Rn 17).

2.  Ein bei Klageerhebung bestehendes Rechtsschutzbedürfnis kann während des Klageverfahrens wegfallen und zur Unzulässigkeit der Klage ab diesem Zeitpunkt führen, wenn unter Bewertung der objektiven Sachlage und des Klagebegehrens eindeutig klar ist, dass gerichtlicher Schutz nicht mehr notwendig ist. Das kann in entsprechender Wertung des   Rechtsgedankens des § 102 Abs. 2 SGG dann der Fall sein, wenn der Kläger sein Klageziel erreicht hat und er sich auf wiederholte Nachfrage des Gerichts zum Fortgang des Verfahrens nicht mehr äußert.

  1. Die Klage wird abgewiesen.
  1. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten haben um die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente gestritten.

Der 1978 geborene und bei Klageerhebung in Polen wohnhafte Kläger hat in Deutschland, Polen und dem Vereinigten Königreich Beitragszeiten zur gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt. Er erhält seit dem Jahr 2019 vom polnischen Sozialversicherungsträger Zakład Ubezpieczeń Społecznych (ZUS) für seine in Polen zurückgelegten Beitragszeiten nach den Vorgaben des polnischen Rechts eine teilweise Arbeitsunfähigkeitsrente.

Am 21. Juni 2021 stellte der Kläger unter Vermittlung der ZUS bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente aus seinen in Deutschland zurückgelegten Beitragszeiten. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit dem Bescheid vom 15. Februar 2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juni 2022 als unbegründet ab.

Auf seine am 11. August 2022 erhobene Klage hat die Beklagte nach Einholung von Befundberichten und Behandlungsunterlagen am 30. Mai 2023 den Anspruch des Klägers auf Gewährung einer vollen Erwerbsminderungsrente anerkannt und ihm mit dem Bescheid vom 29. September 2023 rückwirkend ab dem 1. Dezember 2017 eine zeitlich unbefristete volle Erwerbsminderungsrente bewilligt. Auf die mehrfache Nachfrage des Gerichts, ob er die Klage mit Rücksicht auf die Rentengewährung wegen Erreichung des Klageziels zurücknimmt, hat dieser nicht mehr reagiert.

Der Kläger hat keinen ausdrücklichen Klageantrag gestellt. Aus seinem Klageschriftsatz vom 11. August 2022 geht jedoch eindeutig hervor, dass er mit der Klage die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente aus seinen in Deutschland zurückgelegten Beitragszeiten begehrt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte (Versicherungsnummer ), die dem Gericht zur Entscheidungsakte vorlag, Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.

I. Die Klage ist bereits unzulässig, da der Kläger sein Klageziel erreicht hat und ihm damit das Rechtsschutzbedürfnis für eine Fortführung des Klageverfahrens vor dem Sozialgericht fehlt.

Die Gerichte haben die Aufgabe, den Bürgern und der Verwaltung zu ihrem Recht zu verhelfen, aber nur soweit das notwendig ist. Deswegen besteht der allgemeinen Grundsatz, dass niemand die Gerichte unnütz in Anspruch nehmen darf sondern hierfür zumindest ein Mindestmaß an einem nachvollziehbaren Rechtsschutzinteresse bestehen muss. Daher ist das Bestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses eine allgemeine Prozessvoraussetzung für die Zulässigkeit der Führung eines Klageverfahrens, die von den Gerichten in jeder Phase des Verfahrens vom Amts zu prüfen ist (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 12. Juli 2012, Aktenzeichen B 14 AS 35/12 R, Rn 17, sämtliche Rechtsprechung zitiert nach JURIS; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Auflage 2020, vor § 51, Rn 15; Mußhoff in juris-PK SGG, 2. Auflage 2022, Werkstand: 10. April 2024, zu § 103 SGG,  Rn 91), wobei bei der Verneinung des Rechtsschutzbedürfnisses bereits zur Wahrung der grundrechtlich nach Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz geschützten Rechtsweggarantie allerdings Zurückhaltung geboten (Mußhoff, a.a.O.). Das Nichtbestehen oder der Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses muss daher offensichtlich sein.

Ein bei Klageerhebung bestehendes Rechtsschutzbedürfnis kann während des Klageverfahrens wegfallen und zur Unzulässigkeit der Klage ab diesem Zeitpunkt führen, wenn unter Bewertung der objektiven Sachlage und des Klagebegehrens eindeutig klar ist, dass gerichtlicher Schutz nicht mehr notwendig ist. Ein Rechtsschutzbedürfnis eines klagenden Bürgers besteht daher nicht mehr fort, wenn die beklagte Behörde den Anspruch anerkannt und der Bürger das Anerkenntnis angenommen hat oder der Bürger aus anderen Gründen erkennbar kein Interesse mehr an der Fortführung der Klage hat (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 26. Mai 1970, Aktenzeichen 3 RK 45/69, Rn 12, zitiert nach JURIS; Keller, a.a.O., Rn 17b mit weiteren Nennungen). Ein Rechtsschutzbedürfnis liegt daher auch unter Würdigung der ebenfalls auf dem Rechtsgedanken des Wegfalls des Rechtsschutzbedürfnisses fußenden gesetzlichen Regelung des § 102 Abs. 2 SGG (vgl. hierzu Keller, a.a.O., Rn 16) in der Regel dann nicht vor, wenn der Kläger sein Klageziel erreicht hat und er auf gerichtliche Anfragen zum Fortgang des Verfahrens nicht mehr reagiert, er die Klage also beispielsweise nicht auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage umstellt (vgl. Keller, a.a.O., zu § 125 SGG, Rn 9).

In dem hier zu entscheidenden Fall ist das Gericht davon überzeugt, dass für den Kläger kein Rechtschutzbedürfnis mehr besteht, da er sein Klageziel erreicht hat. Die Beklagte hat den Anspruch des Klägers denkbar weitgehend, dass heißt mit der Bewilligung einer vollen Erwerbsminderungsrente ab dem 1. Dezember 2017 zeitlich weit über seinen ursprünglichen Erwerbsminderungsrentenantrag aus dem Jahr 2021 hinausgehend und dazu noch unbefristet anerkannt. Eines gerichtlichen Titels zur Durchsetzung dieses Anerkenntnisses bedarf der Kläger nicht mehr, da die Beklagte ihr im Klageverfahren abgegebenes Anerkenntnis durch den Erlass des Rentenbescheides vom 29. September 2023 bereits vollständig umgesetzt hat. Die dem Kläger gewährte volle Erwerbsminderungsrente wurde rückwirkend abgerechnet und wird laufend gezahlt. Es ist daher nicht ersichtlich, welches Interesse der Kläger an der Fortführung des Klageverfahrens noch haben sollte. Auf gerichtliche Nachfragen, ob er die Klage wegen des Erreichens seines Klageziels zurücknehmen wolle, hat er nicht reagiert, was das Gericht angesichts des offensichtlich erreichten Klageziels in entsprechender Anwendung des Rechtsgedankens des § 102 Abs. 2 SGG als Verlust am Interesse des Fortführens des Klageverfahrens wertet. Der Kläger bedarf daher keines gerichtlichen Rechtsschutzes mehr, weshalb die ursprünglich zulässige und begründete Klage wegen des vollständigen Erreichen des Klageziels und dem dadurch eingetretenen Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig geworden ist. Die Klage war somit abzuweisen.

II. Die Kostengrundentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Hauptsacheverfahrens. Der Kläger hat –trotz der heutigen Klageabweisung wegen des Wegfalls des Rechtsschutzbedürfnisses- sein Klageziel umfassend erreicht. Ursprünglich war seine Klage zulässig und begründet, so dass es unter Berücksichtigung des Veranlassungsprinzips immer noch angemessen ist, dass die Beklagte seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten hat.

 

Rechtsmittelbelehrung

Rechtskraft
Aus
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