L 6 VG 2678/23

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 1 VG 1101/22
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 2678/23
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 18. August 2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Der Kläger begehrt die Gewährung von Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) i. V. m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) aufgrund behaupteter Misshandlungen in einem muslimischen Schülerwohnheim im Zeitraum von 2000 bis 2005.

Er ist 1990 geboren, hat nach der mittleren Reife zwei Jahre die Berufsfachschule im Bereich Wirtschaft besucht und das Fachabitur abgebrochen. 2015 hat er eine Elektroniker-Lehre abgeschlossen, anschließend ist er in einem anderen Betrieb noch in der Probezeit entlassen worden. Nach seinen Angaben hat er neun oder zehn weitere Arbeitsverhältnisse begonnen, die alle vom Arbeitgeber gekündigt worden sind. Der Kläger ist ledig und kinderlos, er wohnt im Haushalt seiner Eltern (vgl. Anamnese S1).

Am 9. Juli 2020 beantragte er bei dem Landratsamt R1 (LRA) Leistungen nach dem OEG und machte geltend, dass er emotional sowie persönlich nicht gefördert werde. Er lebe bei seinen Eltern, sei isoliert, habe keinen Kontakt zu Menschen und fühle sich ständig dadurch, was ihm in der Vergangenheit angetan worden sei, bedroht.

Zum Tathergang befragt gab der Kläger an, dass ihn sein Vater von 2000 bis 2005 im muslimischen Schülerwohnheim eingeschrieben habe. Er sei im Heim mit schweren körperlichen Misshandlungen konfrontiert worden, es habe körperliche Gewalt in vielerlei Formen gegeben. Diese hätten aus Ohrfeigen, Tritten, Fäusten, Ohrenziehen und Schlägen mit Gegenständen bestanden. Die massiven Misshandlungen seien in einem Raum ausgeführt worden, in dem niemand anwesend gewesen sei. Die Gründe seien vielfältig gewesen, wie zu spät zum Unterricht kommen, nicht rechtzeitig die Koranverse auswendig lernen oder keine gründliche Sauberkeit. Mit 10 Jahren habe er seinen ersten Suizidversuch unternommen, indem er Kreide verschluckt habe.

Er habe das Gefühl extremer Ohnmacht erlitten. Jeden Samstag, wenn seine Familie in die Moschee gekommen sei, habe er aus Angst seine Probleme nicht mit den Eltern teilen können. Diese hätten den Aussagen der „Täter“ Glauben geschenkt. Deshalb hätten die Geistlichen die Möglichkeit gehabt, ihn in jeglicher Form körperlich zu misshandeln. Er habe als 10- bis 13-jähriger keine Anzeige erstatten können, außerdem bis zum 3. Juli 2019 unter traumatischen Bedingungen gelitten. Das Heim sei von einem religiösen Verein geführt worden, man habe ihnen eingeredet, dass sie mit der Veröffentlichung von Straftraten oder jeglichen Rechtswidrigkeiten in die Hölle kämen.

Nach dem Verlassen des Heimes habe er eine Kombination aus Drogen- und Spielsucht entwickelt, ein Antrag nach dem OEG sei deshalb nicht zumutbar gewesen. Nach seinem Hauptschulabschluss sei er nach K1 zu einer Imam-Ausbildung geschickt worden, gegen seinen Willen. Die Ausbildung sei wahrscheinlich bis heute nicht staatlich anerkannt, zu dieser Zeit sei er noch schulpflichtig gewesen. 2008 sei er aus dem Heim entlassen worden, da er dem bedingungslosen Gehorsam der Heimleitung nicht ausreichend Folge geleistet habe. Er sei gezwungen gewesen, in sein Elternhaus zurückzukehren, da er keine Unterkunft gehabt habe. Er habe angefangen, sich zu piercen, habe Drogen genommen und sei spielsüchtig gewesen. Die psychischen Probleme stammten aus den Misshandlungen.

Vorgelegt wurden zwei, als solche bezeichnete „Zeugenbestätigungen“ von M1 und B1 mit folgendem Wortlaut:

„Hiermit bezeuge ich, M1 geboren 1996 in M2, dass M3 geboren 1990 in M2, von September 2000 bis einschließlich April 2008 keinen Aufenthalt im Elternhaus in I1 M2 hatte. Er bewohnte das Schülerwohnheim in der P1 in M2. M3 arbeitete ehrenamtlich von September 2007 bis ende April 2008 im Schülerwohnheim als Prediger und lebte auch dort. Ich bezeuge ebenfalls, dass Herr K2 im Jahr 2002-2003 in der P1 in M2 mit Ohrfeige, schubsen an den Haaren ziehen und auch andere Formen von körperlicher Gewalt an M3 ausgeübt hat. Für weitere Auskünfte nehme ich von meinem Zeugnisverweigerungsrecht gebrauch.“

„Hiermit bezeuge ich, B1, geboren 1986 in M2, das M3 geboren 1990 in M2, von September 2000 bis einschließlich April 2008 keinen Aufenthalt im Elternhaus hatte. Er bewohnte das Schülerwohnheim in der P1 in M2. Ich bezeuge auch, dass M3 im Schülerwohnheim in der P1 in M2, von Herr Y1 im Jahr 2000 in mehreren Fällen geohrfeigt wurde. Ebenso bezeuge ich, dass M3 im Jahr 2001 von Herr D1 in der P1 in M2 mit einem Stock an sein Oberschenkel und Hintern geschlagen wurde. Für weitere Auskünfte nehme ich von meinem Zeugnisverweigerungsrecht gebrauch.“

Im Befundbericht des Zentralinstituts für seelische Gesundheit über die ambulante Behandlung vom 10. Februar bis 10. März 2011 wurden als Diagnosen eine emotional instabile Persönlichkeit, impulsiver Typ, eine narzisstische Persönlichkeitsakzentuierung und eine atypische Bulimia nervosa beschrieben. Der Kläger gebe an, von seinem Vater zu der Ausbildung als Imam gezwungen worden zu sein. Seine Mitschüler hätten ihn gehänselt, er sei oft frustriert gewesen und habe seine Langeweile mit Drogenkonsum, Spielsucht und Essanfällen kompensiert. In der Koranschule habe er selbst mehrfach aus Frustration und Anspannung gegen die Wand geschlagen, sodass er aus der Schule entlassen worden sei.

Zur Zeit absolviere er ein Studium an einer privaten Hochschule in M2, das ihm sein Vater finanziere. Der Unterricht langweile ihn, er fühle sich unterfordert, gleichzeitig setze er sich unter starken Leistungsdruck und habe keinen Antrieb, für die Prüfungen zu lernen. Seit er 2008 in einem Sportstudio als Fitnesstrainer gearbeitet habe, habe er an Gewicht verloren. Um seine Spielsucht zu finanzieren, habe er in der Vergangenheit öfter Geld aus der Brieftasche seines Vaters und aus der Kasse des Fitness-Studios entwendet sowie das Sparbuch seines Bruders gestohlen, wofür er sich im Nachhinein sehr schäme.

Psychopathologisch sei der Kläger wach und bewusstseinsklar. Es bestünden keine Konzentrationsstörungen sowie keine Störungen der mnestischen Auffassung und der mnestischen Fertigkeiten. Formalgedanklich sei er geordnet, ohne inhaltliche Denkstörungen. Die Stimmungslage sei euthym bei erhaltener Schwingungsfähigkeit. Antrieb und Psychomotorik seien unauffällig. Restriktives Essverhalten wechsle sich mit Phasen von Essattacken ab.

Der Kläger habe sich mit dem Wunsch nach einer störungsspezifischen Psychotherapie vorgestellt. Nach psychometrischer Testung und Erhebung einer ausführlichen Anamnese sei eine atypische Bulimia nervosa, eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung und eine narzisstische Persönlichkeitsakzentuierung diagnostiziert worden. Es fänden sich außerdem klinisch relevante antisoziale, zwanghafte und histrionische Persönlichkeitszüge. Im Vordergrund stehe eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, die den Kläger in seinem psychischen und sozialen Erleben stark beeinträchtige.

Vom 23. August bis 28. September 2012 wurde der Kläger wegen pathologischen Spielens und einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ stationär im Zentralinstitut für seelische Gesundheit behandelt. Er habe berichtet, wenig Tagesstruktur zu haben, seitdem er aus der „Schülerwohnstätte“ rausgeflogen sei. Er habe, obwohl er in die Schule gegangen sei und täglich Sport getrieben habe, immer noch viel Zeit gehabt, mit der er nichts habe anfangen können. Bald habe er Spielhallen entdeckt und sei immer häufiger spielen gegangen. Eine Zeit lang habe er in einem Fitnessstudio gearbeitet. Der zunehmende Geldverlust und die ganzen Folgen des Spielens hätten ihn depressiv gemacht.

Der Erstkontakt zu den Glücksspielen/Wetten sei 2008 gewesen, im September 2008 habe er aktiv angefangen zu spielen. Seit mindestens 3,5 Jahren sei von der Entwicklung einer bisher unbehandelten schweren Impulskontrollstörung im Sinne von pathologischem Spielen mit zahlreichen psychosozialen Folgeschäden auszugehen. Die Aufnahme sei zur teilstationären Suchttherapie erfolgt. Der Kläger habe regelmäßig, motiviert und mit zunehmender Krankheitseinsicht an dem verhaltenstherapeutisch orientierten Suchtprogramm mit Psychoedukationen teilgenommen. Aufgrund der gedrückten Stimmung, des deutlich verminderten Antriebs, der Interessenminderung und der verminderten Freudfähigkeit bei zudem vorhandener Impulsivität sei der Beginn einer niedrig dosierten Therapie mit Sertralin beschlossen worden.

Der H1 beschrieb in seinem Befundbericht aufgrund ambulanter Untersuchung vom 25. Oktober 2018 eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, eine rezidivierende Depression, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung und eine atypische bullimia nervosa. Wegen der Exacerbation der Beschwerden im September habe er Arbeitsunfähigkeit festgestellt, zwischenzeitlich hätten sich die Beschwerden unter Bupropion 150 mg gebessert, sodass sich der Kläger wieder auf dem Arbeitsmarkt bewerben könne.

In einem weiteren Bericht über die ambulanten Vorstellungen am 22. Mai, 4. Juni und 19. Juni 2019 im Zentralinstitut für seelische Gesundheit wurde ausgeführt, dass der Kläger angebe, trotz der Behandlung in der Suchttagesklinik bis Dezember 2018 weiter gespielt zu haben. Jetzt habe er damit aufgehört, er habe beschlossen, die Emotionen auszuschalten und sich von seinem sozialen Umfeld zurückzuziehen. Diagnostisch seien die Kriterien einer mittelgradigen rezidivierenden depressiven Episode erfüllt. Weiter bestehe eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen und narzisstischen Anteilen. Um einer weiteren Verschlechterung entgegenzuwirken, werde eine ambulante störungsspezifische Psychotherapie empfohlen.

Das LRA zog das Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse (AOK) sowie den Befundschein der B2 bei, die mitteilte, den Kläger erst seit 2010 zu behandeln. Diese legte bereits aktenkundige Berichte des Zentralinstituts für seelische Gesundheit vor.

Der Kläger reichte seine Schulzeugnisse zu den Akten.

Der P2 teilte in seinem Befundschein mit, dass er zwar noch über die Behandlungsunterlagen verfüge, allerdings sei ihm weder von dem Kläger selbst noch von den Eltern etwas über Gewalttaten oder einen Suizidversuch berichtet worden. Nach Aktenlage könne er keine weiteren Angaben machen.

Weiter zog das LRA das im Verfahren S 1 SB 388/20 (Sozialgericht [SG] Mannheim) von dem S2 aufgrund ambulanter Untersuchung vom 29. Juni 2020 erstattete Sachverständigengutachten bei. Diesem gegenüber gab der Kläger an, unter extremen Stimmungsschwankungen zu leiden. Er isoliere sich in der Gesellschaft, in der Familie und im Freundeskreis. Er könne den Alltag nicht ausleben, sei antriebslos. Er habe vor allem in der Frühschicht extreme Stressanfälle und dissoziiere. Seine Wahrnehmung sei dann eingetrübt. Er sei mit seiner Biographie nicht zufrieden, davon überzeugt, dass er mehr machen könne als jetzt gerade. Vom 15. bis 19. Lebensjahr sei er gegen seinen Willen in ein Wohnheim für muslimische Erziehung gekommen. Er habe dort auch übernachtet und sei von dort zur Schule gegangen. Er habe in dem Heim vor allem körperliche und teilweise auch seelische Misshandlungen erfahren. Auch von seinem Vater sei er geschlagen worden. Seine Stimmungsschwankungen seien sehr extrem, dies sei für ihn das Schlimmste. Er sei beziehungsunfähig, könne keine Beziehung führen. Seine Familie und Freunde würden ihn nicht verstehen.

Der Kläger rauche fünf bis sechs Zigaretten am Tag, Alkohol werde keiner konsumiert. Vor ein paar Monaten habe er Kokain und Amphetamine zu sich genommen. Entsprechende Angaben hätten zu Cannabis-Konsum bestanden. Cannabis konsumiere er jetzt seltener. Von 2008 bis 2018 habe eine Automatenspielsucht bestanden, er habe damals viel Geld verloren. Derzeit arbeite er als Leiharbeiter bei D2 in Früh- oder Spätschicht. Es sei langweilig, er lebe von dem Einkommen, weitere Einnahmen habe er nicht. Bewohnt werde die Eigentumswohnung der Eltern, Führerschein und Auto seien vorhanden. Mehrere Verfahren wegen Geschwindigkeitsverstößen würden berichtet.

Befragt nach besonderen Schicksalsschlägen oder biographischen Belastungen habe der Kläger angegeben, dass die Eltern streng religiös gewesen seien. Belastet hätten ihn der Aufenthalt im Schülerwohnheim und die Spielsucht. Die Schulausbildung zur Fachhochschulreife habe er abgebrochen, dann auch keinen Sport mehr ausgeübt. Sein beruflicher Werdegang sei für ihn belastend, er hätte mehr erreichen können. Mit den religiösen Moslems komme er nicht klar. Er fühle sich einsam, sei aber nicht alleine. Weitere lebensgeschichtliche Belastungen würden nicht benannt.

Bei Spätschicht stehe er zwischen 6.30 Uhr und 8.00 Uhr auf, zwinge sich dann ins Fitnessstudio. Ansonsten sei er zu Hause, schaue sich YouTube-Videos über Persönlichkeitsentwicklung oder sonstige seelische Beschwerden an. Er lese Berichte über die EZB-Politik oder über die Europapolitik. Bei Frühschicht müsse er um 3.40 Uhr aufstehen, er fahre mit dem Auto nach R2, die einfache Fahrtstrecke betrage 100 km. Die Mutter verrichte den Haushalt. Er habe schon Bekannte, viele in seinem Alter hätten schon geheiratet und eine eigene Familie. Am Wochenende versuche er etwas zu unternehmen. Der letzte Urlaub sei im Oktober 2018 auf C1 zusammen mit zwei Bekannten gewesen.

Psychisch seien Gestik und Mimik angemessen gewesen, in der Untersuchungssituation sei der Kläger auskunftsbereit und kooperativ. Störungen des Bewusstseins, der Orientierung, der Auffassung und der Konzentration hätten nicht bestanden, ebenso keine solchen des Gedächtnisses. Viele anamnestische Angaben seien sehr genau bzw. detailliert gewesen. Für eine hirnorganisch bedingte Symptomatik bestehe kein Anhalt. Der Antrieb sei angemessen, die Grundstimmung ausgeglichen und die affektive Resonanzfähigkeit zum positiven Pol nicht aufgehoben. Der Kläger wirke affektiv aber wenig auslenkbar. Das formale Denken sei nicht verlangsamt, sondern folgerichtig. Inhaltliche Denkstörungen bestünden nicht, berichtet würden dissoziative Störungen. Das Krankheitsverständnis sei ausschließlich seelisch orientiert.

Der körperliche Untersuchungsstatus zeige sich unauffällig, relevante neurologische Auffälligkeiten bestünden nicht. Im psychischen Befund bestehe keine Antriebsminderung oder psychomotorische Hemmung. Der Kläger sei gut flexibel, kognitive oder mnestische Defizite lägen nicht vor. Die Grundstimmung sei ausgeglichen bei affektiv wenig Schwingungsfähigkeit. Diese sei aber nicht aufgehoben. In seiner Grundpersönlichkeit wirke er narzisstisch und emotional-instabil veranlagt, schon im Ausmaß einer Persönlichkeitsstörung. Seelische Funktionsbeeinträchtigungen seien gegeben, für eine sozialmedizinisch relevante Suchterkrankung ergebe sich aktuell kein Anhalt.

Es bestünden zwar Einschränkungen der Teilhabe am alltäglichen Leben in der Gesellschaft und psychische Anpassungsschwierigkeiten, er könne aber weitgehend am alltäglichen Leben in der Gesellschaft partizipieren. Mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten setzten neben den Auswirkungen im Berufsleben erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung voraus. Beim Kläger liege eine familiäre Problematik in der Ursprungsfamilie vor. Ein GdB von 40 sei wegen der durchgehend schweren depressiven Symptomatik angemessen. Ein Teil-GdB von 50 entsprechend einer Hirnschädigung mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung oder entsprechend einer schweren Zwangskrankheit bestehe nicht.

In seiner ergänzenden Stellungnahme führte der Sachverständige aus, dass die geschilderten Probleme am Arbeitsplatz keine psychische Erkrankung darstellten, entsprechendes gelte für die Unzufriedenheit mit dem schulischen und/oder beruflichen Werdegang. Die kulturelle Problematik in der Familie begründe keine schwerwiegenden Auswirkungen in der Familie oder im Freundes- und Bekanntenkreis. Es bestehe einfach eine unterschiedliche religiöse Einstellung. Der Kläger hätte sicherlich eine höherwertige Ausbildung absolvieren können, sei in der Lage, eine geistig anspruchsvollere Tätigkeit auszuüben. Dies stelle aber keine psychische Erkrankung dar.

Das Schülerwohnheim M2 gab auf Anfrage des LRA an, dass der Kläger Schüler des Wohnheims gewesen sei. Unterlagen aus dieser Zeit seien keine mehr vorhanden, konkrete Erinnerungen an den Kläger gebe es nicht. Herr K2 und Herr D1 seien damals Betreuer gewesen. Sie seien seit mehreren Jahren nicht mehr beschäftigt. Umstände im Zusammenhang mit dem behaupteten Suizidversuch des Klägers seien nicht bekannt.

Mit Bescheid vom 5. Februar 2021 lehnte das LRA die Gewährung von Beschädigtenversorgung ab. Der Kläger sei türkischer Staatsangehöriger und gehöre damit dem muslimischen Kulturkreis an. Die Kindererziehung unterliege insoweit islamischem Recht. In vollem Umfang hätten muslimische Söhne ab dem 11. Lebensjahr die rituellen Pflichten zu versehen. Es handele sich hierbei um diejenigen Pflichten, die der Kläger in seiner Tagesstruktur bzw. im Tagesablauf im Schülerwohnheim beschreibe. Dem Vater stehe ein ausgesprochenes Züchtigungsrecht zu. Im Schülerwohnheim hätten die Betreuer die Erziehung übernommen. Die Zeugen hätten zu den Misshandlungen keine Details beschrieben, die geltend gemachten schweren Misshandlungen hätten auch schwere und behandlungsbedürftige Verletzungen nach sich ziehen müssen, was nicht der Fall gewesen sei, der Kinderarzt habe hierzu keine Angaben gemacht.

Im Widerspruchsverfahren benannte der Kläger einen Mitschüler und die Eltern als Zeugen für die Misshandlungen.

Die Eltern gaben, schriftlich befragt, an, dass der Kläger ins Heim gegeben worden sei, um seinen Glauben zu lernen und seine Schulleistung zu steigern. Gelegentlich sei er sonntags nach Hause gekommen. Seine Frau, die Mutter des Klägers, habe erwähnt, dass der Kläger im Jahr 2000 von D1 durch einen gewaltigen Zug ins Schwimmbecken gezogen worden sei und deshalb einen Bluterguss am rechten Oberschenkel erlitten habe. Seine Frau habe vergeblich D1 telefonisch kontaktiert, um diesen zur Unterlassung der massiven Gewaltanwendung aufzufordern. Die Erziehungsmethoden seien ihnen bekannt gewesen, sie hätten das als normal empfunden und keine weiteren Maßnahmen ergriffen.

Der Kläger sei teilweise aus dem Wohnheim geflüchtet und zu ihnen gekommen. Sie hätten ihn dann wieder ins Heim zurückgefahren. Gespräche mit den Erziehern seien geführt worden. Es sei darum gegangen, dass er seinen angewiesenen Bereich nicht saubergemacht hätte. Es sei mehrfach bemängelt worden, dass der Kläger seine Aufgaben nicht auswendig gelernt habe. Sie wüssten nicht, wie oft und intensiv die Erziehungsmethoden an ihrem Sohn angewendet worden seien. Es komme zu sozialem Rückzug, der Kläger wohne bei ihnen, rede aber kein Wort mit ihnen. Mit der Gemeinde wolle er nichts mehr zu tun haben. Eine psychiatrische Behandlung finde seit 2010 statt.

P2 gab auf telefonische Nachfrage an, dass ihm Unterlagen ab dem Jahr 2001 vorlägen. Die Befunde attestierten Kinderkrankheiten wie Nasenbluten und Erkältungskrankheiten. Einmal sei eine Platzwunde am Auge behandelt worden, der Kläger habe angegeben, sich beim Krafttraining gestoßen zu haben. Einen Befund zu einem massiven Bluterguss am rechten Oberschenkel habe er nicht erhoben. Unterlagen, die auf äußere Gewalteinwirkung schließen ließen, seien nicht vorhanden.

Den Widerspruch wies das Regierungspräsidium S3 – Landesversorgungsamt – mit Widerspruchsbescheid vom 2. Mai 2022 zurück. Die Eltern des Klägers hätten nur die Erziehungsmethoden wie Ohrfeigen und Ohrziehen bestätigen können. Die Schulzeugnisse enthielten nur Angaben über unentschuldigte Fehltage, schlechte Arbeitsleistungen und Unterrichtsstörungen. Es lägen keine Nachweise über behandlungsbedürftige, im Rahmen von körperlichen Misshandlungen erlittene Gesundheitsstörungen vor. P2 habe nur über Kinderkrankheiten berichten können. Pauschale Angaben zu den Verhältnissen im muslimischen Kinderheim reichten nicht aus, um im Vollbeweis einen Anspruch nach dem OEG zu begründen. Bei den angeschuldigten Taten durch die Erzieher handele es sich um Erziehungsmethoden, deren Folgen vom OEG nicht erfasst seien. Aufgrund des geschilderten Sachverhalts sei der Tatbestand einer Misshandlung Schutzbefohlener nach § 225 Strafgesetzbuch (StGB) nicht erwiesen.

Am 3. Juni 2022 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Mannheim erhoben, welches die Schwerbehindertenakten des Klägers beizogen hat. Der Kläger hat geltend gemacht, dass er wünsche, eine Begutachtung zum Aussagegehalt seiner Angaben durchführen zu lassen, eine weitere Klagebegründung erfolge nicht.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18. August 2023 abgewiesen. Es sei denkbar und möglich, nicht hingegen erwiesen, dass der Kläger Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe geworden sei. Zwar sei das elterliche Züchtigungsrecht Anfang November 2000 weggefallen, jedoch bedeute dies nicht, dass deshalb jeder körperliche Übergriff von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erfasst sei. Dabei sei deutlich zu betonen, dass es in der Bundesrepublik Deutschland keinen rechtsfreien Raum gebe, auch nicht in einem muslimischen Schülerwohnheim.

Es sei aber nicht möglich, zweifelhafte Erziehungsmethoden, den Islam-Unterricht bzw. den strikt einzuhaltenden Tagesablauf im Heim ohne Raum zur persönlichen Entfaltung und Entwicklung, die dort herrschenden strengen Regeln und die permanent im Vordergrund stehenden Kontrollen als vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe zu würdigen. Dass der Kläger aus „erzieherischen Gründen“ beispielsweise Ohrfeigen erhalten habe sowie an den Haaren und Koteletten gezogen worden sei, sei im Spannungsfeld „islamisches Erziehungsrecht – Schutz des Menschen vor körperlichen Übergriffen“ von keiner entscheidungserheblichen Relevanz und damit letztlich nicht vom Opferentschädigungsrecht umfasst.

Zwar könne man dem Kläger nicht vorhalten, dass er es versäumt habe, zeitnah nach den Geschehnissen eine Strafanzeige zu stellen, andererseits sei nicht erwiesen, dass seine Behauptung, er sei als Schutzbefohlener wesentlich massiveren körperlichen Züchtigungen und schwersten körperlichen Misshandlungen ausgesetzt gewesen, der Tatsachenlage entspreche. P2 habe zu keinem Zeitpunkt Verletzungen behandelt, die von Gewalteinwirkungen Dritter gestammt hätten. Aus den vorgelegten Zeugenaussagen ergebe sich nichts anderes, da die Zeugen aus eigener Anschauung nichts hätten berichten können. Es verblüffe, dass die Zeugenaussagen in weiten Passagen wortgleich seien, mithin der dringende Verdacht bestehe, dass diese den Zeugen vorgefertigt präsentiert worden seien. Dafür spreche auch der jeweils letzte Satz, dass man für weitere Aussagen nicht zur Verfügung stehe.

Darüber hinaus hätten die Angaben der Eltern nichts Richtungsweisendes beitragen können. Abgesehen davon, dass die Erklärung in perfektem Deutsch abgefasst sei, obwohl die Mutter des Klägers der deutschen Sprache nicht einmal rudimentär gewachsen sein solle, käme ihrer Einlassung, der Kläger sei gewaltsam ins Schwimmbecken gezogen worden und habe einen Bluterguss erlitten, auch dann keine Bedeutung zu, wenn man dies als wahr unterstelle. Denn der Vorgang sei nur dann als vorsätzlicher, tätlicher rechtswidriger Angriff zu werten, wenn dieser in Verletzungsabsicht erfolgt sei und die Einblutung im Oberschenkel zumindest billigend in Kauf genommen worden wäre.

Die Einlassungen des Klägers seien nicht geeignet, eine andere Entscheidung zu treffen. Bemerkenswert sei zunächst, dass dieser betont habe, er sei emotional und persönlich nicht gefördert worden, um sich entfalten zu können. Bezeichnend sei weiter, dass die vorgebrachten schweren körperlichen Misshandlungen aus nichtigen Anlässen heraus weitgehend im Dunkeln geblieben seien und stattdessen erhobene Vorhaltungen in den Vordergrund gestellt würden. Anhand der Behandlungsberichte sei zu konstatieren, dass die Übergriffe erst nach (über) 20 Jahren thematisiert worden seien und einen nachträglich konstruierten monokausalen Erklärungsversuch für das vorhandene Krankheitsbild darstellen könnten.

Am 15. September 2023 hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt, die er nicht begründet hat.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 18. August 2023 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 2022 Beschädigtenversorgung, insbesondere Beschädigtengrundrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 30 vom Hundert, aufgrund erlittener Misshandlungen im muslimischen Schülerwohnheim im Zeitraum von 2000 bis 2005 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Er verweist auf die angefochtene Entscheidung.

Zur Sachaufklärung hat der Senat das neurologisch-psychiatrische Sachverständigengutachten des S1 aufgrund ambulanter Untersuchung vom 6. Februar 2024 erhoben. Diesem gegenüber hat der Kläger angegeben, dass er zwischen 1998 und 2000 selbst den Entschluss gefasst habe, sich in dem muslimischen Heim anzumelden. Sein Vater sei dagegen gewesen. Zuhause sei die Familie in Ordnung gewesen, es habe keine Misshandlungen oder ähnliches gegeben. Er habe sich dort aufgehoben gefühlt. Gleichwohl habe er sich mehr mit dem Glauben beschäftigen wollen. Sein Vater habe im Dezember 2000 den Entschluss gefasst, dass er – der Kläger – dauerhaft in dem Heim bleiben solle.

Befragt nach den Misshandlungen habe der Kläger eine Narbe im Grundglied des rechten Zeigefingers gezeigt, die von einem Schlag mit einem Stock herrühren solle. Er habe die Schule nicht verlassen können, da sein Vater es für seine Pflicht gehalten habe, dass sein Sohn weiter die Schule besuche. Der Kläger habe weiter berichtet, dass er die Schule geschwänzt und mit 13 Jahren angefangen habe zu kiffen. Seinem Vater habe er davon erzählt, dass er in dem Wohnheim misshandelt werde, dieser habe aber nichts unternommen. Die Misshandlungen hätten sich im Wohnheim ereignet, nicht im Unterricht.

Er wohne bei seinen Eltern, sein Vater sei inzwischen Rentner, seine Mutter Hausfrau. Er rede fast nichts mit ihnen, die Eltern würden kochen, er esse aber nicht mit ihnen gemeinsam. Es reagiere schnell sehr aggressiv, im Dezember 2023 habe man ihn mehrfach mit dem Krankenwagen wegen Eigengefährdung abgeholt. Freunde habe er schon seit Jahren nicht mehr.

Er beschäftige sich „mit Warten“, habe keinen Fernseher, nur einen Computer und kein Handy. An den Haushaltsaktivitäten beteilige er sich nicht. Er gehe nur für sich selbst einkaufen, habe eine EC-Karte und eine Kreditkarte. Eine Betreuung habe nie bestanden. Er habe einen Führerschein, verfüge aber über keinen PKW, diesen habe er aus Geldnot verkauft. Seine Schulden beliefen sich auf 12.000 € bis 13.000 €. In Spielhallen könne er nicht mehr gehen, da sei er bundesweit gesperrt. Mit dem Computer könne er theoretisch spielen, mache das aber nicht.

Befragt zu den Vorfällen hat der Kläger angegeben, dass das Schlimmste für ihn gewesen sei, dass er damals gelispelt habe. Jedes Mal wenn die Aussprache der Koranverse nicht korrekt gewesen sei, habe er eine Ohrfeige erhalten. Es sei deshalb zu keinem Lernfortschritt gekommen. Man habe ihn zu einer Logopädin geschickt, die gesagt habe, dass „er das könne“. Gleichwohl sei er in der Koranschule immer wieder geschlagen worden. Sie hätten in einer Linie knien müssen, andernfalls sei er auf die Knie geschlagen worden. Wenn er nach der Hauptschule zu spät in die Koranschule zurückgekommen sei, habe er eine Ohrfeige bekommen.

Mit 10 oder 11 Jahren sei er aus der Koranschule abgehauen, einer der Lehrer habe ihn mit dem Auto verfolgt. Er sei nicht mit diesem zurückgefahren, sondern zu seinen Eltern gelaufen. Dort habe er weitere Schläge bekommen, weil er aus der Koranschule abgehauen sei. Man habe ihn dorthin zurückgeschickt, wo er weitere Schläge kassiert habe.

Befragt zu den Beschwerden hat der Kläger geschildert, nicht zu wissen, wer er sei und was er mit seinem Leben überhaupt wolle. Er habe sein ganzes Leben gemacht, was andere von ihm gewollt hätten, dabei sei er mehrfach auf die Nase gefallen. Nun habe er genug davon zu machen, was andere sagten. Er führe seine Sucht auf diese Erlebnisse zurück. Die Spielsucht habe 2008 begonnen, mit dem Kiffen habe er mit 13 Jahren angefangen. Im Laufe der Zeit habe er auch andere Drogen konsumiert, Heroin sei nie dabei gewesen, aber Targin, Kokain, Alkohol, Ecstasy, verschiedene Amphetamine und auch synthetische Cannabinoide.

Entzugserscheinungen hätten nie bestanden, eine Entwöhnungsbehandlung sei nicht durchgeführt worden. Suizidversuche habe es mehrere gegeben, der letzte sei mit Venlafaxin gewesen. Er habe die Tabletten in den Mund getan, aber ausgespuckt. Er habe sich auch ein Seil gekauft und habe ein Küchenmesser zu Hause. Im Alter von 18 oder 19 Jahren habe er sich selbst Schnittverletzungen beigebracht. Therapien würden keine durchgeführt, die Medikation bestehe aus Elvanse und Olanzapin.

Auf die Frage, weshalb damals keine Anzeige erstattet worden sei, habe der Kläger bekundet, dass er zu jung gewesen sei und es sich um die Moschee-Gemeinde gehandelt habe. Man habe solche Vorfälle nicht nach außen dringen lassen wollen, es sei sogar einmal das Jugendamt da gewesen und habe gefragt, ob in der Schule geschlagen werde. Die Schüler seien instruiert gewesen, nein zu sagen. Ein anderer Schüler sei so geschlagen worden, dass er eine Gehirnerschütterung erlitten habe.

Psychisch sei der Kläger bewusstseinsklar und allseits orientiert. Es werde ungezwungen Kontakt aufgenommen und ausführlich berichtet. Das Diktat sei aufmerksam verfolgt und immer wieder ergänzt worden. Realitätsprüfung und Intentionalität seien intakt, bei tadellosem biographischen Gedächtnis. Der Antrieb sei ungestört, ohne Zeichen einer vorzeitigen Ermüdung. Die Merkfähigkeit und die Konzentration seien regelrecht, bei der Befragung komme es zu einer prompten Beantwortung, bei der körperlichen Untersuchung könnten die verbalen Aufforderungen gut umgesetzt werden. Die Stimmungslage sei ausgeglichen, das affektive Schwingungsvermögen zeige sich bei der Besprechung verschiedener Themen als regelrecht. Die Impulskontrolle und die Distanzregulation seien ungestört.

Über die schädigenden Ereignisse habe der Kläger von sich aus ohne Vermeidungsverhalten berichtet. Es sei nicht zu Intrusionen und nicht zu dissoziativen Zuständen gekommen, weiter nicht zu Flashbacks oder abnormen körperlichen oder psychischen Reaktionen.

Die testpsychologisch erbrachten kognitiven Leistungen lägen weitestgehend innerhalb der Norm. Die kritische visuelle Wahrnehmung sei grenzwertig, ebenso die Sorgfaltsleistung bei einer Aufgabe zu Konzentration und Aufmerksamkeit. Im Bereich der Schilderung psychischer Beschwerden ergäben sich Zweifel an der Validität der Aussagen, es würden übermäßig viele Beschwerden generell bejaht, sodass diesen Angaben bezüglich ihrer diagnostischen Aussagekraft kaum Bedeutung beigemessen werden könne. In einem persönlichkeitsdiagnostischen Verfahren seien zahlreiche Skalen auffällig. Der Urintest sei positiv für Cannabinoide und Amphetamine gewesen.

Hinsichtlich der Aktenlage sei darauf hinzuweisen, dass der Kläger jetzt angegeben habe, dass der Besuch der Koranschule von ihm selbst aufgrund seines starken religiösen Interesses ausgegangen sei. Auch der Zeitraum der Tätlichkeiten sei anders dargestellt worden. Die Vorfälle selbst seien jetzt deutlich milder geschildert worden. Den Beginn des Drogenkonsums gebe er nun schon mit 13 Jahren an.

Im Bericht der psychiatrischen Klinik aus M2 würden 2011 keine Gewalterlebnisse berichtet, vielmehr sei dokumentiert, dass der Kläger selbst andere geschlagen habe. Der beschriebene psychopathologische Befund sei unauffällig, die genannten Diagnosen würden nicht begründet. Aus dem Leistungsverzeichnis der Krankenkasse ergäben sich eine Fülle von Diagnosen, die schon gar nicht miteinander kombiniert werden könnten. Insofern bestünden Zweifel an deren Stichhaltigkeit. Aus den Schulzeugnissen gehe hervor, dass die schulischen Leistungen schon vor dem Umzug in das Schülerwohnheim eher mäßig gewesen seien, eine wesentliche Veränderung der Schulnoten in dem Zeitraum der angegebenen Übergriffe sei chronologisch nicht zu beobachten.

Das Sachverständigengutachten des S2 aus dem Schwerbehindertenverfahren sei nur teilweise schlüssig. Keine der dort genannten Diagnosen werde unter Bezugnahme auf die diagnostischen Kriterien begründet. Die wesentliche Differentialdiagnose, nämlich, dass die psychischen Beschwerden zumindest teilweise durch Substanzkonsum bedingt sein könnten, werde weder bedacht, noch überprüft, ebenso die Möglichkeit einer nicht authentischen Beschwerdeschilderung. Es sei weder der Drogenkonsum abgeklärt, noch nach kognitiven Auffälligkeiten gesucht worden. Woraus sich ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 ergeben solle, bleibe offen.

Die Aussagetüchtigkeit des Klägers sei eingeschränkt, da bei ihm eine Persönlichkeitsstörung vom narzisstischen Typ bestehe. Darüber hinaus konsumiere der Kläger seit seinem 13. Lebensjahr diverse psychotrope Drogen, die nicht nur die Gedächtnisleistung, sondern auch den Abruf nachweislich störten. Während der jetzigen Untersuchung habe der Kläger unter Substanzeinfluss gestanden. Ferner ergäben sich massive Antwortverzerrungen in den Validierungsverfahren. Dies erkläre zwanglos die Diskrepanz zwischen Beschwerden und Befunden. Kollateral seien die Angaben über die Ereignisse nicht als authentisch zu betrachten. Bei dem Kläger lägen somit spezifische Auffälligkeiten vor, die das Auftreten von Pseudo-Erinnerungen ebenso wie von Falschaussagen begünstigen könnten.

Nach dem wissenschaftlichen Kenntnisstand sei grundsätzlich damit zu rechnen, dass Gedächtnisinhalte nicht nur für semantisches Wissen, sondern auch für das biographische Gedächtnis im Laufe der Zeit und unabhängig von der Anzahl der Aufrufe und thematischer Befassung wesentlichen Änderungen unterworfen seien. Das Auftreten von Fehlerinnerungen sei insofern ausdrücklich nicht an Erkrankungen oder psychische Störungen gebunden.

Ausgehend von den aktuellen Schilderungen des Klägers könnten sich die Ereignisse durchaus ähnlich, wie von ihm berichtet, zugetragen haben. Auf der anderen Seite sei die Berichterstattung über die Ereignisse nicht konsistent, was sowohl den zeitlichen Beginn wie auch die Ereignisse selbst betreffe. Es zeigten sich im Verlauf beträchtliche Abweichungen. Behandlungsbedürftige körperliche Schäden seien jedenfalls keine eingetreten. Solche hätten sowohl der behandelnde Arzt als auch die Lehrer in der Schule bemerken müssen, was nicht der Fall gewesen sei.

Die weiteren Verhaltensauffälligkeiten des Klägers seien durch die mit der Persönlichkeitsstörung vom narzisstischen Typ bedingten Störungen der Impulskontrolle begründet. Kognitive Beeinträchtigungen bestünden nicht, wie aus den testpsychologischen Berichten und dem psychiatrischen Befund folge.

Eine psychische Traumafolgestörung habe sicher früher nicht vorgelegen und liege weiterhin nicht vor, da der Kläger über die Ereignisse in der Koranschule zu berichten begonnen habe, ohne dass entsprechende Symptome aufgetreten wären. Es habe kein Vermeidungsverhalten, sich damit zu befassen, bestanden. Es sei nicht zu Gedächtnisstörungen für wesentliche Inhalte gekommen und dissoziative Zustände, Intrusionen und Flashbacks hätten sich nicht gezeigt. Abnorme körperliche oder psychische Reaktionen hätten sich nicht beobachten lassen. Während des Aufenthalts im Wohnheim fänden sich keine Hinweise auf psychische Auffälligkeiten, noch sei es zu einer Verschlechterung der Schulnoten gekommen. Bei den ersten Klinikbesuchen sei über keine Traumatisierungen bzw. Ereignisse berichtet worden. Es fehlten somit Brückensymptome. Zu beachten sei weiter, dass der Kläger trotz der behaupteten Züchtigungserlebnisse in mehrere islamische Wohnheime gezogen und sogar nach M2 zurückgekehrt sei. Ein Vermeidungsverhalten sei damit nicht gegeben.

Die Angaben des Klägers über seine psychischen Beeinträchtigungen seien in mehrfacher Hinsicht nicht realistisch. Nach der testpsychologischen Diagnostik bestünden erhebliche negative Antwortverzerrungen. Der Kläger schildere, dass er gegenwärtig sein Zimmer kaum verlasse, im Wesentlichen untätig sei. Jedoch sei der körperliche Zustand mit der behaupteten überwiegenden körperlichen Ruhe nicht entfernt zu vereinbaren, dieser weise vielmehr auf ein regelrechtes Aktivitätsniveau hin.

Persönlichkeitsstörungen und ebenso eine Persönlichkeitsstörung vom narzisstischen Typ würden nicht durch Gewalterlebnisse verursacht, es handele sich vielmehr um eine genetisch bedingte besondere Ausformung des Charakters. Es lägen auch prospektive Studien vor, nach denen sich empirisch nicht erkennen lasse, dass misshandelte Kinder später ein höheres Erkrankungsrisiko für Persönlichkeitsstörungen aufwiesen. Es lasse sich unbeschadet der aufgezeigten Bedenken ohne Weiteres unterstellen, dass die Vorfälle sich so zugetragen hätten, wie vom Kläger aktuell berichtet. Diese seien nämlich grundsätzlich nicht geeignet gewesen, eine psychische Traumafolgestörung oder eine andere psychische Erkrankung zu verursachen. Ein GdS ergebe sich daher nicht.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht (§ 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.


Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 18. August 2023, mit dem die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) auf Gewährung von Versorgungsleistungen, insbesondere Beschädigtengrundrente, unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 2022 (§ 95 SGG) abgewiesen worden ist. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei dieser Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Kommentar zum SGG, 14. Aufl. 2023, § 54 Rz. 34).

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage. Der Bescheid vom 5. Februar 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Aufgrund der überzeugenden, auch differentialdiagnostischen Ausführungen des Sachverständigen
S1 steht auch für den Senat fest, dass der Kläger wegen der behaupteten Misshandlungen im Schülerwohnheim keine Beschädigtenversorgung beanspruchen kann. Das SG hat die Klage daher zu Recht abgewiesen.

Die angeschuldigten Taten sind, was schon das SG zutreffend dargelegt hat, nur möglich, Schädigungsfolgen dadurch wie ein entschädigungspflichtiger GdS nicht begründet.


Materiell-rechtlich sind die Vorschriften des BVG in seiner bis 31. Dezember 2023 geltenden Fassung anzuwenden. Gemäß § 142 Abs. 1 Satz 1 Vierzehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XIV) in der ab 1. Januar 2024 geltenden Fassung erhalten Personen, deren Ansprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach einem Gesetz, das das Bundesversorgungsgesetz ganz oder teilweise für anwendbar erklärt, in der bis zum 31. Dezember 2023 geltenden Fassung bis zum 31. Dezember 2023 bestandskräftig festgestellt sind, diese Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach dem Gesetz, dass das Bundesversorgungsgesetz für anwendbar erklärt, in der am 31. Dezember 2023 geltenden Fassung weiter, soweit dieses Kapitel nichts anderes bestimmt. Über einen bis zum 31. Dezember 2023 gestellten und nicht bestandskräftig entschiedenen Antrag auf Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz oder nach einem Gesetz, das das Bundesversorgungsgesetz ganz oder teilweise für anwendbar erklärt, ist nach dem im Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht zu entscheiden, § 142 Abs. 2 Satz 1 SGB XIV. Wird hierbei ein Anspruch auf Leistungen festgestellt, werden ebenfalls Leistungen nach Absatz 1 erbracht, § 142 Abs. 2 Satz 2 SGB XIV.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS - bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit <MdE> bezeichnet - nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 - L 6 VS 413/13 -, juris, Rz. 42; Dau, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 31 BVG, Rz. 2).

Für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG sind folgende rechtlichen Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 <208 ff.>):

Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.

Nach der Rechtsprechung des BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffes hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 ‑ B 9 VG 2/10 R ‑, SozR 4 3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 ‑ B 9 V 1/13 R ‑, juris, Rz. 23 ff.).

In Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Sinne von § 176, § 176a StGB hat das BSG den Begriff des tätlichen Angriffes noch weiter verstanden. Danach kommt es nicht darauf an, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Es ist allein entscheidend, dass die Begehensweise, also eine sexuelle Handlung, eine Straftat war (vgl. BSG, Urteil vom 29. April 2010 ‑ B 9 VG 1/09 R ‑, SozR 4 3800 § 1 Nr. 17, Rz. 28 m. w. N.). Auch der „gewaltlose“ sexuelle Missbrauch eines Kindes kann demnach ein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG sein (BSG, Urteile vom 18. Oktober 1995 - 9 RVg 4/93 -, BSGE 77, 7, <8 f.> und - 9 RVg 7/93 -, BSGE 77, 11 <13>). Diese erweiternde Auslegung des Begriffes des tätlichen Angriffs ist speziell in Fällen eines sexuellen Missbrauchs von Kindern aus Gründen des sozialen und psychischen Schutzes der Opfer unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck des OEG geboten.

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 - B 11 AL 35/09 R -, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O.).

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 V 6/13 R -, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

Bei dem „Glaubhafterscheinen“ im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8.
August 2001 - B 9 V 23/01 B -, SozR 3 3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 ‑ B 9 V 23/01 B ‑, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15). Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend - seit Juli 2004 - den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (Teil C, Nrn. 1 bis 3 und 12 der Anlage zu § 2 VersMedV; vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 ‑ B 9 V 6/13 R ‑, juris, Rz. 17).

Ausgehend von diesen Maßstäben ist ein Gesundheitserstschaden schon nicht wenigstens glaubhaft gemacht, nachdem die von dem Kläger behaupteten Verletzungen in keiner Weise dokumentiert und insbesondere nicht ärztlich objektiviert worden sind. Der den Kläger im fraglichen Zeitraum behandelnde
P2 hat, für den Senat überzeugend, bekundet, dass ihm zwar noch sämtliche Behandlungsunterlagen vorliegen, sich daraus aber gerade keine Befunde ergeben, die auf Gewaltanwendungen gegenüber dem Kläger hinweisen. P2 konnte auch weder erinnern, noch ergab sich dies aus seinen Unterlagen, dass derartige Angaben ihm gegenüber gemacht worden sind.

Aus dem Sachverständigengutachten des
S2, welches dieser im Schwerbehindertenverfahren erstattet hat, folgt nichts anderes. Gegenstand seiner Begutachtung war eine finale Bewertung des psychischen Gesundheitszustandes des Klägers im Rahmen der Bemessung des GdB, eine kausale Betrachtung hatte er nicht vorzunehmen. Vor diesem Hintergrund hätte das Sachverständigengutachten einer versorgungsärztlichen Auswertung im Hinblick auf die Frage einer schädigungsbedingten Verursachung bedurft, was das LRA verkannt hat. Die These des LRA, dass die Kindererziehung im Falle des Klägers islamischem Recht unterliege und dem Vater ein ausgesprochenes Züchtigungsrecht zustehe, weshalb rechtswidrige tätliche Angriffe ausschieden, wird von der Rechtslage nicht gedeckt und ist abwegig. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung (vgl. § 1631 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]) gilt für den Kläger in gleichem Maße. Dies ändert aber nichts daran, worauf das SG zu Recht hingewiesen hat, dass nicht jeder körperliche Übergriff von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erfasst wird.

Dies kann vorliegend aber deshalb dahinstehen, weil
S1 aus medizinischer Sicht überzeugend herausgearbeitet hat, dass sämtliche vom Kläger geschilderte Handlungen nicht geeignet sind, die bei ihm bestehende Persönlichkeitsstörung bzw. die Persönlichkeitsstörung vom narzisstischen Typ zu verursachen. Dabei handelt es sich vielmehr, so der Sachverständige weiter, um eine genetisch bedingte Ausformung des Charakters und nicht um eine Schädigungsfolge.

Unabhängig davon hat
S1 aufgezeigt, dass sich erhebliche negative Antwortverzerrungen ergeben haben und in Rechnung gestellt werden muss, dass der Kläger seit Jahren psychotrope Substanzen konsumiert. Nachvollziehbar weist der Sachverständige darauf hin, dass S2 sich weder mit der Authentizität der Beschwerdeangaben des Klägers auseinandergesetzt hat, noch mit dem Einfluss des Konsums der psychotropen Substanzen. Hierzu hätte auch bei der nur finalen Betrachtung im Schwerbehindertenrecht Veranlassung bestanden, sodass S1 überzeugend die Diagnosestellung und die hieraus gezogenen Schlussfolgerungen als nur bedingt schlüssig klassifiziert.

Seine Darlegungen untermauert
S1 in medizinischer Hinsicht damit, dass die beigezogenen Befundberichte, insbesondere die des Zentralinstituts für seelische Gesundheit, gerade keine Hinweise auf stattgehabte Misshandlungen geben, sondern die Spielsucht im Vordergrund gestanden hat. Darüber hinaus zeigt die fachkundige Auswertung der dokumentierten Befunde durch S1, dass die beschriebenen pathologischen Befunde die Diagnosestellung nicht rechtfertigen.

In tatsächlicher Hinsicht hat
S1 überzeugend herausgearbeitet, dass die Angaben des Klägers nicht konstant gewesen sind, so dass darauf keine Entschädigung gestützt werden kann. Ihm gegenüber hat dieser nämlich die zeitlichen Abläufe diskrepant zu den vorherigen Angaben beschrieben, insbesondere erstmals behauptet, dass es sein eigener Wunsch gewesen sei, in das Schülerwohnheim zu gehen. Schlüssig weist S1 weiter darauf hin, dass die Schulzeugnisse schon vor dem Wechsel in das Schülerwohnheim nur mittelmäßige Leistungen belegen und sich in diesem Leistungsbild keine Veränderungen ergeben haben, ein Einfluss der beklagten Erziehungsmethoden wie behauptet auf das schulische Leistungsvermögen folglich nicht objektiviert ist. Nicht zuletzt steht seine Behauptung, dass die massiven Misshandlungen in einem Raum ausgeführt worden seien, in dem niemand anwesend gewesen sei, im Widerspruch dazu, dass die vorgelegten schriftlichen Zeugenaussagen jeweils eine Täterschaft eines Dritten behaupten, im Widerspruch. Insoweit kann sich auch der Senat ebenso wie das SG des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich schon angesichts der fast identischen Wortwahl wie der gleichen Rechtschreibfehler um vorgefertigte Erklärungen handelt.

Soweit die Mutter des Klägers bekundet hat, dass der Kläger von einem der Betreuer ins Schwimmbecken geworfen worden sei und dadurch einen Bluterguss erlitten habe, fehlt es ebenfalls an einem medizinischen Befund, der dies objektiviert. Der damals behandelnde Kinderarzt, der noch über sämtliche Unterlagen verfügt, so dass seiner sachverständigen Zeugenaussage auch nach dem Zeitablauf eine besondere Bedeutung zukommt, hat dies vielmehr auf ausdrückliche Nachfrage des SG ausgeschlossen. Im Übrigen hat das SG bereits zu Recht darauf hingewiesen, dass die Schilderungen der Mutter nicht geeignet sind, einen rechtswidrigen, tätlichen Angriff zu belegen.

Letztlich scheidet ein Anspruch auf Beschädigtengrundrente aber deshalb aus, weil sich der Senat nicht von dem Bestehen von Gesundheitsstörungen überzeugen kann, die mit einem GdS von wenigstens 25 v.H. zu bewerten wären. Dass
S2 zu einem GdB von 40 gelangt ist, ändert schon deshalb nichts, da dieser zum einen keine Kausalitätsbetrachtung vorzunehmen hatte und zum anderen weder die Beschwerdeangaben des Klägers kritisch hinterfragt, noch die Auswirkungen dessen Substanzkonsums berücksichtigt hat.

S1 hat die Störungen der Impulskontrolle beim Kläger einer Persönlichkeitsstörung vom narzisstischen Typ zugeschrieben, kognitive Beeinträchtigungen indessen verneint. Er hat den Kläger als bewusstseinsklar und allseits orientiert befundet, bei intakter Realitätsprüfung und Intentionalität sowie ungestörtem Antrieb. Die Merkfähigkeit und Konzentration beschreibt er als regelrecht, Zeichen einer vorzeitigen Ermüdung bestanden nicht. Eine psychische Traumafolgestörung schließt der Sachverständige überzeugend deshalb aus, weil der Kläger über die Ereignisse berichten konnte, ohne dass entsprechende Symptome aufgetreten sind oder sich ein Vermeidungsverhalten gezeigt hätte. Dissoziative Zustände, Intrusionen und Flashbacks traten keine auf, ebenso konnte S1 aus fachlicher Sicht keine abnormen oder psychischen Reaktionen beobachten.

Soweit der Kläger glauben machen will, faktisch nur in seinem Zimmer zu sitzen, hat
S1 schlüssig darauf hingewiesen, dass der körperliche Untersuchungsbefund des Klägers damit nicht in Einklang steht, insbesondere keine Zeichen eines irgendwie gearteten Mindergebrauchs bestehen. Denn es bestand ein mittlerer Trainingszustand, die Muskulatur ist an den Extremitäten jeweils seitengleich und mittelkräftig ausgeprägt gewesen, was zu der Beobachtung, wie sich der Kläger während der Untersuchung bzw. davor bewegen konnte, passt. Den Mindergebrauch hat S2 ebenfalls ausdrücklich verneint, ohne dies entsprechend zu würdigen. Hierzu hätte aber insbesondere deshalb Veranlassung bestanden, weil der Kläger S2 von einer Tätigkeit im Schichtdienst mit einem Arbeitsweg von 100 km berichtet hat, was eine durchaus bestehende körperliche Leistungsfähigkeit unterstreicht. Ein GdS von wenigstens 25 ergibt sich daher nicht, sodass eine Beschädigtengrundrente auch deshalb nicht in Betracht kommt.

Die Berufung konnte somit keinen Erfolg haben und war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.


 

Rechtskraft
Aus
Saved