L 12 AS 476/24 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 2 AS 112/24 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 AS 476/24 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 18.03.2024 aufgehoben, soweit der Antragsgegner verpflichtet wird, dem Antragsteller Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

           

Der Antragsgegner hat die Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen  zur Hälfte zu erstatten.

 

Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin T. aus C. beigeordnet.

 

 

Gründe

 

I.

Der Antragsgegner wendet sich mit seiner Beschwerde gegen einen Beschluss des Sozialgerichts Aachen (SG), das ihn im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet hat, vorläufig Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) vom 01.03.2024 bis zum 31.05.2024 an den Antragsteller zu gewähren.

 

Der 0000 geborene Antragsteller ist nigerianischer Staatsangehöriger. Seit August 2021 studierte er in P. (Ukraine) an einer privaten Hochschule zwecks Erwerb eines Bachelor Computer Science. Im März 2022 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland ein und ist seit 15.03.2022 gemeldet (laut Meldebestätigung vom 22.08.2022) und beantragte am 24.08.2022 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Die Ausländerbehörde nahm die Informationen zu seiner Person auf und fertigte eine Kopie seines Reisepasses an. In der Ausländerakte befindet sich außerdem ein Lichtbild des Antragstellers. Mit Schreiben vom 20.02.2024 hörte die Ausländerbehörde den Antragsteller zur Versagung des Aufenthaltstitels und Androhung seiner Abschiebung an. Er sei mit einem Schutzgesuch aufgrund des Ukraine-Kriegs eingereist. Da er keine ukrainische Staatsangehörigkeit besitze, könne ihm vorübergehender Schutz im Sinne des EU-Ratsbeschlusses vom 04.03.2022 nur gewährt werden, wenn er nicht sicher und dauerhaft in sein Herkunftsland zurückkehren könne. Dafür gebe es keine Anhaltpunkte. Eine Entscheidung ist diesbezüglich noch nicht ergangen. Aktuell ist der Antragsteller Inhaber einer Fiktionsbescheinigung, gültig bis 05.08.2024, nach § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG mit dem Vermerk „Erlass des MKJFGFI v. 17.10.22 Beschäftigung bis zu 120 Tage oder 240 halbe Tage im Jahr sowie Ausübung studienfachbezogener Nebentätigkeit erlaubt“.

 

Der Antragsteller bezog bis Ende 2022 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

 

Mit Bescheiden vom 10.02.2023 und 15.02.2023 lehnte der Antragsgegner die Anträge des Antragstellers auf Leistungen nach dem SGB II vom 31.01.2023 und 06.02.2023 ab, weil der Antragsteller einen Anspruch auf Leistungen nach AsylbLG habe. Nachdem der Antragsteller eine weitere Fiktionsbescheinigung mit erlaubter Erwerbstätigkeit in eingeschränktem Umfang eingereicht hatte, bewilligte ihm der Antragsgegner mit Bescheid vom 28.02.2023 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 20.03.2023 Leistungen von März bis August 2023. Dabei berücksichtigte er aufgrund eines ungenehmigten Umzuges lediglich die seiner Auffassung nach angemessene Bruttokaltmiete i.H.v. 495,50 €. Der Antragsteller war im März 2023 trotz Ablehnung der Zusicherung zum Umzug seitens des Antragsgegners in eine neue Wohnung in V. gezogen, für die er 420 € Kaltmiete und 110 € Heiz- und Betriebskosten (pauschal) monatlich zu zahlen hat.

 

Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 18.08.2023 bewilligte der Antragsgegner mit Bescheid vom 18.08.2023 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 16.12.2023 Leistungen nach dem SGB II von August 2023 bis Februar 2024, zuletzt i.H.v. monatlich 1.141,45 €.

 

Mit Bescheid vom 21.02.2024 lehnte der Antragsgegner den Weiterbewilligungsantrag des Antragstellers vom 26.02.2024 ab. Er erfülle nicht die Voraussetzungen für den Bezug nach § 74 SGB II in Verbindung mit § 7 SGB II. Nach § 74 SGB II erhielten Personen, die erkennungsdienstlich behandelt worden sind, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG beantragt haben und denen eine entsprechende Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG ausgestellt wurde, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Für die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „entsprechend" sei die Gesetzesintention heranzuziehen. Der Gesetzgeber habe bei der Einführung des § 74 SGB II beabsichtigt, den Schutzsuchenden nach Beantragung des vorübergehenden Schutzes einen sofortigen und unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) habe in einem Schreiben vom 05.09.2022 an die für das Aufenthaltsrecht zuständigen Ministerien der Bundesländer unter Punkt 8.5 ausgeführt: „Mit den Neuregelungen im Aufenthaltsgesetz zum 1. Juni 2022 [...] wurde auch § 24 Absatz 6 AufenthG gestrichen, der eine Regelung zur selbständigen Tätigkeit und zur unselbständigen Beschäftigung vorsah. Durch diese Streichung ist Aufenthaltstitelinhabern nach § 24 Absatz 1 AufenthG nunmehr die Erwerbstätigkeit auch ausdrücklich gesetzlich uneingeschränkt erlaubt (§ 4a Absatz 1 AufenthG). Damit sind sowohl die unselbständige Beschäftigung als auch die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit voraussetzungslos zu erlauben und entsprechend ist der Aufenthaltstitel bei Erteilung deklaratorisch mit dem Eintrag ,Erwerbstätigkeit erlaubtʽ zu versehen.“ Auf der Fiktionsbescheinigung sei somit ein Hinweis auf die zu prüfende Titelerteilung nach § 24 AufenthG aufzunehmen und diese analog § 81 Abs. 5a AufenthG mit dem Vermerk „Erwerbstätigkeit erlaubt" zu versehen. In den ergänzenden Hinweisen des BMI hierzu vom 27.05.2022 werde klargestellt, dass die Leistungsbehörden die Leistungsberechtigung nicht anders feststellen könnten. Außerdem werde für den Personenkreis der nicht ukrainischen Drittstaatsangehörigen klargestellt, dass der Rechtskreiswechsel ins SGB II voraussetze, dass eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG oder eine entsprechende Fiktionsbescheinigung erteilt worden ist. Werde ein anderer Titel beantragt, beispielsweise zur Erwerbstätigkeit, und eine dementsprechende Fiktionsbescheinigung ausgestellt, bestehe kein Anspruch auf SGB II-Leistungen. Der Antragsteller habe eine Fiktionsbescheinigung der zuständigen Ausländerbehörde vorgelegt, aus der weder ersichtlich sei, dass ein Aufenthaltstitel nach § 24 Abs. 1 AufenthG beantragt wurde bzw. geprüft werde, noch sei der nach dem BMI-Schreiben für diese Fälle vorgesehene Vermerk „Erwerbstätigkeit erlaubt" enthalten. Stattdessen enthalte die Fiktionsbescheinigung den Vermerk „Erwerbstätigkeit nicht erlaubt". Aufgrund der Abweichung der Ausländerbehörde von den Regelungen zur Fiktionsbescheinigung im BMI-Schreiben sei das Vorliegen der Voraussetzungen des § 74 SGB II nicht nachgewiesen. Ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II außerhalb der Regelung des § 74 SGB II scheide ebenfalls aus, da der Antragsteller nicht erwerbsfähig i.S.d. § 7 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 8 Abs. 2 SGB II sei. Ausländerinnen und Ausländer könnten nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Aufgrund der dem Antragsteller ausgestellten Fiktionsbescheinigung mit dem Vermerk „Erwerbstätigkeit nicht erlaubt", lägen diese Voraussetzungen nicht vor.

 

Der Antragsteller erhob am 11.03.2024 Widerspruch. Er habe einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gestellt. Die Beigeladene habe eine Leistungsgewährung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) / AsylbLG mit Bescheid vom 08.03.2024 abgelehnt.

 

Am 01.03.2024 hat der Antragsteller einen Eilantrag vor dem SG mit dem Begehren gestellt, den Antragsgegner zu verpflichten, ihm seine beantragten Leistungen zur Sicherung seines Lebensunterhalts zu bewilligen.

 

Mit Beschluss vom 05.03.2024 hat das SG die Stadt V. gem. § 75 Abs. 2, 2. Alt Sozialgerichtsgesetz (SGG) beigeladen, weil eine Leistungspflicht nach dem AsylbLG in Betracht komme.

 

Das Ausländeramt der Beigeladenen hat mitgeteilt, dass der Antragsteller im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine nach dem 24.02.2022 visumfrei in das Bundesgebiet eingereist sei und einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG gestellt habe. Aufgrund des EU-Ratsbeschlusses vom 04.03.2022 halte er sich derzeit erlaubt im Bundesgebiet auf und sei im Besitz einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG. Ihm sei eine Beschäftigung im Sinne des § 16b Abs. 3 AufenthG für bis zu 120 volle bzw. 240 halbe Tage im Jahr sowie die Ausübung studienfachbezogener Nebentätigkeiten gestattet. Eine selbständige Erwerbstätigkeit sei ihm nicht gestattet. Nach derzeitigem Kenntnisstand erfülle der Antragsteller sowohl die Voraussetzungen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG als auch die Voraussetzungen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16b Abs. 1 AufenthG nicht.

 

Der Antragsteller führte zur Begründung seines Eilantrages aus, er sei im März 2022 nach Deutschland gekommen und studiere online an einer ukrainischen Universität. Er habe zunächst Hilfe vom Sozialamt erhalten, seit letztem Jahr vom Antragsgegner bis Februar 2024. Dann habe er einen Ablehnungsbescheid erhalten. Er sei völlig mittellos, verfüge nicht über Einkommen und daher bedeute die Nichtbescheidung seines Antrags für ihn eine besondere Härte.

 

Er hat beantragt,

den Antragsgegner zu verpflichten, ihm seine beantragten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bewilligen.

 

Der Antragsgegner hat beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

 

Laut Schreiben des BMI vom 14.02.2022 seien sowohl die Beschäftigung als auch die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit zu erlauben und entsprechend sei der Aufenthaltstitel bei Erteilung mit dem Eintrag „Erwerbstätigkeit erlaubt" zu versehen. Nach § 24 AufenthG begünstigte Personen, die ihren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis online an die Ausländerbehörde übermittelten, erhielten direkt nach dem Absenden ihres Antrags die Information, dass ihnen ab Antragstellung die Ausübung einer nicht reglementierten Erwerbstätigkeit erlaubt sei. Dem Antragsteller sei jedoch eben entgegen dieser Verfahrensweise eine Fiktionsbescheinigung erteilt worden, die keine uneingeschränkte Erwerbstätigkeit erlaube. Im Umkehrschluss bedeute dies, dass der Antragsteller nicht unter § 24 AufenthG falle und damit der Leistungsausschluss nach § 7 SGB II greife. Die eingeschränkte Erlaubnis, 120 bzw. 240 halbe Tage zu arbeiten, deute zudem sogar darauf hin, dass der Antragsteller nur zu Studienzwecken hier sein dürfe. Auch dann greife der Leistungsausschluss nach § 7 SGB II. Nach § 1 Abs. 2 SGB II sollten erwerbsfähige Leistungsberechtigte in die Lage versetzt werden, ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten zu können; sie sollen bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützt werden. Die nicht vorhandene Arbeitserlaubnis konterkariere den Sinn und Zweck des SGB II.

 

Die Beigeladene hat ausgeführt, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II habe. Der Antragsteller sei unstreitig erkennungsdienstlich behandelt worden. Der Antragsgegner stelle weder dem Wortlaut des § 74 Abs. 1 SGB II noch dem des § 81 Abs. 5 AufenthG entnehmbare weitere Anforderungen an die Fiktionsbescheinigung auf. Die Ausländerbehörde habe bestätigt, dass der Antragsteller einen Antrag nach § 24 Abs. 1 AufenthG gestellt habe. Selbst wenn das BMI den Ausländerbehörden aufgegeben haben sollte, einen entsprechenden Vermerk auf den Fiktionsbescheinigungen vorzunehmen, könne dieses Versäumnis nicht zu Lasten des Antragstellers gehen. § 74 Abs. 1 S. 2 SGB II stelle sogar ausdrücklich fest, dass § 8 Abs. 2 SGB II nicht anzuwenden sei, somit eine Erwerbstätigkeit gerade nicht erlaubt sein müsse. Letztendlich müsse der Antragsgegner als erstangegangener Träger i.S.d. § 43 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I) ohnehin zur Leistung verpflichtet werden. § 23 SGB XII finde derzeit keine Anwendung. Da die inhaltlich identischen aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen der §§ 74 SGB II und 146 SGB XII gleichermaßen erfüllt seien, bestehe aufgrund des Leistungsvorrangs somit ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Die Bewertung der Ausländerbehörde, dass die Voraussetzungen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht vorlägen, lasse den gegebenen Leistungsanspruch des Antragstellers gem. § 74 Abs. 1 SGB II nicht entfallen. Die Rechtswirkung einer Fiktionsbescheinigung ende erst mit der verbindlichen Entscheidung der Ausländerbehörde über den beantragten Aufenthaltstitel gegenüber dem Antragsteller; die übermittelte (interne) Bewertung des Ausländeramtes habe keinen derartigen Rechtscharakter.

 

Mit Beschluss vom 18.03.2024 hat das SG den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vom 01.03. bis 31.05.2024 vorläufig Leistungen nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Der Antragsteller sei nicht gem. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 8 Abs. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Nach § 8 Abs. 2 SGB II seien erwerbsfähige Ausländerinnen und Ausländer von einem Leistungsanspruch ausgeschlossen, wenn es ihnen aus einem Rechtsgrund nicht möglich ist, eine Beschäftigung aufzunehmen, mit deren Verdienst die Inanspruchnahme der Grundsicherung für Arbeitsuchende entbehrlich sein könnte. Die von Absatz 2 erfasste Personengruppe müsse daher auch arbeiten dürfen („rechtliche Erwerbsfähigkeit“). Dies sei bei dem Antragsteller der Fall. Er habe von der Ausländerbehörde eine bis zum 05.08.2024 gültige Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG erhalten, die ihn zu einer Beschäftigung bis zu 120 Tage oder 240 halbe Tage berechtige. In der Person des Antragstellers lägen nach summarischer Prüfung auch die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II vor. Der Antragsteller habe mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit ungeachtet seines noch nicht abschließend gesicherten ausländerrechtlichen Status seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Trotz der Anhörung zur Versagung des Aufenthaltsrechts sei derzeit, jedenfalls bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde, noch von einem gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland auszugehen. Er lebe seit seiner Einreise in Deutschland. Er habe auch eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16b AufenthG für die Bundesrepublik Deutschland beantragt. Für die Zwischenzeit gelte sein Aufenthalt auf Grund von § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG als erlaubt, so dass der Aufenthalt in Deutschland derzeit als rechtmäßig und zukunftsoffen zu qualifizieren sei. Es ergebe sich auch kein Leistungsausschluss des Antragstellers nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II. Eine Leistungsberechtigung nach § 1 Abs. 1 Nr. 3a AsylbLG bestehe nicht. Der Antragsteller halte sich auch nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche in Deutschland auf. Die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG seien nicht erfüllt. Der Antragsteller sei nicht vollziehbar ausreisepflichtig. Ausreisepflichtig seien nach § 50 Abs. 1 AufenthG Ausländer, die einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzen und sich nicht oder nicht mehr auf ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei berufen könnten. Ein rechtmäßiger Aufenthalt in Deutschland ende mit Erlöschen des Aufenthaltstitels unter den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AufenthG, insbesondere mit Ablauf der Geltungsdauer (Nr. 1), Eintritt einer auflösenden Bedingung (Nr. 2), der Rücknahme oder dem Widerruf des Titels (Nr. 3 und 4) oder mit Ausweisung des Ausländers (Nr. 5). Vollziehbar sei die Ausreisepflicht unter den Voraussetzungen des § 58 Abs. 2 AufenthG kraft Gesetzes, z.B. bei unerlaubter Einreise (Satz 1), sowie mit vollziehbarer Entscheidung nach § 50 Abs. 1 AufenthG, mit der die Ausreisepflicht des Ausländers einhergehe (Satz 2). Diese Voraussetzungen lägen nicht vor. Nicht abschließend geklärt werden könne die Frage, ob der Antragsteller unter den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a) SGB II falle. Es spreche einiges dafür, dass der Gesetzgeber mit dem Begriff des Aufenthaltsrechts nicht an das AufenthG anknüpfen wollte, sondern vielmehr (nur) an das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU). Denn § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II in der bis zu dem 29.12.2016 geltenden Fassung habe lediglich den Leistungsausschluss für Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergab, und ihre Familienangehörigen, vorgesehen. Damit habe die Vorschrift ausschließlich an § 2 Abs. 2 FreizügG/EU angeknüpft. Lediglich aufgrund der Entscheidungen des BSG vom 03.12.2015 zu diesem konkreten Leistungsausschluss habe sich der Gesetzgeber veranlasst gesehen, die Leistungsausschlüsse zu ergänzen bzw. klarzustellen, dass „Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht aus dem Freizügigkeitsgesetz/EU ebenso wie Personen, die sich mit einem Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, sowie Personen, die ihr Aufenthaltsrecht nur aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ableiten, von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind" (vgl. BT-Drs. 18/10211, S. 2). Die weitere Ausführung in der Gesetzesbegründung, dass mit den Leistungsausschlüssen klargestellt werde, „dass nicht erwerbstätige Personen ohne materielles Freizügigkeits- oder Aufenthaltsrecht" erst recht von den Leistungen ausgeschlossen seien (vgl. BT-Drs. 18/10211, S. 13), stehe dem unter Berücksichtigung der zuvor wiedergegebenen Regelungsabsicht des Gesetzgebers nicht entgegen. Selbst wenn der Begriff des Aufenthaltsrechts i. S. d. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a) SGB II aber als solcher i. S. d. AufenhaltG zu verstehen sein sollte, läge ein „erlaubter Aufenthalt" vor, was durch die Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 S. 1 AufenthG bestätigt werde. Denn aufgrund von § 2 Abs. 1 Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung sei ein Aufenthaltstitel für 90 Tage ab dem Zeitpunkt der erstmaligen Einreise in das Bundesgebiet nicht erforderlich. Der Aufenthalt gelte daher als erlaubt (§ 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG). Die Fiktionsbescheinigung habe eine rein deklaratorische Wirkung. Dem Wortlaut des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a) SGB II lasse sich nicht zweifelsfrei entnehmen, dass die Ausschlussregelung auch Ausländer erfasse, deren Aufenthalt als erlaubt gelte und die deswegen über eine Fiktionsbescheinigung i. S. d. § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG verfügten. Der Begriff des Aufenthaltsrechts sei nicht zwangsläufig mit dem des Aufenthaltstitels gleichzusetzen. So werde abweichend von der Ausschlussregelung in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a) SGB II in § 7 Abs. 1 S. 3 SGB II ausdrücklich der Begriff des Aufenthaltstitels verwendet, was sogar eher dafür spreche, dass der Gesetzgeber dem Begriff „Aufenthaltsrecht" eine andere Bedeutung beimesse. Daher dürfe der rechtmäßige Aufenthalt nach § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG als Aufenthaltsrecht i. S. d. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a) SGB II zu qualifizieren sein. Da eine abschließende materiell-rechtliche Klärung dieser umstrittenen Fragen in der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen Eile nicht erfolgen könne, sei im vorliegenden Verfahren im Rahmen einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dem Antragsteller drohten besonders schwerwiegende Nachteile, weil die Sicherstellung des Lebensunterhaltes ohne die Leistungen des Antragsgegners gefährdet seien. Dem Antragsgegner hingegen drohe lediglich ein finanzieller Schaden.

 

Der Antragsgegner hat am 04.04.2024 Beschwerde eingelegt. Das Vorliegen eines Anordnungsgrundes sei nicht glaubhaft dargelegt worden. Der Antragsteller habe in seinem Antrag vom 01.03.2024 zwar vorgetragen, dass er mittellos sei. Dies sei aber nicht belegt worden. Kontoauszüge seien im Rahmen des Verfahrens nicht vorgelegt worden. Eine Gefährdung der Unterkunft sei derzeit auch nicht erkennbar. Entgegen der angefochtenen Entscheidung bestehe auch kein Anordnungsanspruch. Der Antragsteller sei nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II. Das Ausländeramt habe in seiner Stellungnahme an das SG mitgeteilt, dass sowohl die Voraussetzungen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG als auch die Voraussetzungen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16b Abs. 1 AufenthG nicht vorlägen. Daher könne ein gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs im Sinne der Rechtsprechung unter keinem Gesichtspunkt angenommen werden. Für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16b AufenthG müsse beim Ausländeramt nachgewiesen werden, dass der Lebensunterhalt sichergestellt sei. In solch einem Fall einen Anordnungsanspruch anzunehmen, widerspreche vollständig der Gesetzessystematik. Dies würde für die Zukunft bedeuten, dass jeder Drittstaatler (ob aus der Ukraine oder nicht), der hier angebe, studieren zu wollen, vom Jobcenter Leistungen bekäme, bevor über seinen Antrag beim Ausländeramt entschieden worden sei; obwohl Studenten nach § 7 Abs. 5 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen seien, bekämen Personen, über deren Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken erst noch entschieden werden müsse, Bürgergeld. Ein Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG könne ebenfalls nicht ausreichen, um eine Leistungsberechtigung nach § 74 Abs. 1 SGB II herzuleiten. Eine andere Rechtsauffassung hätte zur Folge, dass ein pauschaler Antrag auf irgendeinen Aufenthaltstitel - oder mehrere Anträge auf verschiedene Titel, inklusive § 24 AufenthG - unmittelbar die rechtlichen Folgen des § 74 SGB II herbeiführen würde. Daher sei auch § 74 SGB II nicht einschlägig, so dass der Antragsteller auch hiernach nicht leistungsberechtigt sei.

 

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss vom 18.03.2024 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.

 

Der Antragsteller beantragt,

die Beschwerde des Antragsgegners zurückzuweisen, 

und ihm Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin T. aus C. zu gewähren.

 

Der Antragsgegner habe zwischenzeitlich die Leistungen für die Zeiträume ab März 2024 vorläufig erbracht und i.H.v. 2.282,90 € nachgezahlt. Hiervon habe er die rückständigen Mieten für die Monate März und April 2024 an den Vermieter überwiesen. Es bestehe auch ein Anordnungsgrund hinsichtlich der Unterkunftskosten. Aufgrund der Mietrückstände habe die fristlose Kündigung gedroht. Zur Glaubhaftmachung der Mittellosigkeit habe er seine Kontoauszüge eingereicht. Er verfüge über keinerlei Einkünfte, Vermögen oder sonstige Rücklagen. Er habe keine weiteren Konten oder Sparbücher. Im Übrigen habe er bis einschließlich Februar 2024 noch im Leistungsbezug beim Antragsgegner gestanden, so dass die geltend gemachten Zweifel an der Bedürftigkeit ab Eingang des Eilantrages zum 01.03.2024 nicht nachvollziehbar seien. Es bestehe auch ein Anordnungsanspruch. Er sei hilfebedürftig und habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet. Dass ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG gestellt worden sei, sei mit dem Schreiben der Ausländerbehörde nachgewiesen. Eine Entscheidung der Ausländerbehörde liege noch nicht vor. Er sei zudem erwerbfähig i.S.d. § 8 Abs. 1 und 2 SGB II. Gem. § 74 Abs. 1 SGB II sei bei einer Fiktionsbescheinigung aufgrund eines Antrags auf vorübergehenden Schutz gem. § 24 AufenthG weder der gewöhnliche Aufenthalt noch die rechtliche Erwerbsfähigkeit gem. § 8 Abs. 2 SGB II Voraussetzung für den Leistungsanspruch nach dem SGB II. Unabhängig davon sei ihm die Beschäftigung bis zu 120 Tage oder 240 halbe Tage im Jahr sowie die Ausübung studienfachbezogener Nebentätigkeiten erlaubt. Die ausländerrechtliche Erwerbsfähigkeit des § 8 Abs. 2 SGB II setze keine Mindeststundenzahl voraus. Die rechtliche Möglichkeit einer Beschäftigung sei unabhängig vom Umfang ausreichend. Hilfsweise begehre er Leistungen nach dem SGB XII oder dem AsylbLG. 

 

Die Beigeladene beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

 

Der Antragsteller habe beim Antragsgegner vorgesprochen und sei weggeschickt worden. In seiner Not habe der Antragsteller sich daraufhin an die Leistungsabteilung des städtischen Fachbereichs FB 56 gewandt; von dort sei ihm zur einstweiligen Überbrückung der von ihm geltend gemachten dringenden Bedürftigkeit ein Barscheck in Höhe von 20 € ausgestellt worden. Der Antragsgegner missachte die gesetzlichen Vorgaben zur sofortigen Vollstreckbarkeit von einstweiligen Anordnungen und weigere sich, gerichtliche Entscheidungen umzusetzen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, auf die Verwaltungsakte des Antragsgegners sowie auf die Ausländerakte des Ausländeramtes der Beigeladenen verwiesen.

 

 

II.

Die fristgerecht erhobene und auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist teilweise begründet. Zu Recht hat das SG den Antragsgegner zur Zahlung von Leistungen nach dem SGB II an den Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, soweit dies den Regelbedarf betrifft. Hinsichtlich der Verpflichtung zur Gewährung von Kosten für Unterkunft und Heizung hat die Beschwerde hingegen Erfolg.

 

Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Die Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs dürfen, gemessen an der drohenden Rechtsverletzung, nicht überspannt werden (vgl. BVerfG Beschluss vom 08.07.2020, 1 BvR 932/20, Rn. 10, juris). Die Entscheidungen dürfen sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Hierbei ist dem Gewicht der in Frage stehenden und gegebenenfalls miteinander abzuwägenden Grundrechte Rechnung zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach Möglichkeit zu verhindern (vgl. BVerfGE 126, 1 <27 f.>). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Indessen dürfen sich die Gerichte, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, nur dann an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren, wenn sie die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen können. Eine solche abschließende Prüfung kommt allerdings nur in Betracht, wenn eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren möglich ist. Andernfalls ist eine Folgenabwägung durchzuführen (vgl. BVerfG Beschluss vom 08.07.2020, a.a.O., Rn. 11, juris m.w.N.).

 

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist teilweise begründet. Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch auf die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II glaubhaft gemacht.

 

Der Antragsteller erfüllt die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II dem Grunde nach. Der Antragsteller hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II).

 

Er ist auch erwerbsfähig. Es gibt keine Anhaltspunkte, die gegen seine Erwerbsfähigkeit i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 8 Abs. 1 SGB II (aus medizinischer Sicht) sprechen. Ausweislich seiner Fiktionsbescheinigung ist ihm die Erwerbstätigkeit auch rechtlich in einem gewissen Umfang erlaubt (§ 8 Abs. 2 SGB II). Der Vortrag des Antragsgegners, die eingeschränkt erlaubte Erwerbstätigkeit deute darauf hin, dass der Antragsteller sich nur zu Studienzwecken in Deutschland aufhalten dürfe, ist zum einen spekulativ und zum anderen ändert er nichts an der Tatsache, dass dem Antragsteller die Erwerbstätigkeit rechtlich erlaubt ist. Es ist auch bemerkenswert, wenn der Antragsgegner meint, den Vermerk zur Erwerbstätigkeit in der Fiktionsbescheinigung des Antragstellers nicht als verbindlich ansehen zu müssen, obwohl er gleichzeitig vorgibt, an die Entscheidungen in der Fiktionsbescheinigung gebunden zu sein. Im Übrigen kommt es hierauf nach § 74 Abs. 1 S. 2 SGB II nicht an, wonach die rechtliche Erwerbsfähigkeit ausnahmsweise nicht zu prüfen ist.

 

Der Antragsteller ist nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung auch hilfebedürftig i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 9 SGB II, weil er weder über Einkommen noch über Vermögen verfügt. Er bezog bis Ende 2022 Leistungen nach dem AsylbLG und in der Folge bis Februar 2024 Leistungen nach dem SGB II. Er geht keiner Beschäftigung nach. Er hat im sozialgerichtlichen Verfahren vorgetragen, völlig mittellos zu sein, und in seiner Not bei dem Beigeladenen vorgesprochen, um einen 20 € Gutschein in Empfang zu nehmen. Auch im Beschwerdeverfahren hat er vorgetragen, über keinerlei Einkünfte, Vermögen oder sonstige Rücklagen zu verfügen. Diese Angaben decken sich mit den vom Antragsteller zur Verfügung gestellten Kontoauszügen. Sein Kontostand am 28.03.2024 belief sich auf 0,37 €. In der Folgezeit sind die Kontoauszüge von Rücklastschriftgebühren geprägt, bis ihm am 17.04.2024 die Nachzahlung des Antragsgegners gutgeschrieben wurde. Der Antragsteller hat angegeben, über keine weiteren Konten oder Sparbücher zu verfügen. Hieran bestehen keine ernsthaften Zweifel.

 

Der Antragsteller hat auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II). Gemäß § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen. Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist (vgl. BSG Urteil vom 30.01.2013, B 4 AS 54/12 R, Rn. 18 f., juris). Der Antragsteller lebt seit 2022 in V. und ist seit 15.03.2022 auch dort gemeldet. Er hat einen unbefristeten Mietvertrag über eine Wohnung in V. abgeschlossen. Ausweislich der von ihm übersandten Kontoauszüge hält er sich in V. auf, denn den Abbuchungen ist zu entnehmen, dass er in V. in den Supermärkten Aldi und Lidl einkauft, in V. Restaurants Lebensmittel erwirbt (Q. und X. V.) und regelmäßig zu Gunsten der V. Straßenbahn Buchungen vornimmt. Das Innehaben einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung bzw. eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem AufenthG ist nicht erforderlich (vgl. BSG Urteil vom 30.01.2013, B 4 AS 54/12 R, Rn. 18 f. juris; LSG Schleswig-Holstein Beschluss vom 30.08.2021, L 6 AS 10003/21 B ER, Rn. 36, juris; Leopold in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 7 <Stand: 19.03.2024> Rn. 85; Valgolio in Hauck/Noftz SGB II, 2. EL 2024, § 7, Rn. 110a; vgl. zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts auch: Senatsurteil vom 14.06.2023, L 12 AS 245/21, Rn. 62 ff, juris). Unabhängig davon ist der Antragsteller aktuell Inhaber einer Fiktionsbescheinigung. Damit gilt sein Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt (vgl. die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften in Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 81 AufenthG, Rn. 81.3.1; Kluth in BeckOK Ausländerrecht, 40. Ed. <Stand: 01.10.2023>, § 81 AufenthG, Rn. 17; Huber in Huber/Mantel, Aufenthaltsgesetz, 3. Auflage 2021, § 81, Rn. 6; Hailbronner in Hailbronner, Ausländerrecht, März 2024, § 81 AufenthG, Rn. 18). Die Rechtsstellung, die sich aus dieser Fiktion ergibt, ist formal dieselbe, wie diejenige eines Ausländers, der im Besitz eines Aufenthaltstitels ist (Hofmann in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Auflage 2023, § 81 AufenthG, Rn. 48). Diese Stellung wird auch nicht dadurch berührt, dass die Ausländerbehörde den Antragsteller zu einer Versagung seines beantragten Aufenthaltstitels angehört hat, denn jedenfalls ist eine entsprechende Entscheidung noch nicht ergangen, weshalb der Aufenthalt aktuell zukunftsoffen ist.

 

Im Übrigen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen des SG in dem angefochtenen Beschluss verwiesen, § 142 Abs. 2 S. 3 SGG, die der Senat sich nach Prüfung der Sach- und Rechtslage zu eigen macht.

 

Es kann dahinstehen, ob die Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2 SGB II zu Ungunsten des Antragstellers eingreifen. Deshalb kann auch offenbleiben, ob eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG als Aufenthaltsrecht i.S.d. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a) SGB II zu qualifizieren ist (dies jedenfalls bejahend: LSG NRW Beschluss vom 19.10.2023, L 6 AS 873/23 B ER, Rn 55, juris; in diesem Sinne auch Senatsurteil vom 06.04.2022, L 12 AS 1323/19, Rn. 57, juris; auch das BVerwG spricht von einem seinen Zweck nach begrenzten, grundsätzlich kurzfristigen und vorläufigen Aufenthaltsrecht, vgl. Beschluss vom 21.10.1996, 1 B 113/96, Rn. 5, juris).

 

Denn jedenfalls liegen die Voraussetzungen des § 74 SGB II vor. Gem. § 74 Abs. 1 S. 1 SGB II erhalten abweichend von § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2 Leistungen nach diesem Buch auch Personen, die gem. § 49 des AufenthG erkennungsdienstlich behandelt worden sind, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG beantragt haben und denen eine entsprechende Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 AufenthG erteilt worden ist. Nach Satz 2 sind § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 und § 8 Abs. 2 SGB II nicht anzuwenden.

 

Dass der Antragsteller erkennungsdienstlich behandelt wurde, haben die Beteiligten nicht in Abrede gestellt. Nach § 49 Abs. 4a AufenthG ist die Identität eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG beantragt und der das 14. Lebensjahr vollendet hat, vor Erteilung der Aufenthaltserlaubnis durch erkennungsdienstliche Maßnahmen zu sichern. Da die Ausstellung der Fiktionsbescheinigung gem. § 81 Abs. 5 AufenthG eine durchgeführte erkennungsdienstliche Behandlung voraussetzt, kann die erkennungsdienstliche Behandlung bei Vorlage einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG oder einer entsprechenden Fiktionsbescheinigung, die ab dem 01.06.2022 ausgestellt wurden, unterstellt werden (Kant in Luik/Harich, SGB II, 6. Auflage 2024, § 74 SGB II, Rn. 9 f.; Wendtland in BeckOGK, SGB II <Stand: 01.02.2024>, § 74, Rn. 6; vgl. auch die Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 74 SGB II <Stand: 20.02.2023>, S. 3; a.A. Hessisches LSG Beschluss vom 02.11.2022, L 4 SO 124/22 B ER, Rn. 36, juris). Maßnahmen in diesem Sinne sind jedenfalls gem. § 49 Abs. 6 S. 1 AufenthG das Aufnehmen von Lichtbildern, das Abnehmen von Fingerabdrücken sowie Messungen und ähnliche Maßnahmen, einschließlich körperlicher Eingriffe, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zum Zweck der Feststellung des Alters vorgenommen werden, wenn kein Nachteil für die Gesundheit des Ausländers zu befürchten ist. Nach § 49 Abs. 6 S. 3 AufenthG sind diese Maßnahmen zur Feststellung der Identität nur zulässig, wenn die Identität in anderer Weise, insbesondere durch Anfragen bei anderen Behörden nicht festgestellt werden kann. In der Akte des Ausländeramtes befindet sich sowohl eine Kopie des Reisepasses des Antragstellers als auch ein Lichtbild, sodass kein Zweifel daran besteht, dass die Ausländerbehörde die Identität des Antragstellers durch erkennungsdienstliche Maßnahmen festgestellt hat.

 

Der Antragsteller hat ausweislich der beigezogenen Akten der Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG beantragt und ihm ist eine entsprechende Fiktionsbescheinigung ausgestellt worden. Tatbestandsvoraussetzung ist nur die Beantragung dieser Erlaubnis, nicht, dass der Antragsteller begründete Aussicht auf Erfolg hat, diese zu erhalten. Die Ausführungen des Antragsgegners, die Ausländerbehörde habe den Antragsteller mittlerweile zur Versagung dieser Aufenthaltserlaubnis angehört, sind deshalb nicht entscheidungserheblich. Aufgrund dieser Antragstellung ist dem Antragsteller auch eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 AufenthG ausgestellt worden. Die Fiktionsbescheinigung bescheinigt lediglich, dass ein Aufenthaltstitel beantragt worden ist. Dabei findet keine inhaltliche Prüfung statt, ob die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist. Die Fiktionsbescheinigung wird selbst dann erteilt, wenn offenkundig ist, dass der Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG abzulehnen ist (Kant in Luik/Harich, SGB II, 6. Auflage 2024, Rn. 17 ff.). Das Wort „entsprechend“ bezieht sich demnach lediglich auf diesen Zusammenhang. Den Ausführungen des Antragsgegners, das Wort „entsprechend“ sei dergestalt auszulegen, dass hieraus das Erfordernis folge, die Fiktionsbescheinigungen müssten den Eintrag „Erwerbstätigkeit erlaubt" beinhalten, um den Anforderungen des § 74 SGB II gerecht zu werden, ist nicht zu folgen. Es ist nicht ersichtlich, warum zu Lasten des Antragstellers ungeschriebene Tatbestandsmerkmale geschaffen werden sollten, die im Gesetz keinen normativen Niederschlag gefunden haben. Aus den Gesetzesmaterialien lässt sich ein gesetzgeberischer Wille für eine derart extensive Auslegung, wie sie der Antragsgegner geltend macht, nicht ableiten (vgl. BT-Drs. 20/1768, S. 27). Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller sogar Inhaber einer Fiktionsbescheinigung ist, in welcher ihm die Erwerbstätigkeit gerade erlaubt ist, weshalb der Vortrag des Antragsgegners nicht nachvollziehbar ist.

 

Der Antragsteller hat auch in Bezug auf den Regelbedarf einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Dies ist der Fall, wenn Eilbedürftigkeit im Sinne einer dringenden und gegenwärtigen Notlage, die eine sofortige Entscheidung unumgänglich macht, gegeben und eine einstweilige Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile geboten ist (LSG NRW Beschluss vom 30.05.2011, L 19 AS 431/11 B ER, Rn. 13, juris). Dies ergibt sich aus dem existenzsichernden Charakter der begehrten Leistungen, ohne die der Antragsteller seinen Lebensunterhalt nicht sicherstellen kann. Dies gilt jedoch nicht hinsichtlich der Übernahme der Unterkunftskosten. Zwar ist nach ständiger und in Übereinstimmung mit dem BVerfG stehender Rechtsprechung die Erhebung einer Räumungsklage durch den Vermieter keine Voraussetzung für die Annahme eines Anordnungsgrundes. Eilbedürftigkeit liegt indes nicht vor, wenn zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keine Anhaltspunkte für einen Verlust der Wohnung vorliegen (vgl. LSG NRW Beschluss vom 01.06.2023, L 7 AS 425/23 B ER, Rn. 9, juris m.w.N.). Aktuell gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Wohnung des Antragstellers gefährdet wäre. Er hat lediglich vorgetragen, dass eine Kündigung seines Mietverhältnisses drohte; eine solche wurde offenbar zu keinem Zeitpunkt ausgesprochen.

 

Dem Antragsteller ist als Gegner der von dem Antragsgegner eingelegten Beschwerde unabhängig von den Erfolgsaussichten Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren nach § 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 114, 119 ZPO zu bewilligen. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe liegen vor.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

 

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
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